Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.10.2004

Untertitel: Wenn die deutsche Wirtschaft, und zwar quer durch alle Größenordnungen, in Indien investiert, dann tut sie das, um die Wirtschaft und das Land voranzubringen. Sie tut es aber auch, um auf einem wachsenden Markt zum Nutzen Deutschlands präsent sein zu können.
Anrede: Herr Präsident Munjal, Herr Präsident Modi, Herr Präsident Noorami, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/725007/multi.htm


Den indischen Wirtschaftsverbänden und der Deutsch-Indischen Handelskammer danke ich ganz herzlich für die Gastfreundschaft, die Sie nicht nur mir, sondern auch meiner Delegation hier gewähren, und für den sehr sehr freundlichen Empfang. Ich bin sehr gern wieder nach Indien gekommen, weil Indien ein wichtiger Partner Deutschlands in ökonomischen Fragen, aber sicher auch in politischen Fragen ist, und das seit langer Zeit.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern wird von immer größerer Bedeutung. Indien kann auf eine erfolgreiche ökonomische Entwicklung in den vergangenen 10 Jahren blicken. Es ist sicher kein Zufall, dass Premierminister Singh diese ökonomische Entwicklung in seiner Zeit als Finanzminister angestoßen hat. Von daher kann jeder darauf bauen, dass die Öffnung der Märkte und diese günstige ökonomische Entwicklung auch in seiner Zeit als Premierminister weitergehen werden. Grundlage dieses Erfolges war die Öffnung der indischen Wirtschaft nach außen. Mit mutigen Wirtschaftsreformen konnte das Land in den vergangenen Jahren hohe Wachstumsraten erzielen. Auch im vergangenen Jahr hat Indien in einem weltwirtschaftlich noch schwierigem Umfeld mit über 8 % einen Spitzenplatz beim Wachstum eingenommen.

Wie gesagt: Ich bin mir ganz sicher, dass der Ministerpräsident diesen erfolgreichen Reformprozess fortsetzen wird. Ziel dieses Prozesses ist es auch durch ausländische Direktinvestitionen die Modernisierung des Landes und der Wirtschaft voranzubringen. Das liegt übrigens im wohlverstandenen beiderseitigen Interesse. Wenn die deutsche Wirtschaft, und zwar quer durch alle Größenordnungen, in Indien investiert, dann tut sie das, um die Wirtschaft und das Land voranzubringen. Sie tut es aber auch, um auf einem wachsenden Markt zum Nutzen Deutschlands präsent sein zu können. Auf diese Weise eine "Win-Win-Situation" herzustellen, ist für beide Seiten wichtig und kann für beide Seiten ein großer Erfolg werden.

Dabei weise ich mit einem gewissen Stolz gern auf eines hin: Wir sind ja auch als Deutsche im Wettbewerb auf den Märkten der Welt. Unsere Stärke - und das wird in den Märkten mehr und mehr gesehen - beruht auf dem Willen und der Fähigkeit der deutschen Wirtschaft, nicht nur Märkte zu erobern, sondern fair in diesen Märkten präsent zu sein. Fair heißt, nicht nur Produkte zu verkaufen, sondern auch an Technologien teilhaben zu lassen. Dieser Vorteil, den die deutsche Wirtschaft bietet - neben dem, was sie auf dem Sektor der Ausbildung leistet; denn dort hat die deutsche Wirtschaft einzigartige Erfahrungen - , qualifiziert sie in besonderem Maße für die sich entwickelnden Märkte, und Indien ist ohne Zweifel ein solcher.

Übrigens hat das Engagement deutscher Unternehmen in Indien eine gute Tradition. So hat vor rund 140 Jahren Siemens die erste Telegraphenverbindung von Kalkutta nach London gebaut. Ich fand es interessant, dass Sie, Herr Präsident, darauf hingewiesen haben, dass Indien der größte Markt für Unterhaltung ist, insbesondere für die Produktion von Filmen. Dass dies in Deutschland bekannt ist, zeigt die Präsenz von Herrn Schmidt-Holtz von Bertelsmann in meiner Delegation. Erfolgreicher Neueinsteiger im indischen Markt ist aber auch das Unternehmen Giesecke & Devrient, dessen neuen indischen Hauptsitz ich heute eröffnen werde. Das Unternehmen ist Hauptlieferant von Banknotenpapier und Sicherheitsmerkmalen für die indische Währung und für indische Reisedokumente. Auch das zeigt ein Maß an großem Vertrauen.

Meine Damen und Herren, gelegentlich wird noch eine zurückhaltende Investitionsbereitschaft von deutschen Firmen in Indien beklagt. Es ist gewiss zutreffend, dass sich deutsche Firmen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs natürlich im Schwerpunkt in Osteuropa engagiert haben. Aber aufgrund der dynamischen Entwicklung Ihres Landes, der indischen Wirtschaft also, gewinnt ihr Land mehr und mehr Anziehungskraft. Diese Chance der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wollen wir verstärkt nutzen - wie gesagt: im beiderseitigen Interesse. Der Handel hat sich erfreulich entwickelt. Er lag im vergangenen Jahr erstmals über 5 Milliarden Euro. Experten halten eine Verdoppelung des Handelsvolumens in den nächsten fünf bis sieben Jahren für möglich. Ich glaube, dass das realistisch ist angesichts der Wachstumsraten, die es in Indien gibt.

Deutschland ist stark, was Investitionen in der Infrastruktur angeht. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Präsident, dass Sie auf den Osten Deutschlands hingewiesen haben und auf die Leistungen, die dort erbracht worden sind. Es ist wahr: Wir haben dort Gewaltiges geleistet, was die Herstellung von Infrastruktur angeht. Daraus geht hervor, dass wir in Deutschland über beachtliche Planungskapazitäten und Erfahrungen in der Erstellung der Infrastruktur verfügen, die wir hier einsetzen können. Natürlich gibt es die Möglichkeit, mit der Deutschen Bahn AG zusammenzuarbeiten, die über erhebliche Erfahrungen sowohl in der Planung als auch im Betrieb verfügt. Weil Sie Flugplätze erwähnt haben: Es gibt deutsche Unternehmen, vorneweg Hochtief, die z. B. den neuen Flughafen in Athen hergerichtet haben, damit die Olympischen Spiele auch erfolgreich stattfinden konnten. Wir sollten auch überlegen, was wir tun können für die Kooperation bei den Finanzdienstleistungen, auch bei den Versicherungen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, eine ganz besonders wichtige wirtschaftspolitische Initiative ist in Indien die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie haben Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass diese Unternehmen in Deutschland das Rückgrat einer sehr erfolgreichen Wirtschaft bilden. Sie stellen rund 70 % aller Arbeitsplätze und die Hälfte der gesamten Wertschöpfung in Deutschland. Für diese Unternehmen gibt es einige Punkte, die besonders wichtig sind: Es ist zunächst eine schnelle und effiziente öffentliche Verwaltung, und das betrifft natürlich gerade die Auslandsinvestitionen. Denn diese Unternehmen haben nicht das Kapital, um langwierige Genehmigungsverfahren für Investitionsprojekte vorzufinanzieren. Also hier ist Effizienz und Schnelligkeit bei den Entscheidungen, wenn man eine ähnliche Struktur erreichen will, von enormer Bedeutung. Ich finde es gut, dass der Ministerpräsident angekündigt hat, die Wettbewerbsfähigkeit gerade kleiner und mittlerer Unternehmen zu stärken. Für den deutschen Mittelstand eröffnet das gute Kooperationschancen, übrigens nicht nur in den traditionell mittelständisch geprägten Bereichen, wie dem Maschinen- und Werkzeugbau, sondern auch was die Zukunftsmärkte angeht, etwa die Biotechnologie. Auf Initiative des deutsch-indischen Runden Tisches und der deutsch-indischen Kammer wird deshalb im kommenden Februar eine Mittelstands-Delegation nach Indien kommen, um diese Zusammenarbeit zu vertiefen.

Man kann, meine Damen und Herren, heute nicht über die Wirtschaftsbeziehungen zu Indien sprechen, ohne auf die außerordentlich wichtige Rolle hinzuweisen, die das Land im WTO-Zusammenhang hat. Sie wissen: Deutschland setzt sich seit langem intensiv dafür ein, dass die Doha-Welthandelsrunde ein Erfolg wird. Wir sind davon überzeugt, dass wir als ersten Schritt die Agrarexportsubventionen zum Verschwinden bringen müssen. Aber auch den Abbau anderer Subventionen müssen wir vorantreiben. Deutschland ist dazu bereit.

Im Juli haben die Handelsminister der WTO ein wichtiges Zwischenziel erreicht, das zu einer neuen Dynamik in den Verhandlungen geführt hat. Wir brauchen nun eine gemeinsame Anstrengung aller WTO-Mitglieder, um bis zum Treffen im Dezember nächsten Jahres in Hongkong weitere Fortschritte zu erzielen. Indien ist herausragend wichtig, weil seine Stimme insbesondere bei den Schwellenländern, aber auch bei den Ländern der Dritten Welt enormes Gehör findet. Dabei wird es um die Senkung von Industriezöllen und um den Dienstleistungsbereich gehen, der internationaler werden muss. Wir setzen auch hier - wie im Agrarbereich - auf die konstruktive Rolle Indiens.

In einer globalisierten Wirtschaft muss eine Organisation wie die WTO eine Schlüsselrolle einnehmen, weil multilaterale Handelssysteme allen anderen Systemen überlegen sind und sie auch gerechter sind. Denn wenn sich in den Handelsfragen immer nur die Stärksten aus den Weltregionen verbinden, dann geht das zu Lasten der schwächsten und der ärmsten Länder, und das können beide Seiten auf Dauer nicht aushalten. Mit einem multilateralen Weg dienen wir nämlich nicht nur unseren Volkswirtschaften, sondern wir ermöglichen es vielen Menschen, sichtbar und fühlbar an den Früchten der Globalisierung teilhaben zu können - an den Chancen der Globalisierung, die größer sind als die Risiken.

Ich glaube, wenn wir in diesem Sinne hier unsere politischen und wirtschaftlichen Gespräche führen und wir unsere Zusammenarbeit so stärken, wie wir es seinerzeit vereinbart haben - also dass wir uns möglichst jährlich in Indien oder in Deutschland sehen, um auftauchende Probleme zu besprechen und zu Lösungen zu kommen - , dann wird das eine Zusammenarbeit, die für beide Seiten von noch größerem Erfolg gekrönt sein wird, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.