Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 22.10.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich der Einweihung der Zellstoff Stendal GmbH am 22. Oktober 2004 in Stendal.
Anrede: Lieber Mr. Lee, sehr geehrter Herr Ridder, verehrter Herr Ministerpräsident Böhmer, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/88/734288/multi.htm


vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!

Ich bin gern hierher gekommen, nicht nur, weil ich es versprochen habe, sondern auch, weil dieses Projekt hier eines jener Leuchtturmprojekte ist, von dem so oft die Rede ist, das so oft gefordert wird und das hier - unter Außerachtlassung aller Schwierigkeiten und allen Kleinmuts - wirklich gewagt und geschaffen worden ist. Ich halte das schon für einen Grund zum Feiern, aber auch für einen Grund, darüber nachzudenken, warum das denn so ist.

Zunächst brauchte es Investoren, die sich gesagt haben: "Es lohnt sich, in diesem Land zu investieren" und die gewusst haben, warum es sich lohnt. Zum Beispiel deshalb, weil man hier eine qualifizierte Mitarbeiterschaft hat, die übrigens keineswegs nur aus jungen Leuten besteht. Die Belegschaft ist hier sehr ausgewogen zusammengesetzt. Ältere und erfahrene Leute haben ebenso eine Chance erhalten wie jüngere. Das ist nicht überall so, wird aber immer wichtiger, weil wir uns das Herausdrängen älterer und erfahrener Kolleginnen und Kollegen nicht leisten können, betriebswirtschaftlich nicht und erst recht volkswirtschaftlich nicht. Deswegen freut es mich, dass in diesem Unternehmen ein anderes Beispiel gesetzt worden ist.

In dem Unternehmen wird Ausbildung betrieben, weil das Unternehmen weiß, dass das, was man auf lange Zukunft geplant hat, auf lange Zukunft auch qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter braucht. Wenn man diese nicht selbst ausbildet, dann bekommt man sie nicht oder man muss sie sehr teuer einkaufen. Insofern glaube ich, dass die Anstrengungen zur Ausbildung in diesem Unternehmen richtig sind, nicht nur für diejenigen, die es betrifft und die damit als junge Leute eine Perspektive bekommen, sondern auch für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens selbst; denn einer unserer großen Standortvorteile ist eine außerordentlich gut qualifizierte Mitarbeiterschaft, die in der Welt ihresgleichen sucht. Diesen Vorteil zu erhalten, ist die gemeinsame Aufgabe von Politik und Wirtschaft.

Ich möchte mein Kompliment aussprechen an die Landesbehörden, an die lokalen Behörden, auch an die beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes. Man hat hier Entscheidungen, die notwendig waren, in erstaunlich kurzer Frist getroffen. Es zeigt sich hier: Die Zusammenfassung der unterschiedlichen Genehmigungen und schnelle Entscheidungen sind möglich, wenn alle an einem Strang ziehen. Das ist hier der Fall gewesen. Dass als Generalunternehmer ein außerordentlich erfahrenes Unternehmen beauftragt worden ist, ist ein weiterer Aspekt.

Ich kann nur unterstreichen, was Sie, Mr. Lee, über die Möglichkeiten der Zellstoffindustrie in Deutschland gesagt haben. Sie sind als Renaissance zu begreifen, wie Herr Ridder es formuliert hat. Wenn man sich mit der Materie beschäftigt, dann weiß man, dass es noch einen anderen Grund für diese Investition hier gibt, nämlich die Versorgung mit nachwachsenden Rohstoffen. Darüber hinaus geht es um eine Wertschöpfungskette. Diese Kette besteht aus dem Rohstoff Holz, der hier verarbeitet wird. Wenn es gelingt aus dem Zellstoff ein qualifiziertes Produkt, zum Beispiel Papier, und zwar hier am Ort zu machen, dann zeigt das, dass man eine Wertschöpfungskette schließen kann. Genau das ist es ja, was mit Clusterbildung gemeint ist: Wie schaffen wir es, um eine große Investition herum eine funktionierende Wirtschaftsstruktur aufzubauen? Das ist die Aufgabe, die wir haben. Ich stimme dem Ministerpräsidenten völlig zu, wenn er sagt, auch das müsse man mit der ersten, großen Investition zu schaffen bereit sein; denn vielen Menschen, die in der Region hier leben, nützt es wenig, wenn Cluster in anderen Regionen aufgebaut werden. Sie wollen im näheren Umkreis einer Investition leben und arbeiten. Auch das, so meine ich, sollte man an einem solchen Tag wie heute bedenken: mit dieser Investition ist die Chance eröffnet worden, über die Ansiedlung vieler kleiner und mittlerer Unternehmen weitere Beschäftigung zu ermöglichen.

Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe im Osten des Landes anschauen, dann stellen wir fest, dass wir Probleme haben mit den Überkapazitäten in der Bauwirtschaft, die im Boom der Einheit entstanden sind. Aber es gibt im verarbeitenden Gewerbe ein Wachstum, das im Osten des Landes dreimal so groß ist wie im Westen unseres Landes. Das heißt nicht - das will ich damit auch nicht gesagt haben - , dass man sich darauf ausruhen darf; aber es zeigt, dass der Weg der Erneuerung der industriellen Basis in den neuen Ländern sicher ein langwieriger und gelegentlich auch von Rückschlägen begleiteter, aber alternativloser Weg ist. Und es ist ein Weg, der, wie diese Investition hier zeigt, auch Erfolg hat. Vor diesem Hintergrund haben wir Anlass, denen dankbar zu sein, die dieses Werk hier initiiert haben und die hier investiert haben, denen, die es aufgebaut haben, mehr noch denen, die es ans Laufen gebracht haben und die mit ihrer Hände, ihrer Köpfe Arbeit dafür sorgen, dass in dieser Region eine gute Perspektive geschaffen wird.

Mr. Lee hat betont, dass man in Deutschland investieren könne und solle. Damit hat er Recht. Das hat mit drei Dingen zu tun. Erstens mit der Qualifikation der deutschen Arbeitnehmer. Zweitens mit einer Infrastruktur, die in der Welt ihresgleichen sucht. Und drittens mit einem Prozess, der den ausländischen Investoren deutlich macht, dass unser Land bereit ist, sich zu verändern. Wir sind eine Gesellschaft, in der zwei Herausforderungen bestehen, die wir miteinander angehen müssen. Die eine Herausforderung hat mit der Globalisierung zu tun. Die Tatsache, dass ein global tätiges Unternehmen wie Mercer in Stendal investiert, ist nur darauf zurückzuführen, dass die entscheidenden Investitionsbedingungen stimmen. Globalisierung ist in erster Linie stärker gewordener Wettbewerb, und zwar nicht nur der Unternehmen, sondern auch der Volkswirtschaften. Deutschland ist im Wettbewerb um Investitionen mit anderen Ländern. Die zweite Herausforderung hat zu tun mit dem veränderten Altersaufbau unserer Gesellschaft. Wir haben eine älter werdende Gesellschaft und leider eine zu geringe Geburtenrate. Dass dies Druck auf die sozialen Sicherungssysteme ausübt, kann niemand ernsthaft bestreiten. Das ist der Grund, weshalb wir die Systeme verändern müssen und zwar so, dass wir den Menschen auch in Zukunft Wohlstand und ein hinlängliches, bezahlbares Maß an sozialer Sicherheit bieten können. Darum geht es in der aktuellen Debatte in diesem Lande.

Dass das funktioniert, zeigen die guten Einschätzungen, die die Investitionsbedingungen in Deutschland international inzwischen erhalten. Als Folge dieser guten Einschätzungen kommt es zu Investitionen ausländischen Kapitals in Deutschland. Das wollen wir erhalten, in Sachsen-Anhalt und anderswo, und das wollen wir unterstützen. Soweit es der Bundesregierung erlaubt ist, zu helfen, wird sie das mit Sicherheit gerne tun, der Menschen an diesem Ort wegen, aber auch wegen der Notwendigkeit, gemeinsam etwas für unser Land zu schaffen. In diesem Sinne: Alles erdenklich Gute für das neue Werk und sehr viel Erfolg für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.