Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 05.10.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Eröffnung der 56. Frankfurter Buchmesse am 5. Oktober 2004 in Frankfurt
Anrede: Sehr geehrter Herr Generalsekretär, Herr Ministerpräsident, Frau Oberbürgermeisterin, verehrter Herr Schormann, sehr verehrte, liebe Frau Mubarak, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/25/724425/multi.htm


Ich finde, es ist schon ein großartiger Erfolg, dass es der Buchmesse gelungen ist, in diesem Jahr gleichsam die ganze arabische Welt als Ehrengast zu gewinnen. Nicht nur, weil in den nächsten Tagen hier in Frankfurt eine reichhaltige und auch wirklich beeindruckende Kulturlandschaft präsentiert wird, sondern auch, weil damit für alle die große Chance verbunden ist, das Bild der arabischen Welt in ein neues, ein differenziertes und ein umfassenderes Licht zu rücken.

Mir scheint das dringend geboten, denn in den vergangenen Jahren sind die Vorstellungen von orientalischen Gesellschaften mehr und mehr geprägt worden von Verzerrungen, Vorurteilen und vorschnellen Verallgemeinerungen. Allzu leichtfertig, gedankenlos und manchmal auch aus Unwissenheit werden über den Islam oder die Muslime sehr pauschale Urteile gefällt, statt die Verschiedenartigkeit des Islam und die Vielfalt der orientalischen Kultur und Gesellschaften zu erkennen. Wer sich aber vor falschen Vorurteilen und auch Gleichsetzungen hüten will, der muss bereit sein, zu differenzieren. Dann und nur dann kann ein größeres Verständnis für die verschiedenen Kulturen und für die Verschiedenheit von Kulturen entwickelt werden. Und welch einen besseren Ort könnte es für eine solche Differenzierung und neue Betrachtung geben als eben diese Buchmesse?

Meine Damen und Herren, die westliche und die arabische Welt verbindet eine lange und im Wesentlichen auch gemeinsame Geschichte. Der enorme zivilisatorische Beitrag der islamischen Kultur ist unbestritten und heute noch in sehr, sehr vielen wichtigen Städten Europas sichtbar. Es waren im Mittelalter arabische Gelehrte, unter ihnen übrigens Muslime wie Nicht-Muslime, die der Welt den Schlüssel zu den fortgeschrittensten Wissenschaften brachten. Das gilt für die Medizin, die Chemie und die Astronomie, aber auch für die Wiederentdeckung der klassischen griechischen Philosophie. Später waren es dann Forscher und Gelehrte aus dem Westen, die den arabischen Raum mit den Errungenschaften der modernen Industrie- und Technikentwicklung vertraut machten und die wertvolle Beiträge geleistet haben, um das große arabische Kulturerbe zu sichern und zu erschließen.

Daran wird deutlich, dass kultureller Austausch eben keine einseitige Beziehung ist - und auch niemals sein darf. Darum wollen wir den Dialog zwischen unseren Gesellschaften weiter fördern. Die Präsentation der arabischen Literatur auf der Frankfurter Buchmesse ist hierzu ein wichtiger Beitrag. Das ist nicht zuletzt jetzt ein wichtiger Beitrag, denn Bildung und Wissen, vermittelt über das Lesen, sind Voraussetzung dafür, in einer immer enger zusammenrückenden Welt einander besser zu verstehen und auch voneinander zu lernen. Ich denke, wo Verständnis, Offenheit, Toleranz und auch Neugierde herrschen, da wird es nicht mehr gelingen, so leichtfertig Keile zwischen arabische und westliche Welt zu treiben. Und wer immer das dennoch versucht, dem sollten wir als Menschen, die zu differenzieren gelernt haben und die gewillt sind, dabei zu bleiben, wirklich entschieden entgegentreten.

Meine Damen und Herren, kein Zweifel: die Anschläge von New York, Djerba, Bali, Madrid oder vor kurzem in Beslan haben uns auf so schreckliche Weise bewusst gemacht, dass der internationale Terrorismus eine der größten Bedrohungen für die Staatengemeinschaft ist. Terrorismus ist eine Kampfansage an alle Zivilisationen unserer Welt. Deshalb müssen wir uns auch alle gemeinsam dagegen zur Wehr setzen. Dabei geht es eben nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern es geht um einen Kampf gegen den Terrorismus. Wir sollten überhaupt mehr Vorsicht walten lassen, bevor wir Konflikte im Schwerpunkt kulturell interpretieren, denn die Welt besteht ja keinesfalls nur aus Kulturen im Sinne voneinander getrennter Einheiten, sondern aus Gesellschaften, Staaten und Staatenbündnissen. Und noch immer sind Menschen verantwortlich für ihr eigenes Handeln - im Guten wie im Schlechten. Worum es also eigentlich geht, ist ein Kampf um die Kultur in unserer einen Welt - um Toleranz und die universelle Geltung von Menschenrechten. Diesen Kampf müssen wir mit aller Entschlossenheit führen, und zwar unserer verschiedenen Kulturen wegen. Für alle Staaten, auch die arabischen Staaten, ist damit die Verpflichtung verbunden, Terroristen und fanatische Geiselnehmer zu ächten und zu bekämpfen.

Meine Damen und Herren, nicht nur für die Region des Nahen und Mittleren Ostens gilt, dass Frieden und Entwicklung einander bedingen. Ohne Frieden kann es keine Entwicklung geben. Aber ohne Entwicklung, dass heißt, ohne eine Steigerung des Wohlstands und eine Verbesserung der Lebenschancen der Menschen insgesamt, wird Frieden auf Dauer eben auch nicht möglich sein. Der ungelöste Nahost-Konflikt bedroht Sicherheit und Stabilität nicht nur in der Region, sondern weltweit. Aus dem Teufelskreis der Gewalt müssen Israelis und Palästinenser herausfinden. Dabei wissen wir: Der Konflikt kann nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden. Das in der "Road-Map" festgelegte Ziel bleibt gültig: Es sollen zwei Staaten, Israel und Palästina, existieren, die in sicheren, anerkannten Grenzen und in friedlicher Nachbarschaft leben können. Die Ankündigung Israels, sich aus dem Gaza-Streifen zurückzuziehen, war ein erster, ein gewiss wichtiger Schritt. Weitere Schritte müssen folgen, und zwar auf beiden Seiten.

Auch im Irak geht es um Stabilität für das Land und die Sicherheit einer ganzen Region. Deutschland wird deshalb auch weiterhin einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau des Irak leisten. Es geht eben nicht um die Frage, wer Recht gehabt hat, als es um die Beurteilung des Konflikts ging - das ist schon wieder ein Stückchen Zeitgeschichte, ein gewiss wichtiges - , sondern es geht jetzt um die Frage, dass wir alle miteinander dafür verantwortlich sind, dass mehr an Stabilität und Demokratie in die Region kommt. Das wird nur gehen, wenn wir im Irak friedliche Zustände schaffen können. In einem Gemeinschaftsprojekt mit den Vereinigten Arabischen Emiraten bilden wir irakische Polizei- und Militärkräfte aus. Wir tun das, damit die Menschen in diesem Land selbst für ihre eigene Sicherheit einstehen können. Aber auch die arabischen Staaten müssen ihre traditionell guten Verbindungen zum irakischen Nachbarvolk nutzen, damit Frieden gewonnen und Entwicklung im Irak ermöglicht wird.

Meine Damen und Herren, von manchen wird eine geeinte arabische Welt wegen ihrer Vielfalt und auch wegen der unterschiedlichen Interessen als Utopie bezeichnet. Indes: Es gibt im arabischen Raum hoffnungsvolle Zeichen für eine verstärkte Zusammenarbeit. Ich denke, die Arabische Liga hat dabei eine außerordentlich wichtige Aufgabe und eine bedeutende Funktion. Im Übrigen sollten wir es uns gelegentlich selbst einmal wieder klar machen: Ein vereintes Europa war vor nicht einmal 60 Jahren allenfalls eine Utopie - wenn überhaupt.

Heute, nach den schrecklichen Kriegen im vergangenen Jahrhundert, leben wir in einem geeinten Europa des Friedens und der Sicherheit. Hier liegt der Grund, warum wir Europäer hoffen und mithelfen wollen daran zu arbeiten, dass auch die Völker im arabischen Raum in möglichst naher Zukunft die Aussöhnung einstmals verfeindeter Staaten erleben werden.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen, den Ausstellern und Besuchern, den Autoren, Buchhändlern und Verlegern einen anregenden Austausch und der Frankfurter Buchmesse einen erfolgreichen Verlauf. Der Buchmesse und der Arabischen Liga, insbesondere Ihnen, Herr Generalsekretär, ist es zu danken, dass sie damit einen wichtigen Impuls für den notwendigen kulturellen Dialog geben. Vor allem: Dass sie uns hier in Frankfurt die Möglichkeit eröffnen, die wunderbare arabische Welt und die beeindruckende Vielfalt der arabischen Literatur besser kennen zu lernen. Wie heißt es doch so treffend in einem arabischen Sprichwort: " Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt.