Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.10.2004
Untertitel: "... hat Ministerpräsident Erdogan in der Türkei eine gesellschaftliche und politische Reform-Dynamik in Gang gesetzt, die in der Geschichte seines Landes beispiellos ist. Sie soll den Menschen in der Türkei mehr Freiheit, Demokratie und eine Perspektive auf Wohlstand und bessere Lebenschancen eröffnen."
Anrede: Herr Ministerpräsident, Herr Präsident, Herr Vorsitzender, Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/97/723397/multi.htm
Die Werkstatt Deutschland ehrt mit dem "Quadriga" -Preis heute einen großen Reformpolitiker, der sein Land in die Europäische Union führen will.
Dazu hat Ministerpräsident Erdogan in der Türkei eine gesellschaftliche und politische Reform-Dynamik in Gang gesetzt, die in der Geschichte seines Landes beispiellos ist. Sie soll den Menschen in der Türkei mehr Freiheit, Demokratie und eine Perspektive auf Wohlstand und bessere Lebenschancen eröffnen.
Seit Ihrem Amtsantritt haben Sie, Herr Ministerpräsident, diese mutigen und weitreichenden Schritte in kürzester Zeit eingeleitet. Dabei dürfen aber nicht die Schwierigkeiten vergessen werden, die dieser Weg in der Auseinandersetzung mit starken, oft gegenläufigen Strömungen in Politik und Gesellschaft bereitet. Die jüngste Debatte um die Strafrechtsreform war hierfür ein anschauliches Beispiel.
Umso mehr wird dadurch deutlich, wie viel Mut und Kraft dazu gehört, einen solchen Weg zu beschreiten.
Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa. Sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung - und auch Folge leidvoller persönlicher Erfahrungen mit Unterdrückung und Verfolgung. In der offiziellen Begründung der heutigen Preisverleihung heißt es, dass sich in Ihrer Persönlichkeit demokratische Überzeugung und religiöse Verwurzelung in glaubwürdiger Weise vereinen.
In der Tat: Sie haben bewiesen - auch wenn Ihr politischer Weg nicht frei von "Umwegen" war - , dass beide Aspekte miteinander vereinbar sind.
Meine Damen und Herren,
in wenigen Tagen wird die Europäische Kommission ihre Empfehlung abgeben, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen werden sollen. Im Dezember wird dann der Europäische Rat eine Entscheidung treffen. Die Haltung der Bundesregierung ist eindeutig:
Wenn die Kommission feststellt, dass die politischen Beitrittskriterien erfüllt sind, wird Deutschland die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nachdrücklich unterstützen. Es gibt für die Haltung der Bundesregierung drei wichtige Gründe:
Erstens: 1963, vor mehr als 40 Jahren, hat die damalige EWG der Türkei versprochen, dass sie Mitglied werden kann. Vor 15 Jahren hat die Europäische Union Bedingungen für einen Beitritt formuliert, die für alle beitrittswilligen Länder gleichermaßen gelten. Die Türkei wird sie zu erfüllen haben, so wie andere Staaten auch. Über 40 Jahre lang wurden der Türkei Zusagen gemacht. Es gehört zur Kontinuität, aber auch zur Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik, die von allen meinen Vorgängern im Amt geprägt wurde, dass diese Zusagen eingehalten werden.
Zweitens: Mit einem Beitritt der Türkei ist ein erheblicher Zuwachs an wirtschaftlicher Dynamik zu erwarten - nicht nur in der Türkei, sondern auch in ganz Europa.
Experten sagen der Türkei mit ihrer jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung für den Fall der Beitrittsverhandlungen einen wirtschaftlichen Boom voraus. Gerade für Deutschland ist das eine große Chance, denn wir sind bereits jetzt Partner Nummer Eins im Handel und in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei.
Drittens: Die Türkei ist für Deutschland und für Europa ein verlässlicher Partner.
Im Rahmen der NATO und beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus arbeiten wir eng zusammen. In Afghanistan kooperieren unsere beiden Länder Seite an Seite für die friedliche Zukunft des Landes. Ich freue mich, dass heute auch Präsident Karzai mit dem Quadriga-Preis ausgezeichnet wird. Die Türkei, strategisch bedeutsam an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien gelegen, kann darüber hinaus das politische Gewicht Europas in der Welt weiter stärken. Eine demokratische Türkei, den europäischen Wertvorstellungen verpflichtet, wäre ein klarer Beweis, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen islamischem Bekenntnis und aufgeklärter, moderner Gesellschaft.
Dies wäre eine großartige Perspektive. Denn damit wäre die Türkei ein Vorbild für andere muslimische Länder in unserer europäischen Nachbarschaft. Man sollte sich vor Augen führen, welch großer Zuwachs an Sicherheit für Europa und damit auch für Deutschland dies bedeuten würde.
Meine Damen und Herren,
wer in Deutschland mit diesem Thema eine Art "neuen Kulturkampf" beginnen will, der will den Menschen vormachen, Muslime ließen sich aus unseren Kulturen und Gesellschaften heraushalten. Das ist falsch und gefährlich.
Denn es war immer der unmittelbare Austausch zwischen Menschen aus beiden Kulturen, die unsere Völker einander näher gebracht haben. Bei uns in Deutschland leben mehr als zweieinhalb Millionen türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger.
Sie, Herr Ministerpräsident, haben dazu aufgerufen, diese Brücke zwischen den Menschen unserer Länder durch Integration weiter zu stärken. Ich kann Ihnen versichern, dass die Bundesregierung ihre Integrationspolitik konsequent fortsetzen wird. Ihre Außenpolitik, Herr Ministerpräsident, belegt, dass Sie sich der Brückenfunktion der Türkei sehr bewusst sind. Sie pflegen enge Beziehungen zu Israel, durch persönliche Kontakte haben Sie das Verhältnis zu Syrien verbessert. Ihre verantwortungsvolle Zypern-Politik fand international Respekt.
Meine Damen und Herren,
die heutige Auszeichnung als "Europäer des Jahres" ist nicht nur eine Anerkennung der tiefgreifenden Reformen in der Türkei. Sondern sie ist auch Ansporn, diesen Weg weiter zu gehen, um die Türkei an Europa heranzuführen. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen ist allerdings erst der Beginn eines langen Prozesses. Ich habe keinen Zweifel, dass dieser Weg die Türkei nach Europa führen wird. Große Anstrengungen und Herausforderungen liegen vor Ihnen. Auf die Unterstützung Deutschlands können Sie sich verlassen.
Herr Ministerpräsident, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Ihnen am deutschen Nationalfeiertag nun diese Auszeichnung überreichen zu dürfen.