Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 30.09.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Konferenz "Innovation für Wachstum und Beschäftigung" der Friedrich-Ebert-Stiftung am 30. September 2004 in Berlin
Anrede: meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/56/722556/multi.htm


Verehrte Frau Vorsitzende,

Ich möchte zunächst auf eine Entscheidung in der internationalen Politik hinweisen, die heute getroffen worden ist und die sehr viel mit Innovation zu tun hat. Die russische Regierung hat unter Leitung von Präsident Putin entschieden, den Ratifikationsprozess für das Kyoto-Protokoll einzuleiten. Ich freue mich über diese Entscheidung. Sie hat mich nicht überrascht, ich habe in vielen Gesprächen mit dem russischen Präsidenten auf die Notwendigkeit dieser Entscheidung hingewiesen. Ich hatte immer den Eindruck, dass die russische Regierung die Wichtigkeit dieses Protokolls erkennt und vor allen Dingen auch weiß, dass dieses Protokoll angesichts der Beitrittsweigerung des einen oder anderen nur mit Hilfe Russlands jene Mehrheit zu Stande bringen wird, um in Kraft treten zu können.

Diese Entscheidung hat nicht nur etwas mit dem zu tun, was wir in der internationalen Klimapolitik brauchen, sondern auch sehr viel mit dem, was wir an Nachhaltigkeit - damit auch an Innovationen - in der Industriepolitik brauchen. Und vielleicht führt das den einen oder anderen dazu, Russland, seine Geschichte, seine Gegenwart, seine gewaltigen Aufgaben etwas differenzierter zu betrachten als das letzthin in der Öffentlichkeit oftmals der Fall gewesen ist. Ich würde mir jedenfalls diese Form von Differenzierung in der Betrachtung der Politik wünschen. Und vielleicht wird dann der eine oder andere Vergleich, der vorschnell und leichtfertig vorgenommen worden ist, etwas relativiert.

Aber das ist nicht das Thema der heutigen Diskussion. Ich finde es richtig, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung mit dieser Tagung deutlich macht, dass Innovation keineswegs nur eine Frage ist, die sich auf Technik und technische Entwicklung beschränken ließe. Das wird in all den Debatten, die wir in der Initiative "Partner für Innovation" führen, Herr Professor Bullinger, eigentlich auch immer deutlich. Es geht also nicht nur um technologische Entwicklungen, neue Erfindungen und deren Vermarktung - nein, es geht auch um Innovationen für eine moderne Gesellschaft. Wirtschaft und Wissenschaft sind gewiss wichtige Teile, aber sie sind nicht die Gesellschaft insgesamt. Und den notwendigen Modernitätsschub brauchen wir auch bei der Durchsetzung und bei der Erklärung der Vorhaben, die zu einem Mehr an Innovationen führen sollen. Das heißt, wir brauchen eine Veränderung auch in den Mentalitäten, weg von der ausschließlichen Betrachtung von Risiken, hin zu der Verwirklichung von Chancen, die in Veränderungen und technologischen Entwicklungen liegen. Wir brauchen Innovationen also für eine moderne Gesellschaft. Aber es ist genauso klar: Diese können nur in einer modernen Gesellschaft entwickelt und wirksam werden. Übrigens ist auch klar, dass diese Form oder Auffassung von Modernität die Voraussetzung für mehr Wachstum und damit auch für mehr Beschäftigung ist.

Es ist also von entscheidender Bedeutung, dass in unserer Gesellschaft auf hohem Niveau geforscht wird, auf hohem Niveau entwickelt wird und Entwicklungen zur Marktreife gebracht werden, dass also Erfindungen gemacht und Verfahrungen erprobt werden, dass sie aber auch Marktzugang bekommen. Spitzenleistungen kann es dann und nur dann geben, wenn diese Gesellschaft neugierig, das heißt innovationsfreundlich ist, wenn die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen so sind, dass Innovationen gefördert werden, aber auch zur Anwendung kommen. Innovativ ist aber nicht nur Spitzentechnologie, denn Innovation ist Sache der Gesellschaft und der Wirtschaft insgesamt. Dafür brauchen wir zunächst eine erstklassige Bildungs- und Forschungslandschaft. Wir brauchen eine starke und erneuerungsfreudige industrielle Basis und wir brauchen für eine solche Politik klare politische Entscheidungen, Entscheidungen derart, dass wir zu Umverteilungen bereit sind. Umverteilung heißt: weg von Vergangenheitssubventionen hin zu Zukunftsinvestitionen.

In diesem Zusammenhang ist mir wichtig, dass wir uns miteinander überlegen, wie eigentlich der Begriff der Gerechtigkeit sinnvoll zu füllen ist. Wir haben in Verbindung mit den Reformen der Agenda 2010 sehr häufig mit dem Vorwurf zu kämpfen, dass sie an der einen oder anderen Stelle nicht gerecht genug sei. Und dieser Gerechtigkeitsbegriff, der da im wahrsten Sinne des Wortes gepflegt wird, bezieht sich immer ausschließlich auf die heutige Generation, in der sozusagen das, was erwirtschaftet worden ist, gerechter als gegenwärtig verteilt werden soll. Ein solcher Gerechtigkeitsbegriff greift jedoch viel zu kurz. Wenn wir über Kyoto reden, reden wir über Nachhaltigkeit. Wir haben uns alle angewöhnt, dass Nachhaltigkeit eine Kategorie ist, die in der ökologischen Debatte eine herausragende Rolle spielt. Und Nachhaltigkeit meint ja eine Rücksicht auf künftige Generationen und deren Lebens- und Überlebensinteressen. Merkwürdigerweise spielt dieser Begriff in der Wirtschafts- , Finanz- und Sozialpolitik nicht die entscheidende Rolle - müsste er aber. Anders ausgedrückt: Gerecht ist keineswegs in erster Linie der, der in dieser Generation verfrühstückt, was erwirtschaftet worden ist, sondern derjenige, der auch die Ressourcen für die nächste und übernächste Generation im Blick hat. Das ist der Zusammenhang, um den es bei der Agenda 2010 geht.

Wegen der enormen Herausforderungen, die in dieser Dimension neu sind, brauchen wir den Umbau der sozialen Sicherungssysteme, um sie erhalten zu können. Wir haben zwei Elemente, die diese Herausforderung ausmachen. Das eine ist die Globalisierung, im Grunde ein anderes Wort für einen Prozess, den wir schon kannten, in dieser Dimension aber zum ersten Mal erleben: eine Verschärfung der weltweiten Arbeitsteilung und damit eine ungeheure Verschärfung der weltweiten Konkurrenz. Und das zweite Element hat mit der demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft zu tun. Diese Veränderung in der Demografie zwingt uns, die sozialen Sicherungssysteme umzubauen, wenn wir sie auch für künftige Generationen erhalten wollen. Sie sind sonst nicht aufrecht zu erhalten, sie sind nicht zu bezahlen, es sei denn, man will die totale Ausbeutung durch die gegenwärtige Generation betreiben und für künftige nichts mehr übrig lassen. Aber es gibt - das ist ja das Thema heute - eine zweite Begründung für den Umbau der Sicherungssysteme. Die hat damit zu tun, dass wir zwingend Ressourcen frei bekommen müssen, um sie in den Bereichen investieren zu können, die mit unserer Zukunftsfähigkeit zu tun haben, anders: über unsere Zukunftsfähigkeit entscheiden. Beide Elemente, der Umbau, um die Systeme zu erhalten, und das Freimachen von Ressourcen, um zukunftsfähig zu bleiben, bestimmen und sind die Legitimation für den Agenda-Prozess.

Übrigens, auch das wird viel zu wenig wahrgenommen, ist aber in dem, was Frau Fuchs gesagt hat, zum Ausdruck gekommen: Deutschland ist im internationalen Vergleich besser, als es selber glaubt. Das wird in der Wirtschaft gelegentlich so gesehen, in anderen Bereichen auch, aber noch nicht hinreichend in der veröffentlichten Meinung. Deshalb gibt es auch eine gemeinsame Verantwortung, das deutlich zu machen. Das hat nichts damit zu tun, Schwächen zu verschweigen. Aber es hat damit zu tun, auf Stärken hinzuweisen, weil es so etwas wie den Wettbewerb von Volkswirtschaften gibt und ein Standort wie Deutschland auch danach beurteilt wird, wie er sich selber darstellt.

Also, ein paar Bemerkungen dazu. Die deutsche Forschungslandschaft ist gut. Sie hat sich im internationalen Vergleich überhaupt nicht zu verstecken. Die deutsche Exportwirtschaft ist gut. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind die Exporte um 11 % gestiegen. Wir sind der zweitgrößte Technologieexporteur der Welt, das ist in der Außenhandelsbilanz sehr deutlich. Das ist kein Zeichen von Schwäche unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft, sondern eher von Stärke. Es gibt in keinem anderen EU-Land mehr Innovation im Mittelstand als in Deutschland. Das muss man pflegen und man muss die Rahmenbedingungen dafür erhalten und wo nötig weiter verbessern, damit nicht das passiert, was manchmal in der Vergangenheit geschehen ist, dass Erfindungen bei uns gemacht werden, die Vermarktung aber woanders stattfindet.

Nur um das deutlich zu machen, was ich über die Kraft der deutschen Wirtschaft gesagt habe: Der Weltmarktanteil von Deutschland an den forschungsintensiven Produkten liegt bei 15 % . Das hat damit zu tun, dass der Bund seine Aufwendungen für Forschung und Entwicklung auf jetzt 9 Milliarden Euro pro Jahr gesteigert hat. Die Wirtschaft übrigens kann und soll noch besser werden, aber - auch das sollte man nicht verschweigen - hat ihren finanziellen Beitrag in den vergangenen sechs Jahren um 25 % aufgestockt. Zusammen also geben Staat und Wirtschaft nunmehr 2,5 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung aus. Übrigens, 1998 waren es 2,3 % . Wir liegen damit an der Spitze der großen Industrieländer in Europa und weit über dem gesamteuropäischen Durchschnitt. Allerdings - das ist hier deutlich geworden - geben die Schweden 4,3 % des Bruttoinlandsproduktes aus und die Finnen Summen in ähnlicher Größenordnung. Wir müssen in die Nähe davon kommen. Wir werden sie in dieser Dekade nicht überbieten können, aber was wir schaffen können, ist, dass wir 3 % des Bruttoinlandsproduktes in dieser Dekade für Forschung und Entwicklung ausgeben. Wir können das nicht nur schaffen, wir müssen das schaffen.

Da stellt sich natürlich die Frage, die offenbar auch hier diskutiert worden ist: Wie? Es gibt zwei Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist, dass man sich zusätzliche Einnahmen verschafft. Ich glaube nicht, dass das in der jetzigen Situation sinnvoll ist, weil das andere ökonomische Felder negativ berühren würde. Die andere Möglichkeit ist der Abbau von Vergangenheitssubventionen. Damit bin ich bei der Eigenheimzulage. In den nächsten fünf Jahren könnten Bund, Länder und Gemeinden miteinander, wenn diese Eigenheimzulage gestrichen würde, 10 Milliarden Euro frei bekommen. Sie sollen diese 10 Milliarden Euro nehmen und entlang ihrer jeweiligen Kompetenzen, also entlang der Bildungskette, für Forschung und Entwicklung sowie für Betreuung investieren. Das müsste als gesamtgesellschaftliche Anstrengung möglich sein. Die Eigenheimzulage hat in Zeiten Sinn gemacht, als wir auf den regionalen und lokalen Märkten wirklich Wohnungsnot hatten. Wir haben jetzt das Gegenteil dessen. Wir haben - zumindest im Osten des Landes - nicht zu wenig Wohnraum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, wie wir ihn "rückbauen" können.

Also wäre es doch vernünftig zu sagen: Lasst uns das Geld nehmen und in diese zukunftsträchtigen Bereiche investieren. Ich hoffe, dass das gelingt. Das ist gelungen, was die Mehrheit im Bundestag angeht - die Haushaltsbegleitgesetze sehen das vor - und das muss im Hinblick auf die Mehrheit im Bundesrat gelingen. Sonst werden wir eine interessante und kontroverse Auseinandersetzung führen, die ich nun wirklich nicht scheue. Wir werden eine Auseinandersetzung über die Frage führen, wer sich um Bildungs- und Forschungsinvestitionen kümmert, und wer wegen Klientelpolitik dagegenhält - eine Auseinandersetzung, die hilfreich sein kann, um den Innovationsgedanken zu fördern. Und wir müssen sie im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes bestehen.

Mit der Agenda 2010 haben wir den Anstoß zu einer umfassenden Bildungsdebatte gegeben. Es geht uns um Reformen entlang der gesamten Bildungskette: bei der Kinderbetreuung, bei den Schulen, bei den Hochschulen, aber auch bei der beruflichen Ausbildung. Also, wir müssen bei den Kindern anfangen. Da sind wir nicht so gut, wie wir als großes Industrieland sein müssten. Wir brauchen, das weisen alle Studien aus, eine bessere Betreuung, ein Mehr an Zuwendung, bessere Förderung und vor allen Dingen ein längeres gemeinsames Lernen.

Gemeinsam mit den Kommunen und auch den Ländern müssen wir also alle Anstrengungen unternehmen, um eine bessere Betreuung zu erreichen, das übrigens aus zwei Gründen: Eine unserer Schwierigkeiten angesichts der demografischen Entwicklung ist die Frage der mangelnden Geburtenhäufigkeit. Es gibt viele Ansätze, um dies - was nötig ist - in unserer Gesellschaft zu verändern. Wir haben das mit finanziellen Anreizen in der Familienpolitik versucht, gewaltigen finanziellen Mitteln. Es ist nicht so, dass Deutschland im europäischen Vergleich zu wenig ausgeben würde. Der Verdacht drängt sich auf, dass wir die Instrumente überprüfen müssen, dass also materielle Zuwendung nicht ausreicht, um das Problem zu lösen. Statt dessen müssen wir uns wirklich massiv um bessere Betreuungsmöglichkeiten kümmern, damit gut ausgebildete Frauen die Chance haben, Kinderwunsch, Familie und Beruf besser als je zuvor in der Vergangenheit zusammenzubringen. Das ist, wenn man so will, der Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit, der in dieser Form in der Politik sichtbar wird.

Es kommt ein anderer hinzu. Wir würden einer Illusion nachlaufen, wenn wir glaubten - das ist insbesondere eine Mahnung an die Industrie - , dass man den Bedarf, den wir an gut ausgebildeten Kräften haben und immer mehr brauchen werden, allein durch vernünftige Zuwanderung decken könnten. Das würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft bei weitem übersteigen. Also bleibt aus schlichten ökonomischen Gründen nur die Möglichkeit, dass wir hinkommen zu dem berühmten Wort von Mao Tse-tung: "Nicht nur die Hälfte des Himmels den Frauen, auch die Hälfte der Erde". Das ist nicht anders möglich, und zwar ebenso aus Gerechtigkeitsgründen als auch aus ökonomischer Verantwortung. Wir haben dafür sehr viel Geld zur Verfügung gestellt. Das ist vor allem die Verantwortung der Kommunen und der Ländern. Wir haben eine Initiative gestartet, um sowohl die Ganztagsbetreuung in den Schulen zu verbessern, als auch die Ganztagsbetreuung von Kindern unter drei Jahren zu verbessern. All das hat mit dem Reformprozess zu tun, der mit der Agenda 2010 angestoßen worden ist. Übrigens, da man über Erfolge reden soll: Es wirkt bereits, jedenfalls bei der Ganztagsbetreuung in den Schulen. Es gibt im kommenden Schuljahr 3.000 neue Angebote für rund eine halbe Million Kinder. Das reicht nicht, aber das zeigt, dass ernsthaft an der Lösung des Problems gearbeitet wird.

Ein weiterer Punkt: Jeder Jugendliche, der ausbildungsfähig und -willig ist, muss einen Ausbildungsplatz bekommen. Das ist in unserem System in aller erster Linie die Aufgabe der Wirtschaft. Ich bin froh über den Ausbildungspakt, den wir geschlossen haben und der zu wirken scheint. Aber jeder muss auch wissen, dass damit eine erhebliche Verantwortung verbunden ist. Denn wir hatten in den vergangenen Jahren die Tendenz, dass in jeder Sonntagsrede der Verbandsfunktionäre gesagt wurde, dass es ganz schlecht sei, wenn die berufliche Ausbildung zu einer Aufgabe des Staates würde. Gleichzeitig ist die Zahl der Ausbildungsplätze in den Betrieben dramatisch zurückgegangen. Das passt nicht zusammen.

Der Ausbildungspakt, den wir geschlossen haben, beginnt nach ersten Erfahrungen zu wirken. Wir haben deshalb die begründete Hoffnung, dass wir in diesem Jahr eine ausgeglichene Bilanz erreichen. Mir geht es da um die Praxis und ich bin ziemlich sicher, dass diejenigen, die in der Wirtschaft und in ihren Verbänden das Sagen haben, begreifen, was hier auf dem Spiel steht. Es steht hier eine der wichtigsten Ressourcen auf dem Spiel, über die wir bei der Betrachtung des Investitionsstandortes Deutschland wirklich verfügen, das sind erstklassig ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Der nächste Punkt betrifft die Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Auch hier muss man einer Legende entgegentreten, dass wir uns da verstecken müssten. Ich glaube, es gibt nur wenige Länder, die - was die Breite angeht - ein so gut funktionierendes System haben, wie es Deutschland immer noch hat. Es gibt auch wenige Länder, bei denen ein so geringer Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Eltern und der Frage besteht, wie der Zugang zu Bildungschancen junger Menschen ist. Ich weiß wirklich aus sehr persönlichen Erfahrungen, worüber ich hier rede. Wenn jemand dieses System verändern will, das Chancengleichheit ermöglicht, muss er den Beweis dafür antreten, dass das, was er an seine Stelle setzen will - was die Gerechtigkeitsfrage und die Zugangsfrage zur Bildung angeht - , mindestens die gleiche Wirkung erzielt. Und wenn er dann eine Effizienzsteigerung nachweisen kann, bin ich gern bereit, darüber zu diskutieren. Aber es darf bei dieser Frage nicht um Ideologie gehen. Wo wir besser werden müssen, das sind Spitzenuniversitäten oder Exellenzzentren. Institutionen, die weltweit ausstrahlen und es uns ermöglichen, im Wettbewerb um die besten Köpfe auch international mithalten zu können. Da müssen wir besser werden. Wir haben ein Angebot gemacht, um Exzellenzzentren und Spitzenuniversitäten zu fördern. Ich hoffe, dass wir zu einer Einigung kommen.

Dazu gehört aber ein Zweites. Der Streit um eine vernünftig gesteuerte Zuwanderung hat Deutschland nicht genutzt, sondern eher geschadet. Ich halte es für ganz falsch, wenn die Zuwanderungsfrage immer nur unter dem Aspekt diskutiert wird - übrigens von den Ideologen auf beiden Seiten - , was mit jemandem geschieht, der als armer Teufel zu uns kommen darf oder nicht darf. Ich finde, dass wir unsere humane Verantwortung wahrnehmen, ist eine blanke Selbstverständlichkeit. Was Deutschland angeht, muss sich da auch niemand beklagen. Denn das haben wir immer gemacht und werden es auch weiter tun. Worum es aber bei der Zuwanderung auch geht, ist, eigene Interessen nicht außen vor zu lassen, sich in diese Konkurrenz um die besten kreativen Potenziale einzumischen und auch deutlich zu machen, dass man in Deutschland gut forschen kann. Und wir wollen, dass Forscher aus anderen Ländern nach Deutschland kommen und hier auch Perspektiven haben oder Perspektiven entwickeln.

Diese Form der gesteuerten Zuwanderung hat sehr viel mit der Internationalität einer Gesellschaft zu tun, die bei uns durchaus besser werden kann als sie ist, und hat zweitens etwas mit ihrer Verjüngung zu tun, mit ihren Chancen, die sich aus einem solchen gesteuerten Zuwanderungsprozess ergeben. Wir sind nach jahrelangen Debatten und Gerichtsentscheidungen weiter gekommen, aber wir sind erst am Anfang dieses Prozesses und wir müssen ihn im Interesse der ökonomischen Entwicklung unseres Landes sinnvoll fördern.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, die hoffentlich in der Föderalismuskommission positiv entschieden wird: Was geschieht, wenn etwa jemand von meinen früheren Kollegen das Ziel hätte, aus einem Bundesstaat einen Staatenbund zu machen, indem er bestimmte Gesetzgebungskompetenzen so oder so regelt. Dann muss ich ihn darauf hinweisen, dass man über diese Frage im 21. Jahrhundert anders diskutieren wird als im 17. Jahrhundert und dass wir - um nur einen Punkt zu nennen - aufpassen müssen, damit wir europafähig bleiben. Wer einmal im Europäischen Rat gesessen hat, der weiß, wie schwer es ist, dort einem Kollegen die Feinheiten des deutschen Föderalismus und damit die Schwierigkeit der Entscheidungswege klar zu machen. Der bekommt eine Ahnung davon, was es heißt, europafähig zu werden und zu bleiben. Und ich halte das für eine Gefahr, wenn wir dieses Maß an Zentralität in der Entscheidungsfindung, das wir immerhin schon haben, aufgeben und uns gar generell auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Junior-Professur - wie immer man zu der Frage selber steht - einließen. Wenn das sozusagen die Leitlinie für die Frage wird, was im Zentralstaat entschieden wird und was in den Ländern. Das hätte Auswirkungen auf unsere Entscheidungsfähigkeit in Europa. Das ist ein Aspekt, der ganz offenkundig nicht hinreichend bedacht ist. Und ich sage das natürlich mit all dem gebotenen Respekt vor solchen Entscheidungen.

Wir haben uns also mit diesen Fragen zu befassen und wir tun das. Wir haben uns Instrumente geschaffen, so die Initiative "Partner für Innovation", die dankenswerterweise von der Fraunhofer Gesellschaft unterstützt wird. In dieser Initiative sollen Felder festgelegt werden, in denen wir stark sind oder stark werden wollen und auf denen sich vollziehen soll, was im Wesentlichen mit staatlicher Unterstützung für Forschung und Entwicklung möglich ist, aber eben auch aus dem Privaten kommt. Wir wollen im Grunde eine Forschungslandschaft definieren. Wir wollen das konsensual tun: Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.

In diesem Zusammenhang: Die Agenda 2010, die die Regierung und die Koalition auf den Weg gebracht haben und die in der Gesellschaft natürlich nicht unumstritten sein konnte, hatte auch mit einer Erfahrung zu tun: Die Konsensbereitschaft in unserer Gesellschaft ist unterentwickelter als beispielsweise in den skandinavischen Gesellschaften. Was wir mit dem Agenda-Prozess in Gang gesetzt haben und weiter durchsetzen müssen - wo es geht, im Konsens, wo es nicht geht, eben ohne - ist das Bewusstwerden der Tatsache: Verbände vertreten partielle Interessen, Aufgabe einer gewählten Regierung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit aber ist es, gegenüber diesen partiellen Interessen das allgemeine Wohl zu definieren und durchzusetzen. Ich bin davon überzeugt, dass es uns sowohl in der internationalen Politik als auch in der Gesellschaftspolitik bei allen Schwierigkeiten gelungen ist, das allgemeine Wohl gegenüber partiellen Interessen zu definieren. Wenn das in einer demokratischen Gesellschaft zu Widerspruch und zu Demonstrationen führt, ist das nicht schlecht. Man muss sich nur gegenüber solcher Artikulation von Partikularinteressen durchsetzten. Und in diesem Prozess sind wir.

Der schwedische Ministerpräsident war vor wenigen Wochen Gast im Bundeskabinett und wurde gefragt: "Sagen Sie doch einmal, was ist eigentlich eine richtige Reform?" Dann hat er einen Moment gezögert und die genau passende Antwort gegeben, die exakt meiner Überzeugung entspricht: "Die richtige Reform ist die, die die Regierung macht". Das beschreibt auch die Aufgabe, die man hat. Wenn man in einem solch umfassenden Reformprozess steckt, dann ist mindestens eines wichtig, nämlich die eigene Überzeugung davon, dass das der richtige Weg ist. Das ist der Inhalt dessen, was er deutlich ausgedrückt hat. Wir sind davon überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass es nötig ist, den Sozialstaat umzubauen, um ihn erhalten zu können, und es auf diese Weise möglich und nötig ist, die Ressourcen frei zu bekommen, um sie in einen im weitesten Sinne verstandenen Modernisierungsprozess unserer Gesellschaft zu investieren. Ich glaube, es ist klar, dass wir dabei nicht nur die Technik und die Entscheidungen brauchen, sondern auch die Bereitschaft zur Mentalitätsveränderung. Das ist aber zugleich auch das Schwierige bei der Umsetzung eines Reformprozesses in wohlhabenden Gesellschaften. Eine solche sind wir und ich bin optimistisch, dass wir das auch bleiben werden.