Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 16.10.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des deutsch-algerischen Wirtschaftsforums, am Samstag, 16. Oktober 2004, in Algier.
Anrede: Sehr verehrter Präsident, lieber Freund, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/32/730432/multi.htm


Ich freue mich sehr, dass sich so viele deutsche und algerische Geschäftsleute zu diesem Wirtschaftsforum hier zusammengefunden haben. Ich denke, das ist ein sehr gutes Zeichen. Mich freut übrigens ganz besonders, dass heute ein wirklicher Mentor der deutsch-algerischen Beziehungen unter uns ist. Ich meine den ehemaligen Bundesminister Hans-Jürgen Wischnewski.

Meine Damen und Herren, Algerien hat in den letzten Jahren beeindruckende wirtschaftliche, aber eben auch politische Erfolge erzielt: das gemeinsame Streben, die Menschen an den Chancen der Globalisierung nicht nur in unseren eigenen Ländern, sondern auch darüber hinaus teilhaben zu lassen. Das algerische Volk hat Staatspräsident Bouteflika im April ein überzeugendes Mandat für die Fortsetzung seiner Politik gegeben. Der Präsident will und wird Algerien weiter auf dem Weg zu Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft voranbringen.

In meinen Gesprächen mit der algerischen Führung habe ich deutlich gemacht, dass wir Algerien auf diesem Weg unterstützen wollen und werden. Ich denke, unsere beiden Länder verbindet viel. Uns verbindet z. B. die Auffassung, dass alle Menschen das Recht haben, an den Chancen, die ich genannt habe, auch wirklich teil zu haben. Uns verbindet die gemeinsame Überzeugung, dass effektive multilaterale Strukturen der beste Garant für Sicherheit und Stabilität in der Welt sind. Ohne eine solche Sicherheit gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung, wie es ohne wirtschaftliche Entwicklung für alle auch keine wirklich friedliche Welt auf Dauer geben kann. Aber auch im bilateralen Verhältnis gibt es sehr viele Gemeinsamkeiten: Viele Algerier, die heute in ihrem Land Verantwortung tragen, hatten in Deutschland Zuflucht gefunden, als sie ihre Heimat verlassen mussten. Deutschland braucht Freunde in der ganzen Welt. Dass wir viele auch und besonders hier in Algerien haben, freut uns.

Meine Damen und Herren, das Mittelmeer trennt unsere Kontinente nicht, sondern es verbindet sie. Das Mittelmeer war und bleibt eine wichtige Drehscheibe des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausches zwischen Afrika und Europa. Dabei ist klar: was in Nordafrika und im Nahen Osten geschieht, betrifft uns in Europa, uns in Deutschland ganz unmittelbar, denn Sicherheit ist im 21. Jahrhundert wirklich unteilbar.

Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen habe ich die Frankfurter Buchmesse eröffnet. Ich erwähne das, weil es dort ein wichtige Ereignis gab. Diese Buchmesse stand ganz im Zeichen der Literatur aus der arabischen Welt. Diese Messe hat das faszinierende Bild einer Region vermittelt, die sich im Aufbruch befindet. Dabei sind die Verschiedenartigkeiten des Islam und die Vielfalt der orientalischen Kultur und Gesellschaften deutlich geworden. Das war uns in Deutschland wichtig, denn allzu leichtfertig, gedankenlos, gelegentlich auch bloß aus Unwissenheit werden heute über den Islam oder die Muslime recht pauschale Urteile gefällt. Wer sich aber vor falschen Gleichsetzungen hüten will, der muss bereit sein, zu differenzieren. Nichts kann eine solche Haltung der Differenzierung besser befördern als die Intensivierung des Austausches zwischen unseren beiden Ländern und den Regionen in allen Bereichen.

Herr Präsident, wir haben in unseren gemeinsamen Gesprächen gestern und heute auch über das Problem des internationalen Terrorismus gesprochen. Er ist, wie wir beide wissen, eine der größten Herausforderungen, der wir uns stellen müssen. Dabei ist uns beiden klar: wer Terrorismus wirksam bekämpfen will, muss seine Ursachen angehen. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, Armut und Ausgrenzung sind der Nährboden von und für Gewalt. Also reicht es nicht aus, den Terrorismus ausschließlich mit polizeilichen Mitteln zu bekämpfen. Nur wenn es uns gelingt, den Menschen eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen, und zwar in ihren eigenen Ländern, dort, wo sie geboren sind, wo sie leben wollen, werden wir sie gegen die Instrumentalisierung durch extremistische und terroristische Kräfte immunisieren können. Ich bin zuversichtlich, dass der in Algerien eingeleitete Reform- und Modernisierungsprozess bald Früchte tragen wird.

Meine Damen und Herren, gemeinsam tragen Algerien und Deutschland gegenwärtig Verantwortung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Wir teilen in vielen internationalen Fragen gemeinsame Überzeugungen. Ich wiederhole es: Die wichtigste dabei ist, dass ohne Frieden Entwicklung nicht möglich ist, und zwar weder im Nahen Osten noch im Sudan oder auch in Afghanistan. Also dürfen wir in unseren Bemühungen um eine Lösung des Nahost-Konflikts daher nicht nachlassen. Israelis und Palästinenser müssen einen Weg aus der Spirale der Gewalt finden. Insbesondere Europa ist aufgerufen, dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Dabei ist klar, dass das, was man als Road-Map bezeichnet, der Wegweise für eine Konfliktlösung ist. Im Nahen Osten - wir haben das gemeinsam festgestellt, Herr Präsident - sollen zwei Staaten, Israel und Palästina, existieren, und zwar in sicheren und von allen anerkannten Grenzen. In diesen Grenzen sollen sie in friedlicher Nachbarschaft leben können.

Meine Damen und Herren, mit großem Nachdruck unterstützt Deutschland die Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, die Weltorganisation zu reformieren. Die künftige Zusammensetzung des Sicherheitsrates hat der wachsenden Bedeutung Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Rechnung zu tragen.

Politische Reformprozesse sind besonders schwierig, wenn parallel auch grundlegende Wirtschaftsreformen in Angriff genommen werden müssen. In Algerien ist dies der Fall, denn anders ist der Übergang vom sozialistischen Wirtschaftsmodell zur Marktwirtschaft nicht zu schaffen. Verehrter Herr Präsident, lieber Freund, wir Deutschen können sehr gut nachvollziehen, vor welchen Herausforderungen Algerien steht. Der Bevölkerung hier im Land werden große Opfer abverlangt, denn ein solcher Transformationsprozess hat zwar viele Gewinner, aber eben in dem einen oder anderen Fall sind auch Verlierer möglich. Die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere der sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit, ist deshalb ein zentrales wirtschaftspolitisches Ziel der algerischen Regierung. Für das Gelingen der Wirtschaftsreformen hat Algerien heute gute Voraussetzungen: Der islamische Terrorismus ist wirksam bekämpft worden und hohe Einnahmen aus der Förderung von Gas und Öl machen es möglich, den Transformationsprozess sozial abzufedern.

Hauptziel der Wirtschaftsreformen ist die Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur. Dabei legt die Regierung viel Wert auf die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Deutschland unterstützt diese Politik. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir das auch in Zukunft tun werden. Um den Transformationsprozess erfolgreich zu bewältigen, braucht Algerien aber auch mehr Investitionen aus dem Ausland. Dazu ist die Ratifizierung des Assoziierungsvertrages mit der Europäischen Union ein wichtiger Schritt. Der geplante Beitritt zur WTO wird zusätzliche Impulse geben. Ich bin mir ganz sicher: zur wirtschaftlichen Öffnung nach außen gibt es keine vernünftige Alternative. Algerien wird - wie übrigens viele andere Länder auch - von der Integration in die Weltwirtschaft in hohem Maße profitieren.

Meine Damen und Herren, die intensiven Anstrengungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hier im Land werden auch von der deutschen Wirtschaft genau verfolgt. An der Zusammensetzung meiner Wirtschaftsdelegation können Sie ablesen, dass das Interesse der deutschen Wirtschaft in und an Algerien enorm gestiegen ist. Natürlich haben wir großes Interesse am Ausbau der Beziehungen im Energiesektor. Aber mir liegt daran, dass deutlich wird, dass auch andere Bereiche wichtig sind. Mit dem Transfer von Know-how und Technologie kann sie für die Modernisierung der Infrastruktur und für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der algerischen Wirtschaft große Beiträge leisten. Das gilt im Übrigen auch für Unternehmen aus Ostdeutschland, die eigene, gelegentlich durchaus schmerzhafte Erfahrungen mit solchen Transformationsprozessen gemacht haben.

Meine Damen und Herren, letztlich sind es Unternehmen selbst, die zu entscheiden haben, ob und wo investiert wird. Dabei spielt gerade für kleine und mittlere Unternehmen die einfache Beschaffung von Standortinformationen eine ganz wichtige Rolle. Ich freue mich daher, dass wir ab November hier in Algier einen Koordinator für die deutsch-algerischen Wirtschaftsbeziehungen haben. Ich wünsche Ihnen, Herr Dr. Hergenröther, für Ihre neue Aufgabe viel Erfolg.

Meine Damen und Herren, ich habe vorhin Hans-Jürgen Wischnewski unter uns begrüßt. Wir brauchen noch mehr Menschen von seiner Tatkraft und seinem Engagement, um die guten Beziehungen weiter zu vertiefen. Das gilt vor allen Dingen im wirtschaftlichen Bereich. Natürlich weiß die deutsche Wirtschaft, dass sie Wettbewerber hat. Sie fürchtet aber niemanden als Wettbewerber. Der Vorteil, den Deutschland für sich ins Feld führen kann, ist, dass wir bereit sind, nicht nur um Märkte zu kämpfen, um die bei uns produzierten Waren abzusetzen, sondern auch partnerschaftlich zu denken. Genau diesen Ansatz wollen wir unterstützen. Partnerschaftlich heißt, dass man auch bereit ist, Technologie zu transferieren, andere an dem teilhaben zu lassen, was man selber entwickelt hat. Vor allen Dingen versteht die deutsche Wirtschaft viel von Ausbildung, von Qualifizierung von Menschen, die man braucht, wenn der Transformationsprozess hier und anderswo erfolgreich sein soll.

Ich denke, dass die auf diesem Forum geknüpften Kontakte neue Impulse in diesem Sinne für die deutsch-algerischen Wirtschaftsbeziehungen geben können und sollen. Angesichts der Tatsache, dass wir, wie Präsident Bouteflika gesagt hat, ein neues Kapitel in den Beziehungen aufgeschlagen haben, sollte man dynamisch vorangehen, aber auch Geduld haben. Denn nicht alles, was in den letzten Jahrzehnten versäumt worden ist, lässt sich in wenigen Wochen, Monaten oder auch Jahren aufarbeiten. Wir haben ein gutes Fundament für diese gemeinsamen Beziehungen, und zwar politisch und kulturell. Auf dieser Basis sollte es gelingen, dass wir sehr viel intensiver als je in der Vergangenheit politisch, wirtschaftlich und auf dem Gebiet der Kultur zusammenarbeiten.