Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.10.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich des deutsch-tschechischen Gesprächsforums "Modernisierung des Sozialstaates in Europa" am 4. Oktober 2004 in Prag.
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/09/723709/multi.htm


liebe Frau Fuchs, sehr geehrter Herr Ko-Vorsitzender, lieber Vladimir Spidla!

Herzlichen Dank für die freundliche Einladung. Ich finde, dass das Thema "Modernisierung des Sozialstaates" zweierlei zeigt, nämlich zum einen, dass wir uns mit einem Thema beschäftigen, das zu den herausragenden Themen vielleicht nicht nur europäischer Politik gehört, zum anderen - das ist für unser beiderseitiges Verhältnis vielleicht noch wichtiger - , dass wir uns im Schwerpunkt mit den Fragen beschäftigen, die unsere Gegenwart und erst Recht unsere Zukunft prägen bzw. prägen werden.

Wenn ich mich darüber freue, dass wir im Schwerpunkt diese Themen miteinander diskutieren, dann heißt das jedoch nicht, dass ich Historie verdrängen und mich ihrer nicht erinnern wollte; niemand in Deutschland will das. Es heißt vielmehr, dass wir im Interesse der jungen Leute in unseren beiden Ländern dazu kommen müssen, zu erkennen, dass uns mehr als eine von Deutschen verursachte, unheilvolle Vergangenheit verbindet und dass uns im einigen Europa vor allen Dingen gemeinsame Aufgaben für Gegenwart und Zukunft verbinden. Darum geht es mir.

Deswegen finde ich es gut, dass wir über die zentrale Herausforderung diskutieren: Wie gehen wir mit Sozialstaatlichkeit in Gegenwart und Zukunft um? - Ich fand einen Satz des Ko-Vorsitzenden sehr bedeutungsvoll. Er sagte "Sozialstaat ist Teil der europäischen Kultur". Das kann man nur unterstreichen. Deswegen bestehen für uns die Fragen: Welchen Herausforderungen ist dieser Teil der europäischen Kultur ausgesetzt? Was sind unsere Antworten darauf? Dazu will ich ein paar Bemerkungen machen.

Die zentralen Herausforderungen sind im Grunde in dem, was Frau Fuchs und der Ko-Vorsitzende gesagte haben, angeklungen. Es sind im Wesentlichen drei. Eine Herausforderung der internationalen Politik sind neue Bedrohungen durch Unruhen und Instabilitäten im unmittelbaren Umkreis Europas. Wir können dabei über den südliche Kaukasus und den Iran reden. Wir müssen dann über Afghanistan, erst recht über den Nahen Osten und über einen nicht befriedeten Irak reden. Aber wir müssen, wenn wir über die neuen Herausforderungen reden, vor allen Dingen über internationalen Terror als so genannte asymmetrische Gewalt reden. Das alles sind Entwicklungen, die die Menschen in unseren Ländern beunruhigen und auf die wir, wie ich jedenfalls glaube, nicht unilaterale, sondern multilaterale Antworten geben müssen. Wir befinden uns mitten in diesem Prozess.

Bezogen auf unser heutiges Thema geht es vor allen Dingen um zwei weitere Herausforderungen. Die eine hat mit Globalisierung zu tun, also im Wesentlichen mit Ökonomie mit bisher nie gekannten Formen von Arbeitsteilung - darin stecken Möglichkeiten, aber auch Belastungen - und natürlich mit einem bisher nie gekannten Ausmaß internationaler Konkurrenz, die eben nicht nur auf den Märkten der Welt agierende Unternehmen, sondern inzwischen Volkswirtschaften erfasst. Die zweite große Herausforderung, die unsere Gesellschaften betrifft, hat mit der demographischen Entwicklung zu tun. Ich habe eben mit dem Ministerpräsidenten über diese Frage geredet, und er sagte: Wir haben ein ganz ähnliches Problem. Wir haben zu wenige Geburten, und unsere Gesellschaft altert.

Beides hat Auswirkungen auf die Frage: Wie erhalten wir den Sozialstaat als Teil der europäischen Kultur? "Teil der europäischen Kultur" bedeutet hierbei, dass wir in dem Sozialstaat etwas aufgebaut haben, das für Gerechtigkeit und für Sicherheit sorgt. Sicherheit bedeutet, dass die Menschen in existentiell schwierigen Lagen nicht alleine gelassen werden, und Gerechtigkeit bedeutet, dass die gemeinsam erarbeiteten Güter so gerecht, wie es in unseren Gesellschaften möglich ist, verteilt werden. Darüber, ob das in dieser Definition noch aufrecht zu erhalten ist, möchte ich gerne reden.

Jedenfalls sind es diese beiden Herausforderungen, die zu Veränderungen zwingen, die in reichen Gesellschaften - verglichen mit anderen Teilen der Welt sind die europäischen Gesellschaften reiche Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlichem Maße - zwei Probleme mit sich bringen. Das erste ist: Wenn man Veränderungsprozesse in unseren reichen, wohlhabenden Gesellschaften in Gang setzt, wird man schnell eine Mehrheit für die Notwendigkeit von Veränderungen finden, wenn die Veränderungen selbst möglichst abstrakt bleiben und möglichst wenige konkret betroffen sind. Aber das geht bei einem umfassenden Reformprozess nicht. Die zweite Schwierigkeit, die es gibt, ist die, dass Veränderungsprozesse, die man heute durchführen muss, in der Gegenwart belasten, ihre Erfolge sich aber erst in der Zukunft einstellen. Diese zeitliche Lücke macht die Legitimationsprobleme in unseren Gesellschaften aus, von denen schon die Rede war, und natürlich auch die Schwierigkeiten für reformorientierte Politik.

Gleichwohl bin ich fest der Auffassung, dass wir jenen Teil der europäischen Kultur, wenn wir ihn retten wollen, verändern müssen. Worum geht es dabei? Es geht dabei darum, die sozialen Sicherungssysteme, die in unterschiedlicher Art und Weise aufgebaut worden sind, zu erhalten. Das wird nur gehen, wenn wir sie an die veränderten ökonomischen Bedingungen anpassen. Wir haben in Deutschland in diesem politischen Prozess ein paar Erfahrungen gemacht, auch schmerzliche, die vielleicht auch für die europäische Diskussion wesentlich sind. Erstens haben wir das System der Alterssicherung reformiert. Es ist vor mehr als 100 Jahren gegründet worden, und was seine Finanzierung angeht, stützt es sich auf Beiträge, die zur Hälfte die aktiv Beschäftigten und zur anderen Hälfte die Unternehmen zahlen. Das Problem ist aber, dass wir aufgrund der demographischen Entwicklung ein wachsendes Sozialprodukt mit immer weniger Beschäftigten herstellen. Ein weiteres Problem ist, dass ebenfalls aufgrund der demographischen Entwicklung die Zeit länger wird, in der Alterssicherung bezogen wird, und die Zeit kürzer wird, in der eingezahlt wird. Zudem drücken die Beiträge bei den Unternehmen auf die Produktionskosten und vermindern die weltweite Wettbewerbsfähigkeit.

Wir haben daraus die Konsequenz gezogen, bezüglich der Finanzierung der Systeme eine neue Balance zu schaffen zwischen der Beitragsfinanzierung und dem Aufbau dessen, was man Kapitaldeckung nennt, also mehr eigene Verantwortung und Vorsorge. Wir haben den Eindruck, dass das funktioniert, und dass die Probleme weniger geworden sind, weist in diese Richtung. Trotzdem ist es eine große Schwierigkeit, ein lange bestehendes System umzubauen, und das geht überhaupt nur schrittweise. Aber andere Gesellschaften in Europa stehen vor ähnlichen Problemen mit ähnlichen Konsequenzen, und ich bin ganz froh darüber, dass wir zumindest dafür ein Maß an Verständnis gefunden haben, das als politisches Bewusstsein langsam wächst.

Die zweite Aufgabe, die wir vor uns hatten, war die Reform des Gesundheitssystems. Dies ist ein System, das außerordentlich schwierig zu reformieren ist, weil es in ihm unglaublich viele unterschiedliche Interessen von Beteiligten gibt, die im Übrigen bestens organisiert sind und hoch kommunikationsfähig sind. Kommunikationsfähig sind z. B. Ärzte oder Apotheker, weil sie Zugriff auf Ängste von Menschen haben, die zu ihnen kommen und versorgt werden wollen. Wir haben in Deutschland eines der besten Systeme, die es weltweit gibt, aber es ist zu teuer. Die Aufgabe bestand darin, mehr Transparenz in das System zu bringen und für mehr Markt zu sorgen, weil das die Konsequenz hat, dass das System selbst effizienter wird und deswegen bezahlbar bleibt. Wir haben das gemacht, indem wir alle Beteiligten - sowohl die Leistungsempfänger, also die Patienten, als auch die Leistungserbringer, also Ärzte, Apotheker, aber auch die pharmazeutische Industrie - in den Reformprozess eingebunden haben. Dies war kein freiwilliger Prozess, sondern es hat dafür gesetzgeberischer Arbeit bedurft.

Es gibt erste Erfolge, die sichtbar werden. Die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland haben im ersten Halbjahr 2003 ein Defizit in Höhe von 2 Milliarden Euro gemacht und im ersten Halbjahr 2004 einen Überschuss in Höhe von 2,5 Milliarden Euro erwirtschaftet. Daran wird sichtbar, dass die Reformen, die auch in diesem System darin bestanden, eine neue Balance zwischen Eigenvorsorge einerseits und staatlicher oder pseudostaatlicher Verantwortung andererseits zu schaffen - hierbei geht es ja um quasistaatliche Systeme - , funktioniert haben.

Wir mussten dabei bestimmte Mentalitätsveränderungen kalkulieren und auf sie setzen. Die wichtigste in den sozialen Sicherungssystemen ist, dass möglichst eine Mehrheit begreift, dass Solidarität in den Systemen nicht heißt: "Ich bekomme das wieder, was ich einbezahlt habe". Sondern dass Solidarität heißt, dass die Starken für die Schwachen und die Gesunden für die Kranken eintreten müssen. Das ist ein schwieriger Prozess, der aber notwendig ist, wenn man Erfolg haben will. Wer glaubte, dass wir damit abgeschlossen haben, irrt gründlich. Dieser Prozess wird entsprechend dieser Linie an jedem einzelnen Punkt weitergehen müssen.

Der dritte Bereich: Wir müssen den Arbeitsmarkt reformieren. Wir befinden uns in Deutschland mitten in diesem Prozess - mit Demonstrationen auf den Straßen. Aber diese Proteste nehmen ab, weil die Menschen einsehen, dass es unbedingt notwendig war, zwei Dinge zu verändern. Erstens müssen wir die Systeme so organisieren, dass sie leistungsfähig sind. In der Behörde, die Deutschlands Arbeitslosigkeit verwaltet - wie man sagen muss - arbeiten rund 100.000 Menschen. Von diesen waren nur 10 % damit beschäftigt, die Menschen in Arbeit zu vermitteln. Wir mussten das ändern, damit Menschen endlich zielgerichtet in die Arbeit vermittelt werden, die vorhanden ist, wobei prinzipiell jede Arbeit zumutbar ist. In unserem Land muss die Arbeit, die es gibt, von denen getan werden, die sich legal im Land aufhalten.

Die zweite Notwendigkeit, vor der wir stehen und standen, ist, dass wir die Menschen, die wir fördern und denen wir Qualifikationen vermitteln, damit sie auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig sind, auch fordern müssen. Das heißt, es muss auch Einfluss auf die gewährte Leistung haben, wenn sich jemand weigert, Qualifikationen zu erwerben oder zumutbare Arbeit anzunehmen. Das ist der Kern dessen, was wir wollen. Es geht also nicht darum, Menschen, die sich in existentieller Not befinden, weil sie arbeitslos sind, zu verwalten und ihnen "benefits" zu geben, sondern darum, sie zu aktivieren, damit sie Eintritt in den Arbeitsmarkt finden.

Diesen Umbau der Systeme machen wir, um sie angesichts des Finanzierungsdrucks erhalten zu können. Mit ist oft vorgeworfen worden - auch aus der eigenen Partei und von den Freunden in den Gewerkschaften - , ich hätte den Gerechtigkeitsbegriff, der für Sozialdemokraten doch schlichtweg identitätsstiftend ist, preisgegeben. Die Antwort ist nicht ganz einfach, aber man kann sie geben. Man muss den Menschen, die diesen Vorwurf machen, Folgendes sagen: Es wäre erstens ungerecht, mit den Reformen zu warten, bis die Systeme in sich zusammenfallen; auch das hat es schon gegeben. Zweitens. Was meint "soziale Gerechtigkeit" eigentlich? Bezieht sie sich, was die Verteilung von Ressourcen angeht, nur auf die heute aktive Generation, oder muss man nicht sagen "Gerecht ist der, der in den Gerechtigkeitsbegriff ökonomisch und sozial auch den Begriff der Nachhaltigkeit einbringt, der also nicht nur an die heute aktive Generation, sondern mindestens auch an die nächste und übernächste denkt" ? - Ich plädiere dafür, dass wir Gerechtigkeit nicht nur auf die Verteilungsfrage der lebenden Generation beziehen, sondern sie vor allen Dingen auf die künftigen Generationen beziehen, also auf unsere Kinder und deren Kinder. Wir müssen in den Begriff der sozialen Gerechtigkeit das einbringen, was in der Ökologie selbstverständlich geworden ist, nämlich dass man über Lebensgrundlagen nachdenkt, die auch in Zukunft noch erhalten werden sollen. Wenn wir das schaffen und daraus die organisatorischen Konsequenzen ziehen, dann können und werden wir Sozialstaatlichkeit als Teil des kulturellen Erbes in Europa erhalten.

Es kommt ein wichtiger Punkt hinzu: Wir müssen die Systeme in Ordnung bringen, um auch künftig gerecht sein zu können. Aber wir werden das nur können, wenn wir durch diesen Reformprozess Ressourcen frei bekommen und sie in Aufgaben investieren, die über unsere eigene Zukunftsfähigkeit entscheiden. Eine dieser Aufgaben ist - jedenfalls für Deutschland - die Investition in Forschung und Entwicklung. Wir müssen und werden das Ziel, 3 % des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung auszugeben, erreichen. Deutschland liegt im europäischen Vergleich an der Spitze der großen Industrienationen. Wir geben momentan 2,5 % aus, aber Schweden deutlich mehr als 4 % .

Die zweite Aufgabe ist: Wir müssen unser Bildungssystem - föderal aufgebaut und in der Breite gut - auf veränderte Bedingungen einstellen. Wir müssen es besser machen. Auch hierbei hat übrigens der Gerechtigkeitsbegriff seinen Platz. Ich glaube, dass wir nur dann gerecht sind, wenn wir jedem jungen Menschen unabhängig vom Einkommen seiner Eltern eine Chance auf Selbstverwirklichung durch Bildung in einem sehr umfassenden Sinne gewährleisten.

Die dritte Aufgabe ist: Wir müssen mehr in die Betreuung von Kindern investieren. Wir müssen das aus zwei Gründen tun: zum einen der Geschlechtergerechtigkeit wegen, weil es nun einmal so ist, dass Frauen ihre Kreativität, ihre Ausbildung und ihre Leistungsfähigkeit nur dann nutzen können, wenn sie sicher sein können, dass die Kinder gut und zuverlässig betreut werden, und zum anderen, weil wir die ökonomischen Ressourcen, die darin verborgen sind und die nicht genutzt werden, nutzen müssen; denn unsere Qualifizierungsprobleme allein durch Zuwanderung zu lösen, überstiege die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaften, wäre ganz verfehlt und im Übrigen unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit auch nicht richtig.

Meine Damen und Herren, ich bin ziemlich sicher, dass wir über kurz oder lang in allen Industriegesellschaften Europas vor den gekennzeichneten Problemen stehen werden und vielleicht Grund haben werden - ich habe das heute mit dem tschechischen Ministerpräsidenten vereinbart - , in diesem Bereich ganz entschieden zusammenzuarbeiten. Das wollen wir tun. Es ist ein Glücksfall, dass Vladimir Spidla in der Europäischen Kommission für Arbeit und Soziales zuständig sein wird; denn eines ist doch klar: Die Veränderungsprozesse, von denen ich geredet habe, müssen vor allen Dingen von den Mitgliedstaaten ausgehen und in ihnen gemacht werden, aber sie können in sinnvoller Weise strategisch ergänzt werden durch ein Europa, in dessen Mittelpunkt wirklich ökonomische Effizienz auf der einen Seite und soziale Kompetenz auf der anderen Seite stehen. Beides miteinander zu verbinden unter radikal veränderten Bedingungen, scheint mir die Aufgabe zu sein, die wir in der nächsten Zeit vor uns haben. Wenn Industriegesellschaften wie Tschechien und Deutschland dabei zusammenarbeiten, dann sollten sie einen guten Beitrag für diese europäische Aufgabe leisten können.