Redner(in): Christina Weiss
Datum: 29.09.2004

Untertitel: In ihrer Rede zur Verleihung der Kinoprogrammpreise an 160 Kinos in vielen deutschen Städten geht Kulturstaatsministerin Christina Weiss auf die verschiedenen Funktionen der Programmkinos ein.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/10/721910/multi.htm


im März des Jahres 1926 versucht der damalige Redakteur der Frankfurter Zeitung, Siegfried Kracauer, die aktuellen Entwicklungen bei den - wie man so sagte - "Lichtspielhäusern" auf den Punkt zu bringen.

Der große deutsche Feuilletonist und Klassiker der Filmtheorie benutzte dabei drei Begriffe, die auch uns die Chance bieten, darüber nachzudenken, was wir eigentlich von Kinos erwarten. - Um es vorweg zu nehmen: Es ist mehr, als Kracauer einst in den Sinn kam.

Die Kinos des Jahres 1926 waren für Siegfried Kracauer "Paläste der Zerstreuung". Ihr herausragendes Kennzeichen schien ein "gepflegter Prunk der Oberfläche" zu sein."Kultstätten des Vergnügens" nannte sie Kracauer, und brachte mit feinem Spott zusammen, was aus seiner Sicht nicht zusammen passte: Die Repräsentation aus dem sakralen bzw. feudalen Bereich und das profane Feierabendverhalten seiner Zeitgenossen, die nach Zerstreuung, einer glänzenden Oberfläche und Vergnügen lechzten. Kinos lebten - nach Kracauers Beschreibung - jene Ambivalenz zwischen billiger Unterhaltung und Prunkentfaltung, die noch heute die deutsche Kulturkritik mobilisiert.

Nun, ich denke, dass sich an diesem Abend erfreulich viele Menschen im Saal befinden, die der Spott Siegfried Kracauers nicht trifft.

Während dem ehrwürdigen Kritiker die großen Lichtspielhäuser im vergnügungssüchtigen Berlin der zwanziger Jahre vor Augen standen, kannte er Programmkinos in ihrer heutigen Form nicht. Er hatte keine Chance, das Vergnügen zu differenzieren. Niemand hatte je die Chance, das Vergnügen aus dem Kino - aus der gesamten Kunst gar - zu verbannen. Selbstverständlich sind auch Programmkinos dazu da, das Publikum zu unterhalten, es, wie Kracauer sagt,"zu zerstreuen". Die Kultur insgesamt hat dieses Moment der Entlastung vom Alltag. Allerdings gibt es Unterschiede in den Angeboten ans Publikum, wie diese Entlastung erreicht werden kann.

Und der Hauptunterschied zwischen klassischem Kino und Programmkino besteht wohl darin, dass viele Programmkinos sich nicht damit zufrieden geben, Stätten der Zerstreuung zu sein. Ich habe den Eindruck - und ich freue mich darüber - , dass sie innerhalb ihrer jeweiligen Städte längst viel weitergehende Funktionen übernommen haben - Zeitgestaltung statt Zeitvertreib bieten.

Was sind das für Funktionen, die Programmkinos heute übernehmen?

Zum einen sind Programmkinos selbstverständliche Treffpunkte innerhalb ihrer jeweiligen Stadt - und das bedeutet so viel mehr, als nur ein Ort zu sein, an dem man zusammenkommt. Ein gutes Programmkino ist immer auch eine Art Salon: ein Ort, an dem eine Stadt über sich selbst nachdenkt - beispielsweise indem Filmreihen gezeigt werden, die für die Debatten innerhalb der jeweiligen Stadt wichtig sind.

In Halle etwa ist das die weitgefächerte Diskussion um die "schrumpfende Stadt". Und der Spitzenpreisträger des Vorjahres, unser heutiger Gastgeber, das "Filmtheater Lux, Kino am Zoo", war, wenn ich recht sehe, in die von der Kulturstiftung des Bundes getragene Initiative "Shrinking Cities" ganz selbstverständlich integriert. Ein, wie ich finde, schönes Beispiel für gelungene Programmkinoarbeit.

Eine zweite Funktion moderner Programmkinos besteht meines Erachtens darin, als kulturelles Gedächtnis der jeweiligen Stadt zu fungieren. Innerhalb der Kinolandschaft sorgen sie für die historische Dimension, die für die Identitätsfindung der Menschen so wichtig ist. In einem ganz praktischen Sinn ist das Betreiben eines Programmkinos deshalb immer auch ein Bildungsangebot: Hier kann man ältere und manchmal sogar richtig alte Filme sehen.

Wer das als museal belächelt, versteht nicht, wie wichtig es für heutige Menschen ist, sich mit der Vergangenheit in Beziehung zu setzen, auch auf filmische Art.

Die dritte Funktion der Programmkinos schöpft aus der Kraft des Mediums: Auf vielfältige Weise sind Programmkinos eine Vermittlungsagentur für Erfahrungen, die man nur mit Kunst gewinnen kann.

Jeder weiß zwar, dass es der Film als Kunst schwer hat, sich in den weitgefächerten Vergnügungsangeboten unserer Zeit durchzusetzen. Doch ist es nicht gerade der Film, der Orte der Gefühlsbildung liefert, der die Erschütterung eingefahrener und festgefahrener Wahrnehmungsmuster betreibt, Vorurteile abbauen, Weltsichten verändern kann?

Die Filmkunst braucht eine funktionierende Szene von Programmkinos, um sich ihrer eigenen Kraft bewusst zubleiben - und mein Dank gilt allen Preisträgerinnen und Preisträgern des heutigen Abends, auch und besonders diese Funktion des Films gestärkt zu haben und weiterhin zu stärken.

Viele Programmkinos wollen Stätten der Zerstreuung und Orte des Vergnügens sein. Aber sie wollen auch mehr sein und sie sind mehr als das.

Das zeigt ein Thema, das mit sehr am Herzen liegt: ich spreche von Filmerziehung, von Medienerziehung für Kinder und Jugendliche. Ich freue mich, dass die Idee, den verantwortungsvollen Umgang mit dem Medium Film zu lehren, innerhalb der Verleih- und Kinoverbände so überaus positiv aufgenommen worden ist.

Gemeinsam mit den Verbänden, der Filmförderungsanstalt und in enger Kooperation mit der Bundeszentrale für Politische Bildung ist von uns ein Konzept entwickelt worden, das eine auf Dauer angelegte, bundesweit tätige Einrichtung zur Unterstützung und Vernetzung von Schulfilmaktivitäten ermöglichen soll. Ich hoffe sehr, dass diese Initiative greifen und zu Beginn des Jahres 2005 ihre Arbeit aufnehmen kann.

An diesem Abend tun wir etwas, das, da bin ich mir sehr sicher, auch einem Kulturkritiker wie Siegfried Kracauer gefallen würde:

Wir vergeben Prämien in der Höhe von insgesamt fast 1,5 Millionen Euro, für drei Verleiher und 160 Kinos in vielen deutschen Städten. Die beiden Jurys haben mit ihrer Kompetenz und ihrer Sachkenntnis aus der Fülle der Anwärter eine Wahl getroffen, die sicherlich nicht immer leicht war - dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken.

Ich danke den Organisatoren des heutigen Abends, Herrn Wolfgang Burkart und Herrn Torsten Raab, den Betreibern des "Filmtheaters Lux, Kino am Zoo". Ganz besonders aber danke ich dem "neuen theater" und Ihnen, sehr geehrter Herr Sodann, für Ihre Gastfreundschaft. Es ist schön, bei Ihnen in Halle zu sein.

Ich wünsche Ihnen und uns allen einen vergnüglichen, schönen Abend, der durchaus der Zerstreuung gewidmet ist. Aber eben nicht nur der Zerstreuung allein.