Redner(in): Christina Weiss
Datum: 18.10.2004

Untertitel: In einer Rede vor der Kulturtagung des Deutschen Studentenwerkes am 18. Oktober 2004 in Berlin unterstrich Kulturstaatsministerin Weiss, dass Kultur in jeder Hinsicht eine wichtige Ressource ist.
Anrede: Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/53/731453/multi.htm


es könnte sein, dass der romantische Traum vom Buchhändler an der Ecke, der zwischen seinen Regalen steht und allein vom Ertrag lebt, unter Dichtern zu sein, etwas unromantischer wird. Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Peter Esterhazy, sieht im Heroismus des guten Händlers etwas Natürliches: " Das heißt, er verfolgt keine Kulturmission, sondern verrichtet seine Arbeit wie jemand der seinen Beruf liebt und versteht.

Der Alltag als Festtag - das ist mein romantisches Bild von diesem Beruf." Der Alltag als Festtag, das gilt für weite Teile unserer Kulturindustrie, die sich einer scharfen Konkurrenz auf dem Markt zu erwehren hat und dennoch mit viel Phantasie Begegnungen zwischen Kunst und Publikum stimuliert. Natürlich streben alle nach dem großen Wurf, nach einer maßstabsetzenden Inszenierung, einem meisterhaften Roman oder einem vielschichtig erzählten Film. Aber: In der Kultur zählt, wie in der Wirtschaft auch, das Resultat. Der höchste Anspruch nützt nichts, wenn ihn das Publikum nicht goutiert. Natürlich darf und soll Kunst auch scheitern dürfen, keine Frage. Aber der Kulturbetrieb ist eben selbst ein aktiver Teil der wirtschaftlichen Struktur unserer Gesellschaft, und nur, wenn er auch aktiv an den ökonomischen Spielregeln mitwirkt, kann er Einfluss und Wirkung geltend machen. Und zwar im eigenen Sinne.

Ich möchte Ihnen heute veranschaulichen, in welcher Weise sich die Kulturindustrie in Deutschland entwickelt hat. Sie werden sehen, dass es durchaus hoffnungsvoll sein kann, den natürlichen Heroismus zu pflegen. Die Rede ist von einer neuen Studie, die im Auftrag meiner Behörde von Michael Söndermann verfasst worden ist. Ihr Titel lautet "Kulturberufe in Deutschland". Sie untersucht die Entwicklung der Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern, Publizisten, Designern, Architekten und verwandten Berufen im Zeitraum von 1995 bis 2003. Die Ergebnisse, zu denen Herr Söndermann kommt, sind durchaus bemerkenswert zu nennen. Zunächst eine Größenordnung: Die Gesamtzahl der Erwerbstätigen in den Kulturberufen belief sich im Jahr 2003 in Deutschland auf rund 780.000 Personen. Bezogen auf die gesamte erwerbstätige Bevölkerung entspricht dies einem Anteil in Höhe von 2,2 Prozent.

Nicht viel, mögen Sie sagen. Aber eine Vergleichszahl erleichtert die Einordnung des Befundes: Den 780.000 "Kulturberuflern" stehen nämlich 620.000 Beschäftigte in der gesamten Automobilindustrie gegenüber, eine Branche immerhin, die oft als tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft bezeichnet wird.

Es lässt sich ruhigen Gewissens formulieren, dass der Kulturbetrieb eine beachtliche Wachstumsbranche ist. Denn zwischen 1995 und 2003 ist die Zahl der im Kultursektor Tätigen insgesamt um 31 Prozent gestiegen. Dies bedeutet ein jährliches Wachstum um 3,4 Prozent, dem im gleichen Zeitraum ein Nullwachstum im Gesamt der erwerbstätigen Bevölkerung gegenübersteht. Der Anteil des Kulturbereiches an der Gesamtbeschäftigung hat sich also in den letzten acht Jahren signifikant vergrößert.

Die skizzierte Dynamik des Zuwachses verdient eine genauere Betrachtung. Angesichts enger Haushaltslagen ist klar, dass hier nicht der Staat für eine Einstellungswelle gesorgt hat. Im Gegenteil: Die Zahl der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst ist eher rückläufig, und das ist sicher auch notwendig. Vielmehr wächst insbesondere der Anteil der Selbstständigen und Freischaffenden im Kulturbetrieb. Ich will diese Entwicklung nicht umstandslos glorifizieren. Mir ist ( auch aus eigener Erfahrung ) bewusst, dass die materiellen Umstände einer selbstständigen Tätigkeit - gerade in der Startphase - oft genug schwierige sind. Ich weiß wohl, wie viele Kreative an den Rand der Selbstausbeutung gelangen, um mit ihrem kleinen Unternehmen überleben zu können. Gleichwohl ist eines quer durch die Lager in Wissenschaft und Politik auch klar: Deutschland braucht, zumal unter den Bedingungen einer rapide sich wandelnden, einer sich globalisierenden Wirtschaft, mehr Initiative, mehr Menschen, die den Sprung in die Selbstständigkeit wagen.

So gesehen gehen also vom Kulturbereich - über die nackten Zahlen hinaus - wichtige Impulse aus. Denn die Eigenschaften, die uns das Erwerbsleben der Zukunft abverlangen wird - Flexibilität, Mobilität, Offenheit im Denken und im Handeln - sind hervorstechende Merkmale einer ( selbstständigen ) Tätigkeit im kulturellen Sektor. Kultur ist also auch in dieser Hinsicht nicht ( wie zum Beispiel die Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück in ihrem Papier zum Subventionsabbau gemutmaßt haben ) eine bloße Kostgängerin des Staates, sondern vielmehr Avantgarde des Arbeitsmarktes. Die Gruppe der selbstständigen Kulturberufe wächst immerhin vier mal schneller als das Gesamt der Selbstständigen in der Bevölkerung.

Ich denke, diese Ergebnisse sollten uns Anlass der vertieften politischen Reflektion sein.

Die Verantwortlichen in den Hochschulen, in Bildungs- und Kulturpolitik - also wir alle - müssen genauer als bisher und überlegen, welche Konsequenzen wir aus der Entwicklung in den Kulturberufen ziehen. Erweitert man nämlich den Blick auf Europa, so stellt man fest, dass mehr als sieben Millionen Menschen im privaten wie öffentlichen Kultur- und Mediensektor ihr Geld verdienen. Wir müssen lernen, unser kulturelles Erbe und unsere kulturellen Fähigkeiten ebenso als nationale Ressourcen zu betrachten, wie dies in anderen Wirtschaftszweigen selbstverständlich ist.

Meine Damen und Herren,

die Frage nach der Legitimation der Künste gegenüber dem Druck der Einschaltquoten und Auslastungszahlen zwingt uns zu einer genauen Unterscheidung kultureller Leistungen und Funktionen.

Dabei wird deutlich, dass es ebenso viele Funktionen von Kultur gibt, wie es Ebenen der Kultur gibt, und dass jede Funktion ihre jeweils eigenen Maßstäbe und Rechtfertigungen setzt. Die Kulturpolitik muss diese Ebenen beachten, sie muss allen ihren Raum verschaffen, denn aus der Summe der kulturellen Nutzungen erst ergibt sich eine Kulturgesellschaft mündiger Bürgerinnen und Bürger.

Ich will die Ebenen kultureller Leistungen aufzählen:

Kultur meint das gesamte Regelwerk des menschlichen Miteinanders und ist also keineswegs nur auf den Kulturbetrieb oder die Kunstszenen einschränkbar. Kultur ist vielmehr von allgemeiner politischer Bedeutung, wie die Qualität des Standortes für die Wirtschaft, wie die Qualität des kulturellen Freizeitangebotes, die touristische Attraktivität. Kultur ist ebenso relevant wie die bildungs- und sozialpolitischen Effekte, die Qualität der Stadtentwicklung, die Bewusstseinsbildung im Sinne der europäischen Integration und internationaler Begegnungen, die Integration von Migrantengruppen und die Motivation von Gemeinschaftsdenken und Kritikfähigkeit des einzelnen. Die historische Dimension von Kultur steht unter dem Postulat der Identitätsfindung aus dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft heraus. Geschichte, Kunst und Religion bilden hierbei den Bezugsrahmen. In einem etwas altmodischen Verständnis können wir deshalb Kultur auch unter dem Aspekt einer Bildungsaufgabe sehen, die gelöst werden muss, wenn eine möglichst große Anzahl von Menschen teilhaben soll an der kulturellen Gestaltung des Lebens, wenn eine möglichst große Anzahl von Bürgern als Rezipienten Teil der künstlerischen Prozesse werden soll. Zu den zentralen Anliegen unseres Jahrhunderts zählt natürlich auch die soziale Dimension der Kultur. Sie muss Menschen zueinander bringen, kommunikations- und dialogfähig machen. Insofern ist Kulturpolitik in diesem Verständnis mehr als bloße Organisation und Ermöglichung von Kulturveranstaltungen. Kulturpolitik muss ein Klima der Offenheit und der bewussten Pluralität erzeugen. Das gilt natürlich in besonderem Maße auch fürstudentische Kulturarbeit, die oft als Impulsgeberin und als Brücke zwischen universitärem Raum und städtischem Leben verstanden wird. Gerade für mittlere und kleine Universitätsstädte ist diese Brücke ausgesprochen belebend. Denn die Begegnung mit Kunst und Kultur konditioniert die Bereitschaft, Pluralität zuzulassen und sich selbst auf die Begegnung mit Uneindeutigem, Unbekanntem, Fremdem einzulassen. Nicht zu vergessen ist die Ebene der Unterhaltung und Zerstreuung, eine Ebene, die in den Kulturkonzepten der Vergangenheit allzu oft ausgeblendet wurde, da sie in den Entertainmentbereich hineinragt. Wenn wir der Kultur auch Momente der Entlastung und reproduktive Energien zubilligen, dann heißt das ja noch nicht, dass wir den Kulturbetrieb insgesamt unter das Diktat der Freizeit-Unterhaltung und der Konsumindustrie stellen. Ich erinnere an den Satz Walter Benjamins, wonach gerade die befreiende Wirkung des Lachens eine der schwierigsten Übungen der Kunst ist, aber auch der beste Weg, sich seiner Alltagssituation zu entfremden. Voraussetzung für das Prädikat Kunst ist dann natürlich, dass das Lachen weiterführt zu einer heiter wahrgenommenen Erkenntnis, einer Veränderung der Weltsicht und des Selbst-Bewusstseins. Der für mich wichtigste Aspekt der Kulturerfahrung weist zurück auf die Forderung Richard Sennetts,"Orte der Selbstpreisgabe" zu schaffen. Die Künste öffnen Orte der Gefühlsbildung, der Erschütterung eingefahrener, festgefahrener Wahrnehmungsmuster und Vorurteile. Die Künste bieten völlig andere Erfahrungsräume als irgendein anderer Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Geistige Offenheit, die ich zu den wichtigsten Tugenden einer an Toleranz und Solidarität orientierten Gesellschaft zähle, setzt die Fähigkeit voraus, über ungewöhnliche Erlebnisse zu anderen, neuen Einsichten zu gelangen. Auch und gerade daran messe ich die Leistungen kultureller Praxis. Studentische Kulturarbeit ist demnach ein integraler Bestandteil von Bildung ebenso wie eine unverzichtbare Vorbereitung auf das Berufsleben. Nur im Umgang mit der Kunst lassen sich Schlüsselqualifikationen erlernen, die die rein auf das jeweilige Studienfach bezogene Lehre nicht vermitteln kann. Es geht darum, das eigene Kreativpotential zu heben, und nicht darum, das Studium an unseren Hochschulen auf reine Stoffvermittlung im Sinne vermeintlicher Effizienz zu reduzieren. Die politische Kultur entwickelt sich aus allen voran genannten. Sie betrifft die aktive Gestaltung der Gesellschaft durch Menschen, die in kulturellen Begegnungen Gemeinschaftsfähigkeit und Mündigkeit erworben haben. Die Fähigkeit, Eigensinn zu entwickeln, ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, Gemeinsinn zu leben. Und noch ein Wort zur Elite: Wir brauchen eine Elite, die sich durch unabhängiges, differenziertes und kritisches Denken auszeichnet. Eine Elite, die sich dem Gemeinsinn verpflichtet fühlt und allerlei dogmatischen Ideologien trotzt. Das ist es, was dem gesellschaftlichen Diskurs über unsere Probleme gegenwärtig am meisten fehlt. Schablonenhafte Affirmation hilft nicht weiter. Von der Kunst, und nur von ihr, lässt sich dieses Denken lernen.

Als Kreativitätspool ist die Kultur für jede Gesellschaft eine wichtige Ressource, und ich meine, dass sich daraus vielfältige Legitimationsfelder ergeben. Wichtig ist, dass die Vielfalt kultureller Handlungsfelder immer mitgedacht wird. Insofern ist der Kulturauftrag der Studentenwerke von großer Bedeutung, und ich möchte sie bestärken, ihre erfolgreiche Arbeit fortzusetzen.