Redner(in): Christina Weiss
Datum: 17.10.2004

Untertitel: In Ihrer Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Liebes- und Musengeschichten. Das fragile Glück im Unglück von Verfolgung und Exil" am 17. Oktober 2004 in Prag würdigt Kulturstaatsministerin Weiss die Schicksale zweier Prager Schriftsteller, eines deutschen und eines tschechischen. Beide waren den Verfolgungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/95/729695/multi.htm


Prag ist keine große Stadt. Sie liegt aber im Mittelpunkt der Welt ", schrieb der Dichter Hugo Sonnenschein, der hier 1953 im Gefängnis starb. Das Prag, das er meinte, gab es längst nicht mehr. Aus der Hauptstadt der" freien und tapferen Republik ", deren Bürger gewesen zu sein Klaus Mann so stolz war, aus dem neben Paris wichtigsten Zufluchtsort des europäischen Exils, wurde nach der Nazi-Okkupation eine" getretene, geduckte Stadt ", wie Jirí Weil, der im Versteck den Judenmord überlebte, sie beschrieb.

Und "jenes geistige Prag der tschechisch-deutsch-österreichisch-jüdischen Synthese, die die Stadt metropolitan getragen und durch Jahrhunderte inspiriert hatte", war laut Johannes Urzidil schon am 24. Juni 1924 zu Ende gegangen, dem Tag, an dem er und seine Freunde ihren Franz Kafka zu Grabe trugen.

Die Ausstellung, die wir heute eröffnen, mit Büchern, Manuskripten, Briefen aus der Sammlung Jürgen Serkes, ist den "Liebes- und Musengeschichten - dem fragilen Glück im Unglück von Verfolgung und Exil" gewidmet. Sie bildet gleichsam das intime Fundament für das XII. Else Lasker-Schüler Forum, das zum ersten Mal in Prag stattfindet und einen weiten thematischen Bogen spannt: von der Prager deutschen Literatur über den Holocaust bis zur Aufarbeitung der Vertreibung in den Büchern jüngerer deutscher und mitteleuropäischer Autoren. Im Zentrum jedoch stehen die Autoren und ihre Biographien - Biographien, in die sich die Katastrophen des 20. Jahrhunderts eingeschrieben haben.

Erlauben Sie mir, dass ich die programmatische Frage nach dem Vermögen der Liebe, Halt zu geben in einer Situation, in der alles haltlos geworden ist, um etwas Grundsätzliches erweitere: Die Menschen, die sich in Briefen, Notizheften, Erzählungen, Kassibern ihre Liebe erklärt, sich ihrer Leidenschaft, ihres Daseins versichert haben, sind fast alle Verlierer gewesen. Eine verbrecherische Politik, die sie hierhin und dorthin jagte, um Affidavit, Visa und Schiffspassagen bangen ließ, hat ihrem Dasein jene minimale Verlässlichkeit und Stetigkeit geraubt, ohne die kein Plan gefasst, kein gemeinsames Leben verwirklicht werden kann. Die Entwurzelung erzwang nicht nur äußere, sondern auch innere Neuorientierung.

Darin zeichnet sich die Signatur jener Epoche ab: Menschen, die für sich Verantwortung übernahmen, die nicht Spielball der Macht, sondern Subjekte ihres eigenen Lebens sein wollten und darum ihre Angst bekämpften, waren zu Entscheidungen gezwungen: bleiben oder gehen, schweigen oder protestieren, standhalten oder sich anpassen. Entscheidungen, die sich im Nachhinein als verhängnisvoll oder falsch erweisen konnten. Revisionen waren nicht möglich, es sei denn um den Preis des Verrats. Es war eine Epoche, der wohl auch die Seelenkräfte von Giganten nicht standgehalten hätten.

Vor uns ausgebreitet sehen wir Fragmente von Biographien, Zeugnisse zerrissener und abgebrochener Lebenslinien. Entstellte Biographien, deren Zerstörung fortgesetzt wurde durch Verleumdung oder Mythenbildung - oder durch das unsichtbare Wirken des Vergessens und Verschweigens.

Lassen Sie mich an zwei Lebensgeschichten erinnern, an zwei jüdische Schriftsteller deutscher und tschechischer Sprache, Hugo Sonnenschein und Jirí Weil.

Sonnenschein, der "weltverkommene Sonka", so nannte er sich, wurde geboren in einem "unentdeckten dunklen Erdteil, im Herzen Europas, in der indianischen farbigen Slowakei, als Judenjunge, als deutscher Dichter", wie es in seinem lange verschollen geglaubten und von Jürgen Serke entdeckten Prosabuch "Terrhan oder der Traum von meiner Erde" heißt.

Von Sonka erschien vor 40 Jahren im Limmat Verlag Zürich ein schmales Broschurbändchen in einer Auflage von 750 Exemplaren: "Schritte des Todes. Traumgedichte"; schön gedruckt, mit einer Zeichnung und wertvollen biographischen Angaben der anonymen Herausgeber versehen, hinter denen sich Sonkas Sohn Tomas Spenser verbarg. Er hatte die Ausgabe finanziert.

Das Buch blieb ohne jedes Echo. Es kam Jahre zu spät - und Jahre zu früh.

Sonka, Journalist und Vagantendichter, Anarchokommunist in Brünn, Mitbegründer der Kommunistischen Partei in Wien und Prag, aus der er 1927 ausgeschlossen wurde, Literat und Funktionär, der sich 1933 für seine verfolgten Kollegen in Deutschland und 1937 für die Angeklagten der Moskauer Prozesse einsetzte, dieser Sonka wurde 1943 mit seiner zweiten Frau nach Auschwitz deportiert und 1945 von den tschechischen Stalinisten, die ihn der Kollaboration mit den Nazis bezichtigten, als "Freund von Trotzki und Goebbels" zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt.

Tschechische Freunde setzten sich erfolglos für ihn ein; der österreichische PEN verzichtete darauf, gegen den unfairen Prozess zu protestieren, der seinem Mitglied gemacht wurde. Briefe Sonkas an befreundete prominente Schriftsteller im In- und Ausland blieben unbeantwortet, wenn sie ihre Adressaten überhaupt erreichten.

Anfangs hatte er noch gehofft, eine Publikation könnte helfen, ihm Gehör zu verschaffen, seine Unschuld zu bezeugen: jene Gedichtsammlung "Schritte des Todes", die er im März 1945 in Moskau vollendet hatte. Von der Roten Armee befreit, war er nach Moskau eingeladen worden und hatte dort "das Wenige aufgeschrieben", das er "aus der Zeit jenseits des Lebens" im Gedächtnis behalten hatte."Traumstimmen" nannte er die Verse, die er seinen Söhnen über den tschechischen Botschafter nach London schicken ließ.

Ein künstlerisches Dokument von unvergesslicher Eindringlichkeit. Doch niemand wollte es drucken.

Wo hätten diese Gedichte auch erscheinen sollen? Ein deutscher Dichter in einem englischen Verlag? Ein deutscher Dichter, der in der CSSR im Gefängnis saß, tschechoslowakischer Staatsbürger, bekannter Kommunist, angeblicher Kollaborateur - welcher Verleger in Ost- oder in Westdeutschland hätte sich Ende der 40er Jahre dieser Texte annehmen wollen? Selbst wenn Sonka in Prag freigesprochen worden wäre - eine Publikation dort war schon deshalb undenkbar, weil, wie H. G. Adler sagte,"alles Deutsche für die Tschechen keinen Platz mehr hatte im Land. Die deutsche Kultur wurde vertrieben. Prag war eine gestorbene Stadt."

Eine kaum vorstellbare Verkettung tragischer Umstände. Genauer: Angriffe auf einen Menschen mit mehrfacher Identität. Sie zielten auf den Kommunisten, den Juden, den Deutschen. Sonka selbst hasste die Festlegungen; er opponierte gegen die Opposition, wenn er es für richtig hielt. Auch deshalb wurde er fallengelassen - er gehörte ja nirgends dazu. Das Identitätsprinzip, dem die anderen ihn unterwarfen, brachte ihn um. Die einzigen, die sich während seiner Gefängniszeit unablässig um ihn kümmerten, waren seine Söhne und seine erste Frau.

Weitere zwanzig Jahre vergingen, bis die Entdeckung von Hugo Sonnenschein einsetzte. Es ist Jürgen Serkes Verdienst, den Dichter von jedem Verdacht befreit und den Nachweis erbracht zu haben, dass er Opfer eines Justizverbrechens wurde.

Meine Damen und Herren, Liebe ", schrieb Sonka," braucht Zeit. Liebe ist eine unpreußische und schöpferische Angelegenheit." Zeit blieb ihm nicht, so wenig wie den anderen. Die Zeit war unter den Bedingungen von Flucht, Verfolgung und Vertreibung kein offener Horizont mehr. Sie diktierte, teilte zu und nahm fort; Stunden, Tage, Wochen. Ewigkeiten, die zu Sekunden schrumpften: die Zeit verkümmerte zu einem einzigen Zustand - dem des Wartens.

Es ist die Kraft der Imagination, der Vergegenwärtigung, die dieses schreckliche Gesetz der Leere durchbricht. Es gibt das Du in den Briefen, es gibt die verlorene Geliebte, die in einer Romanfigur aufersteht, es gibt das lyrische Du.

In den "Schritten des Todes" findet sich ein datiertes, nur mit einem Kreuz betiteltes Gedicht - gewidmet dem Tag, an dem Sonkas Frau Ru ž icka in Birkenau umgebracht wurde, während er drei Kilometer entfernt in seiner Zelle saß: "Ich wache auf und seh die Sterne stehn. / Ich werde dich nicht wiedersehn, nicht wiedersehn. / Durchs Gitter blicken stumm die Sterne." Der Dialog des Einsamen, oftmals Element der Texte, verstummt; der Refrain dieser leiernden Terzinen gittert ihn förmlich ein: "Das Echo meines Wortes, das ich hör, / ist Nichtigkeit und Nichts und Nimmermehr... / Und hinterm Gitter graut der Morgen."

Dass Liebe die Präsenz der Abwesenden immer einschließt, dass in der tiefsten Einsamkeit, wie bei Sonka, der Dialog mit der Geliebten weitergeht - träumerisch, ohne zu wissen, ob sie noch lebt - davon lesen wir auf den ersten Seiten von Jirí Weils Roman "Leben mit dem Stern". Ein Buch, das wir als Gegenstimme zu Sonkas Gedichten wahrnehmen können.

Weils Held, ein Bankbeamter, haust am Stadtrand von Prag, hungernd, rechtlos, und wartet auf seine Deportation. Er meldet sich wie angeordnet bei der Jüdischen Gemeinde, trägt den Stern und wehrt sich nicht, wenn er aus der Straßenbahn geprügelt wird. Er lehnt es ab, sich zu verstecken, weil er nicht schuldig werden möchte am Tod unbekannter Menschen, die seinetwegen umgebracht werden könnten. Doch wird er es allmählich leid,"ein Leben zu leben, das andere sich für uns ausgedacht haben".

Als er erfährt, dass seine Geliebte bei einer Vergeltungsmaßnahme erschossen worden ist, beschließt er, für sie zu leben. Er reißt sich den Stern ab. Er stellt den eigenen Willen über das Gesetz seiner Peiniger; in dem Moment, als er beschließt,"der Freiheit nicht länger auszuweichen", tritt er aus dem Bann des Todes heraus.

Wir wissen nicht, ob Sonka, Jahrgang 1889, und Weil, Jahrgang 1900, sich gekannt haben. Beide sprachen sie die Sprachen des anderen, von Sonka ist bekannt, wie intensiv er etwa die slowakische und tschechische Lyrik rezipierte. Seit 1934 lebte er in Prag, der Heimatstadt Jirí Weils.

Beide waren sie als "Abweichler" aus der KP ausgeschlossen worden. Beide hatten sie die Sowjetunion besucht, ohne zu den "Mitläufern" zu gehören.

Jirí Weil hatte 1922 bis 1931 als Übersetzer in der sowjetischen diplomatischen Mission gearbeitet und die neueste russische Literatur in der Tschechoslowakei bekannt gemacht. Sein Roman "Moskau - Grenze", in dem er seinen Aufenthalt in dem Land 1933 bis 1935 beschreibt - auch die Lagerhaft - , ist eine der ersten Darstellungen der stalinistischen Säuberungen überhaupt und wurde von der linken Literaturkritik verrissen. Das Buch ist aus einer doppelten Optik geschrieben, Kritik und Affirmation zugleich - als wollte es einen Satz Sonkas illustrieren: "Entweder ist das, was in Russland geschieht, der Weg zum Sozialismus, und ich bin kein Sozialist, oder ich bin Sozialist und was in Russland geschieht, ist roter Faschismus."

Jirí Weil hatte sich der Deportation durch einen vorgetäuschten Selbstmord entzogen und lebte seit 1943 versteckt in Prag."Leben mit dem Stern", das bedeutendste Werk über den Holocaust in der tschechischen Literatur, erschien 1949 und brachte dem Autor ein siebenjähriges Schreibverbot ein. Eine regelrechte Kampagne wurde gegen ihn geführt. Bis zu seinem Tode 1959 arbeitete er im Jüdischen Museum in Prag.

Meine Damen und Herren,

Johannes Urzidil hat Prag als die "Stadt der Raconteure" bezeichnet,"der magischen Realisten, der Erzähler mit exakter Phantasie".

Hier wurde die dichterische Formel für den Skandal gefunden, der die condition humaine im 20. Jahrhundert für immer verändert hat. Sie lautet: der Schuldlose ist schuldig. Kafka hat sie entdeckt; wir finden sie aber auch im Werk anderer Prager Autoren, deutscher und tschechischer, von Ludwig Winder bis Jirí Weil. Der Prozess, der dem Prokuristen Josef K. gemacht wurde, er spielte sich in der totalitären Wirklichkeit wenige Jahrzehnte später millionenfach ab.

Die von der Macht verhängte Unmöglichkeit, der Schuld zu entkommen; die Infamie des Terrors, den Opfern nicht nur das Leben, sondern auch die moralische Unschuld zu nehmen - diese Erkenntnis führt uns Jirí Weil vor, mit einem klaren Blick auf die Opfer, die sich - wie der lernbereite jugendliche Erzähler in Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen" - , um zu überleben, in die Logik ihrer Mörder hineindenken mussten. Wie Kertész wurde auch Weil vorgeworfen, die ermordeten Juden zu verhöhnen. Der Mensch muss den Mut haben, ein Bekenntnis abzulegen, bevor die Dinge noch entschieden sind ", heißt es bei Sonka. Die Auflehnung gegen die Zumutung, ein Leben zu leben, das sich andere für uns ausgedacht haben - ist sie nicht die einzige Tat, die einzige Freiheit, die den schuldlos Schuldigen bleibt? Ist die Prager Formel nicht unvollständig ohne die Rebellion, ohne die politische Leidenschaft Sonkas, Weils und so vieler anderer, die sich dem Kampf um eine bessere Einrichtung der Welt verschrieben hatten?

Trotz der täglich neu zutage geförderten Beweise über die Verbrechen der kommunistischen Regime, trotz der nachweislichen Irrtümer in der linken Theorie und Praxis, bleibt ja die Frage nach dem Sinn jener Kämpfe für Ziele, die heute obsolet geworden sind.

Wir, die wir heute, jenseits des Ost-West-Konflikts und nach der Auflösung der ideologischen Blöcke, vor der Fülle dieser Zeugnisse stehen; die wir uns lesend, d. h. frei, kontemplativ, ohne den Zwang, Partei ergreifen, Argumente zu schärfen, das Wissen zur Waffe schmieden zu müssen, mit so viel utopischem Hoffen und verzehrender Aufrichtigkeit konfrontiert sehen, wir sollten versuchen, gerechte Leser zu sein: Leser, die Gerechtigkeit üben, indem sie das Erinnern dem Vergessen vorziehen, das Suchen dem Verlorengeben, die Empathie dem Besserwissen; Leser, die weiterfragen und -forschen, die auf Entdeckungen aus sind und nach neuen Ausgaben verlangen, einer Ausgabe der Briefe Hugo Sonnenscheins zum Beispiel. Kurz: Leser ( sollten wir sein ) mit "exakter Phantasie".

Ich danke allen, die am Zustandekommen dieser Ausstellung beteiligt waren. Und ich danke Jürgen Serke, ohne dessen jahrzehntelange biographischen Recherchen wir so vieles nie erfahren hätten. Er hat, wie andere Forscher vor und neben ihm, dafür gesorgt, dass wenigstens die Bücher und ihre Autoren ins Gedächtnis gerettet worden sind.

Ich danke Ihnen.