Redner(in): Christina Weiss
Datum: 23.10.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss würdigt den Preisträger des Georg-Büchner-Preises 2004, Wilhelm Genazino, anlässlich der Preisverleihung im Hessischen Staatstheater in Darmstadt am 23. Oktober 2004.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/33/735233/multi.htm


vor ein paar Tagen fragte mich eine Illustrierte, was ich mit dem Begriff Heimat verbinden würde. Eine Frage, die gern gestellt wird, um romantisch einfache Antworten zu bekommen: das Haus am Hang hier, der wabernde Nebel über den Feldern dort.

Aber nach einer Antwort aus dem Vokabelheft des deutschen Volksliedes war mir nicht, ich dachte an meine Geburtsstadt im französisch besetzten Saargebiet, an die wunderbare Markthalle von Metz, in die wir jeden Samstag zum Einkaufen fuhren.

Und doch ist Heimat für mich keine Adresse, von der man Postkarten schicken kann. Denn zu Hause fühle ich mich in den Tiefen und in den Höhen der deutschen Sprache, und als Wanderführer sind mir die Wörterbücher am liebsten. Heimat ist also, wo das Wort etwas gilt, wo es frei sein kann und nicht vorgeschrieben wird.

Diese Akademie ist ein Ort, in der unsere Sprache ihre Heimat hat. Wenn irgendein Name in der Welt für deutsche Sprache und deutsche Literatur steht, dann der Name Goethes.

Nicht in seinem Namen, aber an einem für die Deutschen symbolischen Datum, am 28. August 1949, wurde die Darmstädter Akademie gegründet.

Sie gab einem unbehausten, am Boden liegenden Land moralische Kraft und wurde zu einem Symbol des geistigen Wiederaufbaus. Sie ist bemerkenswerter Weise die einzige klassen-lose Akademie in Deutschland und sie ist die einzige nicht-staatliche in freier Trägerschaft, die von Stadt, Land und Bund lediglich finanzielle Zuwendungen erhält.

Während bei derartigen Finanzierungsmodellen sonst die Kommunen meist das schwächste Glied in der Kette sind, hat Darmstadt sich immer in hohem und vorbildlichem Maße mit "seiner" Akademie identifiziert und die Akademie immer als eine Zierde, ein Herzstück der traditions- und vor allem auch kulturreichen Residenzstadt gesehen.

Die Akademie hat über 55 Jahre, wie Akademien das zu tun pflegen, wesentlich über ihre Preise gewirkt. Aber sie ist eine lebendige Akademie, in der heftig, leidenschaftlich und'con amore'gestritten wird. Zum Beispiel über die'rechte Schreibung'.

Der erbitterte Streit um die äußere Form der Sprache hat aber fast vergessen lassen, dass die Beherrschung der rechten Schreibung - nach welchen Regeln auch immer - nur wenig aussagt über die Beherrschung der Sprache selbst. Wenn das Akademiemitglied Peter von Matt mit Recht darauf verweist, das ein "wohl bekannter Dieb" etwas anderes sei als ein "wohlbekannter Dieb", dann wird man angesichts der allgemein um sich greifenden Schludrigkeit im Umgang mit der Sprache davon ausgehen müssen, dass viele Sprecher die Differenzen der Bedeutungen nicht mehr erfassen oder benennen können.

Das ist Ihnen nicht neu, denn schon vor zehn Jahren hat sich die Akademie mit der "täglichen Sprachschändung" beschäftigt.

Die um sich greifende Unfähigkeit einer Differenzierung der Bedeutungen der Worte aber halte ich für problematischer als die Unsicherheiten bei deren richtiger Schreibung, die zu verringern eine Phalanx von Wissenschaftlern und Politikern vor Jahren angetreten war.

Denn Worte haben einen Wert, eine Färbung, einen Klang und ein Aroma. Fehler der Schreibung sagen nicht viel über die mentale Verfassung der Schreibenden; der schleichende Verlust des Reichtums ihrer Ausdrucksmöglichkeiten ist jedoch ein Spiegel der Sprachkultur.

Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei der Literatur, jenem Gebrauch unserer Sprache, der die Valenzen der Worte bis in die Tiefen ihrer Herkunft und bis in die Höhen ihrer inneren Möglichkeiten auslotet. Damit bin ich auch beim diesjährigen Träger des Büchner-Preises.

Ich begrüße Sie, lieber Wilhelm Genazino besonders herzlich, und freue mich über die Fügung, dass ich Klaus Reichert meine Teilnahme an der Preisverleihung zugesagt hatte noch bevor der Preisträger benannt war. Ich habe mich von Herzen gefreut, als ich hörte, dass Sie der diesjährige Preisträger sind.

Sie bilden Ihre Sätze aus einem ganz und gar unspektakulären Vokabular. Wie Sie aber dieses Vokabular anordnen, mit welchem Sinn für die Reichweite der Worte und der Spannung zwischen ihnen, das vermag nicht nur mich zu begeistern. Ich begann ", schreiben Sie in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman," jeden weiteren Satz bevor ich ihn niederschrieb, danach zu befragen, ob er schön war oder nur aufrichtig, oder vielleicht nur schön, aber nicht aufrichtig; oder intelligent, dafür aber traurig; oder vielleicht schön und traurig, aber leider nicht wahr; oder nur wahr, aber nicht schön."

Die Helden Ihrer Romane, ja es sind welche, sie tun eigentlich fast nichts oder vor allem das eine: sie beobachten. Dies aber mit einer Präzision, Schärfe und Gründlichkeit, welche die Welt des Alltags, die Welt der Wurstverkäufer, Büroangestellten und verhärmten Kellnerinnen als eine seltsam fremde erscheinen lässt. Was Ihre Ich-Erzähler bemerken, sind die Missgeschicke, die Missgeschicke derer, die sie beobachten.

Der Preis Ihrer Protagonisten freilich, die vor allem Beobachter sind und einer großen Familie anzugehören scheinen, ist hoch: sie gehören nicht dazu, sie stehen und schauen von Außen auf das Getümmel um sie herum. Gerade diese Außenperspektive aber schärft und belebt ihre Wahrnehmung. Wir fahren durch die Städte, sehen die Fenster aufleuchten, die Bars erstrahlen, die Paare schlängeln sich im Tanz, und in einem der Häuser wohnt nach hinten einer dieser Flüchtigen und schlägt die Welt wie einen Mantel um sein Herz, um es zu stillen..."

Das sagt nicht Abschaffel, auch nicht der Schuheinläufer oder der Speditionsangestellte, der nebenbei in einer Zeitungsredaktion arbeitet. Das sagte 1951 der erste Träger des Büchner-Preises, Gottfried Benn, hier in Darmstadt.

Da ist es alles andere als ein Zufall, dass Ihr vorletzter Roman mit dem Satz beginnt: "Mit siebzehn trudelte ich ohne besondere Absicht in ein Doppelleben hinein."

Wenn wir also von der Lesbarkeit der Welt sprechen, die eben kein Text ist, müssen wir über Alexander von Humboldt reden. Seine "An-Sichten der Natur", das heißt seine Beobachtungen, die er unter widrigsten äußeren Umständen Tag für Tag und Nacht für Nacht niedergeschrieben hat, sind wie die Beobachtungen Genazinos in eine Sprache gefasst, die heute den Naturwissenschaften weitgehend verloren ist.

Gerade diese Sprache aber hilft ihm und seinen Lesern, diese Welt und was sie im Innersten zusammenhält zu begreifen.

Etwas an Humboldt, schreibt der diesjährige Preisträger des Freud-Preises, bleibt paradigmatisch, und darin, meine ich, ist Humboldt ein Verwandter des Büchnerpreisträgers: "Die Weite des Horizontes, die Bereitschaft, hinauszugehen und sich selber ein Bild zu machen von Dingen, von denen es noch kein Bild gibt."

Lieber Wilhelm Genazino, lassen Sie mich kurz noch einen Gedanken aufgreifen, der mir bezeichnend erscheint und mir persönlich wichtig ist."Verwandelt der, der schreibt", fragt der Ich-Erzähler in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman,"nicht die Unübersichtlichkeit des Lebens, das heißt seinen Schmerz, in die Unübersichtlichkeit eines Textes?". Die Illusion der Klarheit kommt zu Stande ", antwortet Linda," weil der Text immer deutlicher ist als das Leben dessen, der ihn geschrieben hat. Der Text ist sogar klarer als das Leben jedes beliebigen Lesers. Darin liegt die fürchterliche Verlockung der Literatur. Das Leben soll endlich dem Text folgen, es soll sich in Klarheit verwandeln." Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Vielen Dank!