Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 28.10.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich der Deutsch-Russischen Investitionskonferenz am 28. Oktober 2004 in Stuttgart.
Anrede: Verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Mangold, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/93/736393/multi.htm


Was könnte die wirklich hervorragenden Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern besser unterstreichen als die Anwesenheit des russischen Ministerpräsidenten auf einer Konferenz von deutschen Mittelständlern? Dies zeigt, dass die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland gegenwärtig so gut sind wie nie zuvor in unserer gemeinsamen Geschichte. Es ist wirklich eine Erfolgsstory, die in den vergangenen Jahren geschrieben worden ist. Wir sollten alles daran setzen, diese Erfolgsstory fortzusetzen - zum Nutzen und Wohle beider Völker. Diese ausgezeichneten Beziehungen haben damit zu tun, dass wir spüren, wie sehr wir in einer globalisierten Welt aufeinander angewiesen sind. Unsere beiden Länder erleben eine Zeit großer historischer Veränderungen, aber auch Veränderungen, die große Möglichkeiten enthalten für eine wirklich strategische Beziehung zwischen Russland und Deutschland. Wenn man jemanden vor 50 oder auch vor 10 Jahren gefragt hätte, ob das möglich sein würde, dann hätte man gesagt: Wohl kaum. - Man hätte sich vor Augen geführt, dass noch vor 60 Jahren deutsche Soldaten in einem vom nationalsozialistischen Deutschland verbrochenen Krieg in Russland standen. 60 Jahre später können wir Beziehungen in einem Maße knüpfen - und zwar nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern auch auf politischem und kulturellem - , wie sie einmalig in unserer beider Geschichte sind. Genauso klar muss man sich immer wieder machen, dass es gerade 15 Jahre her ist, dass wir unsere Einheit wiedererlangt haben, dass die deutsche Teilung, die auch die Spaltung Europas bedeutete, aufgehoben wurde. Ich denke, all dies zeigt, dass wir heute zu Recht davon sprechen, den Beginn einer neuen wichtigen Partnerschaft zwischen unseren beiden Ländern zu erleben. Ich jedenfalls bin fest davon überzeugt und lasse mich auch nicht davon abbringen, dass dauerhaft Frieden und wirtschaftliches Wohlergehen - und damit Wohlergehen für die Menschen in Europa - nur durch eine enge Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Russland zu sichern sind. Das ist jedenfalls der politische Hintergrund meiner Bemühungen. Wir haben die Chance, die Verantwortung für künftige Generationen wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass dieses Europa durch diese Partnerschaft, aber natürlich auch durch die europäische Integration, ein Kontinent wird, der dauerhaft Wohlstand und Frieden für seine Menschen sichern kann. Wir haben darüber hinaus die Verpflichtung, in internationalen Fragen so eng wie möglich zu arbeiten, um Frieden sicherer zu machen und, wo es Konflikte gibt oder gegeben hat, auf friedliche Lösungen zu drängen. Wir sollten auch deutlich machen, dass wir Deutschen verstehen, dass das, was in Beslan geschehen ist, blutigster Terror ist und es dafür keinerlei wie auch immer geartete Rechtfertigung geben kann. Wir alle wünschen natürlich, dass es eine politische Lösung der dahinter stehenden Konflikte gibt. Ich jedenfalls verstehe den russischen Präsidenten, wenn er mir in vielen Gesprächen über diese Themen sagt: Mit denen, die in dieser grausamen Weise Kinder ermorden, um ihr politisches Geschäft zu machen, kann ich nicht reden. Ich habe dafür wirklich Verständnis. Ich denke, bei all dem, was wir miteinander - gelegentlich auch kritisch - auszumachen haben, muss das für jeden von uns gelten. Deutsche und Russen arbeiten eng zusammen beim Aufbau einer umfassenden Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union. Wir tun das zusammen mit unseren Freunden in der Europäischen Union. Seit dem gemeinsamen EU-Russland-Gipfel in St. Petersburg im vergangenen Jahr sind wir wirklich vorangekommen. Sie, Herr Ministerpräsident, haben einen nicht unerheblichen Beitrag in Ihrem jetzigen, aber auch in Ihrem früheren Amt dazu geleistet. Ich möchte drei besonders wichtige Punkte hervorheben: Erstens. Die Europäische Union hat sich mit Russland über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation geeinigt. Denn natürlich gehört Russland in die Welthandelsorganisation. Das ist ein ganz bedeutsamer Schritt. Zweitens. Wir haben eine gemeinsame Erklärung zur Erweiterung der Europäischen Union verabschiedet. Das ist aus russischer Sicht keine Selbstverständlichkeit, sondern ein politischer Erfolg, den wir gemeinsam erarbeitet haben. Drittens - das muss ich mit großem Respekt sagen - hat am vergangenen Freitag die Staatsduma das Kyoto-Protokoll ratifiziert und damit den Weg frei gemacht zur Bekämpfung der Klimakatastrophe, die drohen würde, wenn wir nicht Maßnahmen ergriffen. Man kann ja sagen, man sei damit nicht zufrieden und das ginge alles nicht weit genug. Aber man sollte auch sagen, dass das erste wichtige Schritte sind und dass zum Beispiel das Kyoto-Protokoll angesichts der Weigerung anderer nicht hätte in Kraft treten können, wenn nicht Russland seine Verantwortung wahrgenommen hätte. Das sollte man anerkennen und es auch aussprechen, damit es öffentlich deutlich wird. Die Einigung in diesem Bereich ist eine ganz wichtige Grundlage, die natürlich auch dazu dient, die Beziehungen weiter in die richtige Richtung zu bringen. Meine Damen und Herren, ich möchte auf drei weitere Punkte eingehen, die in unserem Verhältnis zu Russland besonders wichtig sind. Erstens. Russland befindet sich in einem historisch einzigartigen Transformationsprozess. Es geht in der augenblicklichen Situation um die Rekonstruktion von Staatlichkeit, damit Staat seine Bürger schützen kann, aber auch Schutz für Investoren, inländische wie ausländische, bieten kann und Schutz nicht anderweitig besorgt werden muss. Das ist die Funktion eines Staates, dafür zu sorgen, dass es diese Form von Sicherheit gibt. Der Prozess, ein Land mit rund 150 Millionen Menschen - ein Land in dieser Größenordnung und in dieser geographischen Dimension - in eine Marktwirtschaft zu führen, ist in der Geschichte ohne jegliches Beispiel. Vielleicht ist das ein Grund, nicht immer nur die absoluten Maßstäbe anzulegen, sondern auch relativen Fortschritt zu erkennen und zu würdigen. Dass dieser Transformationsprozess nicht ohne Schwierigkeiten zu bewerkstelligen ist, liegt auf der Hand. Über die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, wird auch geredet. Aber man muss das nicht immer zum Fenster herausrufen, sondern man kann es schon in Deutlichkeit, aber vor allem in Freundschaft und im Verständnis für den Umfang der Probleme tun. Die entschiedene Reformpolitik des Präsidenten Putin hat zu Erfolgen geführt, die spürbar sind, und zwar in unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber auch in dem, was sich in Russland selber vollzieht. Weite Bereiche der Wirtschaftspolitik wurden grundlegend reformiert. Diese Reformen haben Russland auf einen wirklich soliden Wachstumskurs geführt, von dem übrigens unser Handeln mit Russland ebenso profitiert wie der reine Export. Wir haben im ersten Halbjahr 2004 im Export von Deutschland nach Russland einen Zuwachs von 25 % im Vergleich zum Vorjahr erzielt. Der bilaterale Handel insgesamt ist im ersten Halbjahr 2004 um 16 % gestiegen. Die Größenordnungen in absoluten Zahlen sind noch nicht so, wie wir sie uns wünschen, aber sie zeigen eine Dynamik, die man nicht hoch genug einschätzen kann. Es geht jetzt darum, dass der Staat seine Schutzfunktion gegenüber Investoren und den Bürgern besser erfüllen kann, und es geht darum, zivilgesellschaftliche Strukturen zu entwickeln, wie wir sie haben, aber - wenn wir gelegentlich selbstkritisch mit uns umgehen - auch nicht immer hatten. Das muss man vielleicht auch in Kenntnis der eigenen Geschichte sagen. Damit soll gar nichts entschuldigt, aber doch Einiges erklärt werden. Wir werden Russland ein verlässlicher Partner in diesem Prozess sein. Darauf kann man sich verlassen, und darauf verlässt man sich auch in diesem so wichtigen Land. Wir werden im Übrigen, um die sich herausbildenden zivilgesellschaftlichen Strukturen zu unterstützen, den deutsch-russischen Jugend- und Schüleraustausch ausbauen. Das werden wir bei den Konsultationen, die jetzt im Dezember stattfinden, deutlich werden lassen. Eine besondere Bedeutung kommt auch der Qualifikation von Menschen zu, also der Zusammenarbeit in Bildung und Qualifizierungsbereichen, nicht nur, aber auch in der Wirtschaft. Wir unterstützen deshalb das so genannte Präsidentenprogramm. Im Rahmen dieses Programms haben inzwischen mehr als 2.000 junge russische Führungskräfte eine praxisorientierte Fortbildung in deutschen Unternehmen erfahren. Ich erwähne das, weil ich das wirklich für zentral halte, was die Chancen der Zusammenarbeit angeht. Es liegt doch auf der Hand, dass diejenigen, die hier Teile von Ausbildung erfahren und Positives erlebt haben, sich daran erinnern, wenn sie im eigenen Land Führungspositionen erhalten oder weiter bekleiden. Deswegen gibt es für uns ein großes Interesse daran, dieses Programm zu unterstützen. Wir wollen zudem die Zusammenarbeit in den Bereichen Ausbildung und Fortbildung der nachwachsenden russischen Eliten in einer strategischen Perspektive ausbauen. Es gibt Vorschläge dazu, die, wie ich hoffe, bis zu den Konsultationen geklärt sind. Ich finde im Übrigen, dass es nicht zuletzt Sache der Wirtschaft ist, Plätze dafür zur Verfügung zu stellen. Das sind Investitionen, die mit Zukunft zu tun haben, nicht nur mit der Zukunft der Volkswirtschaft, sondern auch mit der Zukunft der Betriebe. Denn so weit Sie exportorientiert sind und in den Markt dort wollen, ist es allemal lohnend, in Qualifizierung, Bildung und Entwicklung von Menschen zu investieren. Dies wird sicher hilfreich sein beim Anknüpfen und Weiterführen von geschäftlichen Beziehungen. Zweitens. Wir wollen die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern ausbauen. Dabei kommt natürlich dem Energiesektor eine besondere Bedeutung zu. Wir erhalten zurzeit 30 % unseres Öls und unseres Gases aus Russland. Was Gas angeht, so werden es in dieser Dekade wahrscheinlich 40 % sein. Die Ölsituation ist schwer überschaubar. Ich rede jetzt nicht nur über Preise, sondern auch über Versorgungssicherheit. Wir haben ein Interesse an einer diversifizierten Versorgung mit Energie. Dass neben dem europäischen Land Norwegen Russland dabei eine herausragende Bedeutung hat, liegt auf der Hand. Aber ich will hinzufügen: Diesen Bereich "Zusammenarbeit im Energiesektor" muss man im Auge behalten. Russland hat sich - das gilt es zu unterstreichen - in dieser Zusammenarbeit als außerordentlich verlässlicher und verantwortungsbewusster Partner erwiesen. Auch das wird gelegentlich übersehen. Schwankungen, Nervositäten, wie wir sie aus anderen Lieferregionen kennen, hat es hier nie gegeben. Wir haben angesichts der Bedeutung, die Energieversorgung für unser Land hat, allen Anlass, auch diesen Aspekt nicht für unwichtig zu erklären. Ich denke, diese Zusammenarbeit wird zu einer Kooperation nicht nur im Kaufen werden, sondern es sollte eine Kooperation werden bei der Förderung und Erzeugung unterschiedlichster Energiearten, bei der Verarbeitung, aber auch beim Transport und der Verteilung von Energie. Wir wollen diese umfassende Zusammenarbeit. Man sollte auf beiden Seiten bei den Betreffenden, um die es dabei geht - es geht ja um Unternehmen - , die Bedeutung dieses Aspektes erkennen. Auch dort müsste eine Dynamik einkehren, wie wir sie uns wünschen. Wir sind aber diejenigen, die stolz darauf sein können, in der Zusammenarbeit mit anderen - in dem Maße, wie es uns möglich ist - nicht nur in Märkten präsent sein zu wollen, sondern auch fair zu beiderseitigem Nutzen zusammenzuarbeiten. Das bedeutet, dass wir uns mehr als in der Vergangenheit um die Frage kümmern müssen: Reicht die engste Kooperation im Energiesektor oder brauchen wir nicht auch ein Mehr in anderen Bereichen, etwa bei den Ausrüstungsinvestitionen, aber auch im Konsumbereich? Wenn dann irgendwelche Leute schreiben "Das kostet Arbeitsplätze in Deutschland", dann kann ich nur sagen: Liebe Leute, wohin denkt Ihr eigentlich? - Wenn jemand Marktanteile in Russland hat, dann hilft das, Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern, weil es der Finanzkraft des Unternehmen hilft. Diese Diskussion sollten wir ein wenig angstfreier und mehr rationaler führen. Gerade mittelständische Unternehmen wie in Baden-Württemberg, z. B. im Maschinen- und im Werkzeugmaschinenbau - wissen doch, dass ihre Präsenz weltweit nötig ist, um aus Deutschland die besten Produkte in die Märkte liefern zu können. Jeder Erfolg und jede Investition im Ausland trägt dazu bei, Forschung und Entwicklung in erheblichem Maße hier in Deutschland zu halten und die anspruchsvollsten Produkte in diesem Land zu fertigen. Ich finde, diesen Zusammenhang immer wieder zu erklären, das gehört auch zu der Aufgabe, die verantwortungsbewusste Kommunikation hat. Wir haben mit Russland zusammen ein Interesse daran, dass die Zusammenarbeit auch in anderen Sektoren so eng wie auf dem Energiesektor wird. Dabei spielt insbesondere eine Rolle, dass man auch dort begriffen hat, dass die krisenfestesten Wirtschaften diejenigen sind, die eine mittelständische Struktur haben. Sie leben von kleinen und mittleren Unternehmen, von deren Innovationskraft, Beweglichkeit und auch Ausbildungsbereitschaft. Deswegen sind Konferenzen wie diese so wichtig, weil sie deutlich machen, dass wir nicht nur verkaufen wollen, dass wir nicht nur in Märkten präsent sein wollen, sondern auch Erfahrungen für andere zur Verfügung stellen wollen, weil es beiden Seiten nutzt. Ich glaube wirklich, dass es die Stärke der deutschen Wirtschaft ist, dass sie in diesem Sinne "win-win" -Situationen herstellen will, dass sie in diesem Sinne dem eigenen Nutzen und dem Nutzen des eigenen Landes dienen will. Aber sie hat auch erkannt, dass man das nur kann, wenn man den Partnern fair gegenüber tritt. Das wollen wir auch und gerade im Verhältnis zu Russland tun, und deswegen sind Veranstaltungen wie diese so wertvoll.