Redner(in): Christina Weiss
Datum: 13.11.2004

Untertitel: Am 13. November 2004 hielt Kulturstaatsministerin Weiss die "Schiller-Rede 2004" am Schiller-Archiv in Marbach.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/56/744356/multi.htm


Und izt da mein Gefolge zurück - da lag die Stadt wie Gomorrha und Sodom, der ganze Horizont war Feuer, Schwefel und Rauch, vierzig Gebürge brüllten den infernalischen Schwank in die Rund herum nach, ein panischer Schreck schmeißt alle zu Boden - izt nutz ich den Zeitpunkt, und risch, wie der Wind! - ich war losgebunden, so nah wars dabei - da meine Begleiter versteinert wie Lots Weib zurückschaun, Reißaus! zerrissen die Haufen! davon! "Wären Sie darauf gekommen, dass dieser Passus, den Sie kennen und doch nicht kennen, von Schiller stammt? Hätten Sie nicht gedacht, Kleist zu hören? Es ist aber nicht Kleist in der Penthesilea, sondern Schiller in den Räubern. Wie viel Ähnlichkeit eines unterirdisch unheimlichen Sprachgebrauchs auch zwischen Hölderlin und Schiller. Nehmen Sie einmal die Hölderlinschen" abers "weg, der Vers fällt in sich zusammen, und nehmen Sie die Schillerschen antithetischen Formulierungen weg, dann wird Ihnen klar, dass es keine rhetorischen Antithesen sind, sondern dass die Sprengkraft des Antithetischen in den Verhältnissen selbst steckt. Ich will Ihnen keine Schillervorlesung halten, da gibt es Berufenere, sondern Sie neugierig darauf machen, wie viel Schiller der deutschen Sprache gegeben hat, was aus ihr gar nicht mehr wegzudenken ist. Ich möchte speziell auf das Aufregende an Schiller aufmerksam machen, auf den Atem der Freiheit, wie ein Spiegel-Heft titelte, auf die feurige Seele, wie der Autor Volker Hage es benannte. Der große Unterschied zu heute besteht darin, dass Schiller das knabenhafte Pathos ins Jünglingshafte überführte, während wir heute, in dem Augenblick, wo die Jünglingszeit absolviert ist, wieder ins Knäbische zurückfallen. Die Uraufführung der Räuber am 13. Januar 1782 in Mannheim ist nicht ein pures Kulturereignis für die Oberschicht wie die Uraufführung des Rosenkavalier in Dresden, wo man mit Sonderzügen hinfuhr, um an einem musikalischen Ereignis teilzunehmen, von dem kein Mensch dachte, dass es, anders als die italienische Oper des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich irgendetwas bewegen könnte. Dagegen war die Fahrt zu den Räubern eine Wallfahrt für alle, die nicht an einem ästhetischen Ereignis, sondern an seiner politischen Umsetzung teilnehmen wollten. Die Räuber bedurften nicht mehr der Opernfassung, sie waren schon Oper. Ihre Entsetzen erregenden Monologe auf offener Bühne waren ein Schlag ins Gesicht der Gesellschaft ihrer Zeit, wie ihn so in Deutschland erst wieder Gerhart Hauptmann mit den Webern geführt hat. Es war ein toller Ausbruch der Revolution auf der Bühne. Leider folgte, nicht auf dem Fuße, aber doch in nicht allzu ferner Zeit diesem Schlag in die öffentliche Selbstwahrnehmung dessen Zurichtung für die nationale Kulturpflege, und aus den den Räubern wurde ein ursprungsmythisches Krawalldrama für die Nationenverehrung. Klassiker heute, Fragezeichen, Ausrufezeichen. Eigentlich müsste ich dieser Überschrift einen Untertitel nachschicken, der sagt, wie ich's mit Schiller halte. Ich will versuchen, das in meinen Überlegungen deutlich zu machen. Noch wird niemand außerhalb von Schillergedenkstätten und Schillergedenktagen Schiller redivivus sagen wollen, aber präsenter ist er, abgesehen von dem einen Goethe, nach wie vor als alle anderen aus jener Zeit. Er ist nicht nur auf den Sprechbühnen präsent, sondern auch auf den Opernbühnen, dank des Opernhaften seiner Anfangswerke. Er ist präsent in der philosophischen Diskussion. Aber allen Philosophiehistorikern ist klar, dass die Transformation des transzendentalen zum ästhetischen Idealismus durch Schiller ausgelöst wurde. Neben der philosophischen Präsenz ist, so seltsam es klingt, auch Schillers Präsenz als Historiker gegeben. Man kann sich ja Golo Manns Wallenstein nicht vorstellen ohne Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs: Manns Buch ist partienweise so geschrieben, als ob er zeigen wollte, dass es noch möglich sei, auch heute noch so großartig wie Schiller zu schreiben. Einen so guten Text wie die Vorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? liest noch heute jeder Historiker und hat etwas von ihm. Dann: was für eine unglaubliche Präsenz als Lyriker - für Hölderlinfreunde vermutlich eher ein Graus! Es gibt keinen deutschen Dichter, Goethe eingeschlossen, von dem so viele Wendungen im Sprachgebrauch auch des so genannten einfachen Volkes existieren, das seine Werke gar nicht kennt." Er zählt die Häupter seiner Lieben und sieh, es warn statt sechse sieben..."Das stammt nun schon aus dem Zitatenschatz der Schillerparodien, die ja in ihrer Fülle auch Zeugnis von seinem Rang und seiner Popularität ablegen. Ob nun aber bewundert viel oder viel gescholten - Schiller gehört mit Wilhelm Busch noch immer zu den meistzitierten deutschen Dichtern. Dieser populäre Schiller ist nicht totzukriegen, die szenische Aufladung, die Prägnanz der Balladen, die immer haarscharf an der unfreiwilligen Komik entlangsegeln, haben etwas Irres. Genie und Komik liegen nicht immer, wohl aber bei Schiller nah beieinander. Das Lachen gehört unmittelbar zur Sache. Immer war die balladeske Form ein Risiko und was für eins! Er hat sie auf seine Stücke übertragen, und sie schlägt sogar in seiner Geschichtserzählung, der Geschichte des Abfalls der Niederlande noch durch. Die Braut von Messina wird nun wirklich niemand mehr lesen wollen, aber gleich die erste Zeile ist aus dem Sprachgedächtnis nicht hinauszuwerfen:" Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe "! Es ist zweifellos das Stück, mit dem er sich am weitesten von seinen Räubern entfernt hat, obwohl er der Palette seiner theatralisch schrillen ödipalen Kollisionen in solchem Maße treu geblieben ist, dass selbst der große Formunterschied zwischen seinem Erstling und diesem klassizistisch artifiziellen Gebilde nicht darüber hinwegtäuschen kann. Derzeit rollt zweifellos eine Schiller-Welle auf uns zu, doch noch vor kurzem hätte man in Essay-Bänden oder Monographien vergeblich nach Auslassungen über Schiller im Ganzen gesucht. Der letzte große und begeisterte Versuch, sich auf den ganzen Schiller einzulassen, stammte von Thomas Mann. Sein Versuch über Schiller, den er zum 150. Todestag" seinem Andenken in Liebe gewidmet "und in Stuttgart und Weimar gehalten hat, ist freilich noch ziemlich der großbürgerlichen Rhetorik des 19. Jahrhunderts verhaftet, wohl auch deshalb, weil Mann es hier ohne Ironie versucht hat. Vielleicht hat er sich eingebildet, mit dieser Rede eine Annäherung der beiden deutschen Staaten zu erreichen." Zu fragen, ob Schiller noch lebt ", äußert Mann sich da," deutet auf Mangel an Selbstbewußtsein; es ist nicht viel anders, als fragten wir, ob wir ein Kulturvolk sind ". Im selben Essay weist Thomas Mann darauf hin, dass der Dichter, auch nachdem er sich von der Französischen Revolution abgewendet habe, die Ideenverbindung von Nation und Freiheit, die ihr entstamme, nicht aufgegeben habe, merkwürdig sei auch, dass er die patriotische Freiheitsbegeisterung dichterisch stets auf andere Völker übertragen habe, auf die Niederlande im Don Carlos, auf die Schweiz im Wilhelm Tell und auf Frankreich in der Jungfrau von Orleans. An dieser, wie sie im Untertitel heißt," romantischen Tragödie ", hat abermals unser Schiller-Fan Thomas Mann ein stilistisches Wunder bestaunt: Schillers Vermögen, wie er sagt," in aller Romantik eine klassische Grundhaltung zu bewahren... die Jungfrau bietet das Phänomen einer klassisch gehaltenen Romantik ". Goethe gefiel das Stück, er hielt es sogar für Schillers schönstes, und das bestätigt das Thomas Mannsche Urteil oder anders gesagt: die Kleist'schen Vorklänge waren da, aber sie entschieden nicht über die Atmosphäre des Ganzen. Schillers große Idee ist die einer Dichtung als moralische Anstalt. Dass Dichtung moralisch zu sein hat, muss nicht so idealistisch sein, wie es in staatserhaltenden Schillerreden klingt. Es geht im Kern um szenisches Denken. Wie Mozart ein hyperfeines Gefühl für Szenen hatte, für die Formen, die die Sozialität und ihre Krisen begründen, so hat Schiller ein unglaubliches dramatisches Gespür. Denken Sie an die Schlüsse! Thomas Mann hat sie, hat eben diese fabelhafte dramatische Kompetenz, bewundert: Dem Mann ( sic ) kann geholfen werden. Er vergab mir! Jetzt euer Gefangener! Kardinal! Ich habe das Meinige getan. / Tun Sie das Ihre! Und eh der Tag sich neigt, muß sich's erklären, / Ob ich den Freund, ob ich den Vater soll entbehren. Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich. Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide. Hinauf - hinauf - die Erde flieht zurück / Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! Das Leben ist der Güter höchstes nicht, / Der Übel größtes aber ist die Schuld. Wohlan! / So reich ich diesem Jüngling meine Rechte, / Die freie Schweizerin dem Freien Mann! / Und frei erklär ich alle meine Knechte. Anders als bei Mozart sind Schillers Frauen sehr unpsychologisch konstruiert. Aber in dieser Zeit hatte eigentlich nur Goethe ein Sensorium für Frauen, Hölderlin hatte keine Ahnung von ihnen, Jean Paul war zu idealisierend. Gerade das, was eine soziale Situation an seelischer Komplexion voraussetzt, interessierte Schiller nicht, eher umgekehrt: dadurch ist er so ein gewaltiger Dramatiker, dass er ein enormes Sensorium hat für die soziale Dynamik und wie sie sich in den rituellen Formen der Gesellschaft und ihrer Krise repräsentieren lässt. Dieses Sensorium gehört genauso in die Krise der feudalen Gesellschaft oder zum Beginn der bürgerlichen Gesellschaft wie die Oper von Mozart. Hat man diese Tendenz erst parallelisiert, dann kann man immer noch sagen, dass Mozart auch deshalb viel leiser ist, weil er nicht diesen moralischen Paukenton hat, aber auch Schiller hat nicht nur die Räuber und Kabale und Liebe geschrieben, sondern auch den Fiesko und den Wallenstein. Man kann eine Stelle wie die aus dem Wilhelm Tell als reichlich befremdlich empfinden, wo der Bergsteiger sich" anleimt mit dem eignen Blut ". Aber wenn wir uns auf Schillers Surrealismus einlassen, sind wir mitten drin in Szenarien von Traumphantasien. Wallensteins Lager oder Die Räuber tun so realistisch, aber dann versteht doch jeder beim ersten Monolog, dass er in eine Traumphantasie hineingezogen wird und merkt schnell, wie traumatisch all diese Traumphantasien sind, merkt wie der Wechsel der Auftritte etwas ganz anderes ist als auf der Shakespearebühne. Dies mag übrigens viel damit zu tun haben, dass die Romantiker, die ja Shakespeare verehrten und übersetzten, Schiller ausgelacht haben. Der Wallenstein ist das unbarmherzig Realistischste, das Schiller auf die Bühne gebracht hat. Im letzten Teil, Wallensteins Tod, ist kein Protagonist sympathisch. Das Verhängnis schreitet auf eine Weise, dass man nicht weiterlesen will, weil es immer nur noch schrecklicher werden kann und dennoch kann man nicht anders als weiterlesen. Diese in ihrer Drastik so realistisch und unbarmherzig gezeigte Machtmechanismen zeigen zugleich etwas, was sonst erst ein Analytiker herausholen müsste, nämlich, dass sich die Protagonisten samt und sonders selbst zerstören. An der Spitze natürlich Wallenstein, der die ganze seelische Vernichtungsmaschine in Gang gesetzt hat. Am Ende hat er alles zerstört, die Liebe, die Ehe, die Freundschaft, das Glück der anderen und das eigene. Das erinnert eine Zeit lang an das allegorische Vanitas-Motiv des Barockdramas, aber am Ende ist dessen manieristischer Zauber mit einem Schlag weg und das nackte Grausen ist der Gegenstand. Der Schluss des Wallenstein macht für uns heute noch besser als der Wilhelm Tell klar, dass Schiller im Nationalsozialismus zum meistverbotenen Klassiker geworden ist, die Subtexte, die unter den Worten ständig mitliefen, waren offenbar so laut, dass sie nicht zu überhören waren. Ich bin keine Schillerexpertin, nur -liebhaberin, und da ich Kulturministerin bin, darf ich nicht ausschließlich dem Lust- und Traumprinzip huldigen. Deshalb möchte ich vorübergehend die Balladen- und Dramen-Szene verlassen. Denn das, was man vor allen anderen von einer Kulturministerin erwartet, die über Schiller reden soll, ist doch wohl ein Wort zu den Schriften, worin er seine republikanische Jugend in eine republikanische Ästhetik rettet, zu allererst ein Wort zur Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Ich will also ein kurzes Stück mit Ihnen den Weg von der republikanischen Politik zur republikanischen Ästhetik gehen. Damit wir unser übergreifendes Thema s » sWarum Klassiker heute?! s « s nicht aus den Augen verlieren, vorab noch ein paar Bemerkungen zum Phänomen des Wortes Klassiker. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts daran gewöhnt, das Wort" Klassiker "häufig im Plural zu hören. Die Klassiker waren Marx, Engels und Lenin. In dem Teil Deutschlands, in dem dieser Pluralgebrauch völlig selbstverständlich war - auch wenn Brecht diesen Ausdruck immer mit Ironie verwendet hat - , studierte man die Schriften der Klassiker und berief sich auf die Klassiker. Zweifellos leitet sich diese Spezialität vom älteren Gebrauch des Wortes Klassiker her, wie er in der wilhelminischen Zeit bis zum Ersten Weltkrieg gang und gäbe war. In diesem Zeitraum gab es eine Übereinkunft, die sechs Klassiker gelten ließ. Sie hießen: Klopstock, Wieland, Lessing, Herder, Goethe, Schiller. Diese sechs Klassiker waren so kanonisch wie die drei Wiener Klassiker, Haydn, Mozart, Beethoven oder - eine spätere Fassung - die drei großen Bs in der Musik, Beethoven, Brahms, Bruckner. Dass allerdings ausgerechnet der frivole und unverhohlen surrealistische Wieland als Klassiker durchgegangen ist, ist eine ironische Pointe der Weltgeschichte und wahrscheinlich nur durch Goethes große Sympathie für Wieland zu erklären. Dieser Klassiker-Sechserpack wurde dann in dem Maße, in dem die Nichtklassiker in den Bildungsfonds eingemeindet wurden - also Kleist, Bürger, sehr spät Hölderlin, Hebbel und Grillparzer - , erweitert. An sich waren die Klassiker zunächst nur die, die das Klassische in die Gegenwart hineintrugen und auf diese Weise die Gegenwart älter und haltbarer, großartiger und schöner machten. Sie waren eine Nationalerfindung, sie waren Nationalstolz und Nationalbewusstsein und Nationenbestand garantierende Säulenheilige. Während man bei uns mit dem Expressionismus aufhörte, von Klassikern zu reden, begann man in der Redeweise der marxistischen Tradition, wieder von Klassikern zu reden. Daran können wir die Fragen anschließen, was für uns heute die Klassiker sind, deren wir uns als unverzichtbare Bundesgenossen vergewissern, nicht als Ahnen, sondern als Bundesgenossen, deren Geleit wir heute noch brauchen, mit denen wir heute noch etwas anfangen können? Eine Reihe von Lesern wird vielleicht sagen: Dazu gehört ein Schiller nun bestimmt nicht mehr. Für andere gehört er unbedingt dazu. Für die zweite Gruppe, der ich mich selbst zurechne, könnte bei dieser ungebrochenen Wertschätzung die Erwägung ausschlaggebend sein, ob Schiller nicht über alle Idealisierung hinaus ein experimenteller Dichter und Schriftsteller ist, und wir nicht bei ihm, der zugleich Realist und Utopist war, die Bündnisqualität finden, die kein Verfallsdatum kennt? Weg von den Ursprungsklassikern hin zu den Bündnisklassikern - der Begriff > Klassik ‹ selbst hat also einen Weg gemacht hin zu einer Klassik, die bewegend und formend in die Gegenwart übertragen wurde. Gerade die Selbstwidersprüche bei Schiller machen aus ihm einen Bundesgenossen noch für die heutige Zeit. Diese Funktion bewahrt ihn und uns davor, Schiller und neben ihm einige andere mit einem rein formalistischen, hohl gewordenen Klassikerbegriff zu belegen und dann in die Vitrine der Abgelebten und Abgelegten zu verbannen. Nun zur ästhetischen Erziehung. Erziehung überhaupt war ein Thema, das die Aufklärung zutiefst beschäftigte. Aus einem ganz engen Rahmen, in dem diese Diskussion zunächst geführt wurde, entstand eine riesige geschichtsphilosophische Debatte. Was den engen Rahmen betrifft, so hat Ludwig Fertig dazu eine spannende Dokumentensammlung unter dem Titel Bildungsgang und Lebensplan, Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900 herausgegeben. Der Brief war - fast möchte man sagen das Kommunikationsmedium im 18. Jahrhundert. Die Briefe, die Schiller an seinen Gönner, den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg schrieb, sind nun zweifellos keine praktische pädagogische Anleitung, sondern ein kunstphilosophischer Traktat und eine persönliche Wunschphilosophie. Deshalb urteilt Ludwig Fertig zurecht:" Kaum je ist die Differenz zwischen der Miserabilität der Zeit und dem Verlangen nach Überhebung über sie durch Bildung so bündig ausgedrückt worden wie in Schillers Thesen über ästhetische Erziehung."In diesen Briefen entwickelt Schiller eine Spieltheorie, die das Spiel als Wahrheitsoffenbarung einsetzt und dem Subjekt erlaubt, zu einem Lebensplan zu gelangen, der nicht durch Blut und Tränen herbeigeführt ist. Diese Spieltheorie ist sehr nah dran an der modernen Psychoanalyse. Herbert Marcuse nimmt Schiller zum Bundesgenossen bei seinem Versuch, in den 70er-Jahren eine Gesellschaftstheorie kindlicher Spieler zu konstituieren, wobei er freilich Schillers Konstruktionen infantilisiert. Die Spielformel Schillers, die Marcuse mit Recht als anthropologisch bezeichnet, wird durch Infantilisierung von ihm unter Wert gehandelt - als einmalige Sprengkraft eingesetzt, wie das die Dadaisten gemacht haben, mag das allerdings funktionieren. Wir dürfen das Spiel auch nicht als ein Spiel nehmen, das mit uns gespielt wird, das also nichts mit unseren eigenen Spielmöglichkeiten zu tun hat - das wäre die Heideggersche Position - , sondern es ist ein Spiel, dessen Qualitäten auf die Entstehung des Individuums und der Gattung zurückgehen, ohne die das Ernsthafte der Erwachsenen verraten wäre. Nietzsche, der das Weltkind im Zarathustra spielen lässt - dies ein Teil seiner Antwort auf Wagners Parsifal - , hatte dafür ein Sensorium. Wer behauptet, Schillers Kunsttheorie, ebenso wie seine erstaunliche Selbstanalyse, die er in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung anstellt, sei alles angewandter Kantianismus, der macht den Fehler, den die meisten Philosophen gemacht haben, die von Kant aus auf Schiller blicken, und erkennt nicht, dass Schiller an vielen Stellen viel weiter greift als Kant, weil er viel mehr von den Künsten versteht, als Kant verstanden hat. Was mir an Schillers Entwurf immer als das Wesentliche erschienen ist: die ganzen geschichtsphilosophischen Erziehungsmonumente aus dem 18. Jahrhundert vor ihm setzten alle auf eine Erziehung, die von einem Erzieher kommt, und dieser Erzieher, ob nun Voltaire'sch oder pietistisch, bleibt Gott. Gott erzieht durch seine Offenbarungen und seine Schläge ins Kontor, die dann, wie das Erdbeben von Lissabon, mühsam verdaut werden müssen. Für Schiller gibt es keinen göttlichen Erzieher, sondern alles kommt aus der Natur des Menschen für den Menschen. Schiller hatte einen seltsam starken, ganz unrousseauschen Naturbegriff. Die Dichter sind für ihn schon ihrem Begriff nach die Bewahrer der Natur. Wo sie dies nicht mehr sein können, werden sie als Zeugen und als Rächer der Natur auftreten. Sie werden entweder die Natur sein, oder sie werden die verlorene Natur suchen. Daraus entspringen zwei ganz verschiedene Dichtungsweisen, die naive und die sentimentalische, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschöpfend ausgemessen wird. In den ganzen Erziehungsphilosophien, die im 18. Jahrhundert durch alle europäischen Nationen geisterten, ist Schiller der Einzige, der das Subjekt der Veränderungen nicht außerhalb der empirischen Subjekte setzt, sondern sagt: sie selbst sind es! Allein durch diese so grundlegende Änderung ist Schiller ein Wirbelpunkt in der Geschichtsphilosophie. Ohne dieses Freiheitspathos hätte Goethe wohl auch kaum mit ihm einen vorsichtigen Schulterschluss vollzogen. Was wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen, ist, dass die ästhetische Erziehung eine Utopie ist und dass jede Erinnerung an Schiller die Erinnerung an jemanden ist, der einen derartigen Überschuss über die Realität seiner Zeit hatte, dass er von Anfang bis Ende, von den Räubern bis zu seinen letzten Gedichten ein Utopist geblieben ist. Das ist die Seite, die die Klassikervorstellung des 19. Jahrhunderts immer unterschlagen hat, wenn sie ihn zum Idealisten par excellence machte. Hier war der Idealist für reine Sittlichkeit, für große Kunst, für nationales Pathos, für Balladen, die gut ausgehen müssen, der Idealist, der seine Ideen in Praxis umgesetzt haben will. Damit unterschlägt man jedes utopische Moment. Utopie gibt es nicht, ohne die härteste Kritik an dem, was ist, und nur in diesem Zusammenhang, dass Realismus und Utopie kein Widerspruch sein muss, kann man Schiller als Klassiker sehen. Dann kann man immer noch sagen, dass er bisweilen ein vormodernes Instrumentarium hatte, um Modernisierungserfahrungen zu bewältigen und dass man bestimmte Modernitätsphänomene mit Hölderlin heute besser beschreiben kann. Realistisch im Übrigen der Schluss der Ästhetischen Erziehung, wo ein resignierter Mann spricht. An Freiheit und Gleichheit müsse man zwar festhalten, aber nur im Bereich des schönen Scheins, im Bereich der ästhetischen Erziehung. Und nun ist die Frage: Ist ästhetische Erziehung ein Refugium, oder ist sie so etwas wie das Brechtsche" In seiner kleinsten Form überlebte der Denkende den Sturm ", womit er diese Ideale durch die Zeiten schmuggelt? Ist die ästhetische Erziehung etwas, worauf man nicht verzichten kann? Schiller setzt sich davon ab, ein Schwärmer zu sein. Kann die ästhetische Erziehung etwas herüberretten, was die Französische Revolution unmittelbar verwirklichen wollte, was nur Schwärmer unmittelbar verwirklicht sehen wollen? Und daran schließt sich die Frage an: Verkörpert sich das irgendwo, gibt es das auch institutionell? Ja, lautet Schillers Antwort, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln. Das ist nun wirklich die totale Resignation. Aber kurz davor spricht noch der Utopist in großen Anti-Kantformeln. Er greift Kant an als denjenigen, der die Sinnlichkeit verwirft, dadurch verwerfe er die ästhetische Erziehung, verwerfe das, was den Menschen erst zu einem runden Menschenwesen macht. Anders als Fichte, der Kant schnöde behandelt, quält sich Schiller bis an sein Lebensende mit Kant herum und sagt: Was für ein edler Mann! Aber dass die Sinnlichkeit das Medium ist, worin wir nach Anmut und Würde streben müssen, das könne er leider nicht sehen. Die Gedankenfreiheit, die Marquis Posa feiert, ist nicht als Residualfreiheit gemeint, sondern ist das, was die Paläste zerbrechen wird. Die Gedankenfreiheit ist für den Geschichtsaugenblick, in dem Schiller sie fordert, mit einer Position gekoppelt, die uns Jahrzehnte lang so selbstverständlich schien, dass sie uns nicht verständlich war, nämlich öffentliche Gedankenfreiheit, nicht die Gedankenfreiheit der Innerlichkeit, die schon immer ein Resignationsprodukt der Metternichschen Zeit ist. Heute sehen wir wieder, wie ein Medienzar, noch gar, wenn es ein politischer ist, dem Volk die öffentliche Gedankenfreiheit wegkaufen kann. Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit noch einmal konzentriert auf das, was ich das Aufregende an Schiller nannte, seine Modernismen in Formen und Sprachspielen, in der Kühnheit des Experimentierens. Was in der Rezeption völlig ausgeblendet oder ins Lächerliche gezogen worden ist, obschon grade dies ein grandioser Vorgriff auf die Moderne war, der Surrealismus der Metaphern in seiner Prosa und seinen Theaterstücken, der Kleist nicht nachsteht. An Schiller übrigens goutiert diesen Zug Goethe, der selbst keine surrealistische Prosa schreibt, aber anerkennend bemerkt, er habe noch nie jemanden mit so viel Schwung kennen gelernt. Auch über Kleist könnte man viel lachen, nur ist er unheimlicher, denn er ist nun schon durch die Romantik hindurchgegangen. Schillers überzogene Metaphern bewegen sich immer schon an einem anderen Ort als dem der Realität, haben wir gesagt." Durch diese hohle Gasse muss er kommen ". Das ist ganz realistisch gesagt, und doch weiß jeder sofort: Das ist eine Traumsituation und nie und nimmer nur eine topographische Beschreibung aus der Umgebung von Küßnacht. In dem Vers" Es führt kein anderer Weg nach Küssnacht "steht Küßnacht auch nicht nur als geographische Bezeichnung, sondern als Ort, an dem es zu dem Plot aller Plots kommen wird. Also diese hohle Gasse ist tatsächlich schon die innere Katastrophengasse, die im Vers völlig nach außen gespiegelt wird." Zu Dionys dem Tyrannen schlich / Damon, den Dolch im Gewande ": auf das" schlich "reimt sich der" Wüterich ". Das ist nicht nur komisch, sondern es hat etwas von der Kasperletheaterstringenz, die einen zu gleicher Zeit erschreckt, weil man weiß, hier werde ich selber in meinen infantilen Urgründen in einer durchaus unbehaglichen Weise mobil gemacht. Das Gelächter zeigt, dass Schiller Kontakt mit dem kollektiven Vorbewussten hatte. Er kitzelt die Fehlleistung heraus -" und sieh es warn statt sechse sieben "- , bei ihm sind es noch keine Fehlleistungen, es steht nur kurz davor. Die Beinahe-Fehlleistungen decken etwas auf, was bisher unbewusst war, oder packen zumindest einen Zipfel davon. Die Romantiker lachen dieses kollektive Vorbewusste weg, weil sie ja in die zeitlose Natur eintauchen wollen, nicht in die des surrealen Unbewussten. Schiller, wird plausibel behauptet, sei humorlos gewesen. Es ist wahr, Komik gesteht er sich nur als Metaphernkomik zu. Ich glaube nicht, dass das alles unfreiwillige Komik ist. Was für banale Vorgänge manchmal und zu gleicher Zeit was für eine exzentrische Auseinandersetzung in den Metaphern! In diesem Überschuss der den Gebrauchs-und Nutzwert übersteigernden Metaphern werden die gesellschaftlichen Kämpfe der Zeit ausgetragen." Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, / Verderblich ist des Tigers Zahn, / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist der Mensch in seinem Wahn."Die Gesellschaft wird als ein Tierreich in uns und zugleich als eine total exotische Veranstaltung à la Henri Rousseau beschworen. Wer wird schon den Leu wecken? Der Forschungsreisende wird's schön lassen. Jedes Kind lächelt und denkt: Das würde ich sowieso nicht tun, und hat zugleich eine Ahnung davon, dass wer sagt, s » sgefährlich ist's, den Leu zu weckens « s, schon von der Gesellschaft redet. An der Oberfläche sieht es so aus, als ob am Anfang ein alberner Vergleich stünde, wie der Mensch mit dem Tier umgeht. Im zweiten Satz kommt vermeintlich das Gegenteil:" Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn ". In Wirklichkeit aber haben die Metaphern am Anfang schon von der Gesellschaft geredet, von der Französischen Revolution, ihren Vorläufern, ihren Wirkungen. Jedoch der schrecklichste der Schrecken... das fällt eigentlich dagegen ab, wenn man es nicht als ein ergo, als eine Schlussfolgerung liest, nämlich so: Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn, also lernt daraus: der schrecklichste der Schrecken ist der Mensch in seinem Wahn. Diese kleine Verschiebung, dass das, was wie eine Moral der Übersteigerung erscheint, im Grunde. die Kaschierung einer Schlussfolgerung ist, ist etwas, was so nur Schiller hinbekommt, und er bekommt es überall hin. Schiller muss zu seiner Zeit als großer experimenteller Dichter gewirkt haben muss. Hören Sie sich eine Strophe aus einem Liebesgedicht Laura am Klavier an: Wenn dein Finger durch die Saiten meistert - Laura, itzt zur Statue entgeistert,

Itzt entkörpert steh ich da. Du gebietest über Tod und Leben, Mächtig wie von tausend Nervgeweben

Selen fordert Philadelphia. Diese letzten Zeilen sind schon allerhand für ein Liebesgedicht des 18. Jahrhunderts! "Philadelphia" ist der damals in den europäischen Landen herumziehende erfolgreichste Zauberer. In den Ausgaben steht meist "Seelen", also auf der ersten Silbe betont, aber Schiller meint natürlich Selén, ein Stoff, der auf die Mesmerschen Entdeckungen, die im Augenblick alle bewegen, zurückgeht. Die Mesmerschen Experimente und den Zauberer Philadelphia in ein Liebesgedicht an seine damalige Flamme zu bringen, einen solchen Umgang mit Normalsprache und Fremdwörtern der Zeit hat erst wieder Benn praktiziert. So etwas hat Goethe nicht gemacht, was natürlich kein Werturteil ist - Goethe hat bekanntlich in Liebesgedichten - und weiß Gott nicht zu deren Schaden - ganz etwas anderes gemacht, aber eben keine Experimente. Sein Faust sticht immer, obwohl oder vielleicht gerade weil Goethe selbst oft nicht wusste, worauf er mit ihm hinauswollte. Die Widersprüche gehören zu diesem Weltgedicht ebenso wie die Stimmigkeiten. Was so modern am Faust ist, dass dieser Mensch, solange er nach Selbstverwirklichung strebt, nur Unheil anrichtet. Goethe hat Lebensexperimente gemacht; unser größter Dichter ist eben auch der größte Aussteiger gewesen. Das Ende des Faust II ist ebenso aussteigerhaft wie die ganze Altersproduktion, die gegen eine bestimmte Art von Effizienz steht. Diese Intention teilt er mit Schiller. Wenn wir noch einmal auf den 15. , den zentralen Brief der Ästhetischen Erziehung blicken, wo es heißt: "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", dann ist das eine Absage an Effizienz als Prinzip für menschlichen Fortschritt. Wenn es eines einzigen Urteils bedürfte, das die Schillermäkeleien für alle Zeiten gerade rückte, dann wäre das eben Goethes Urteil, für den Schiller der einzige Ebenbürtige gewesen ist. Hat Goethe Schiller nun leiden können oder nicht? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Was liegt auch daran. Zu viel Liebe schadet nur! Trotz "Freude schöner Götterfunken" - Schiller sei nicht glücklich gewesen, wird gesagt, hat er selbst gesagt. Wäre er glücklicher gewesen, hätte er vermutlich weniger gearbeitet. Goethe war übrigens auch nicht so besonders glücklich. Wo er allerdings glücklich war, hat er das sozusagen erstaunt protokolliert. Das war Schiller nicht gegeben, weil er kein "denkwürdiges" Leben führte, wie Goethe das von seinem von Anfang an annahm. Ein Porträt hat er gezeichnet, das davon spricht, wie er sich selbst vorgestellt hat. Seine ideale Selbstdarstellung, seine dichterische Biographie legt er einer Frau in den Mund. Im Prolog der Johanna von Orleans haben wir das großartige Bild seiner Knabenträume, leicht verschoben als Mädchentraum. Und nun ist Schiller also auch noch der Texter unserer Europahymne. Als Schiller das Lied An die Freude, das eigentlich schlicht ein Trinklied ist, schrieb, war er sehr jung und doch schon realistisch genug, zu verstehen, dass es nur in einem solchen Trink-Rausch-Lied, nur in einem solchen dionysischen Bundesschluss, möglich ist, zu sagen, was politisch eigentlich angemessen wäre: Rettung von Tyrannenketten,

Großmut auch dem Bösewicht, Hoffnung auf den Sterbebetten,

Gnade auf dem Hochgericht! Auch die Toten sollen leben!

Brüder trinkt und stimmet ein, Allen Sündern soll vergeben,

Und die Hölle nicht mehr sein. Wenn man von diesem Gedanken ausgeht, dann wird man sagen müssen, dass Beethoven dem einerseits zugestimmt hat, es andererseits unternommen hat, den dionysischen Rausch mit der Musik in eine größere Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit zu überführen. Bedauerlicherweise ist der Sternensaal des Stuttgarter Bahnhofs, der alle möglichen Verse dieses Trinklieds zu seiner Dekoration genutzt hatte, beim Umbau des Bahnhofs nach dem Krieg beseitigt worden. Da hatten wir noch einmal das "Seid umschlungen Millionen" verkehrspolitisch vor Augen."Er war wie Christus", sagte Goethe. Unser Christus Schiller errang einen posthumen Sieg über Goethe. Denn Schiller war das ganze 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein d e r Dichter der Deutschen, auch und besonders der deutschen Juden. Gershom Scholem berichtete, dass sie alle Schillerianer waren. Dieser 19. Jahrhundert-Ruhm hat ihn bekanntlich auf lange Zeit für uns als Deklamationsapostel, der in einem großen nationaldeutschen Sarkophag lag, ungenießbar gemacht. Diese Rezeption stellte sich vor jeglichen Schiller-Realismus, wie übrigens auch vor jeglichen Goethe-Realismus, auch er wurde nicht ganz von der Klassikermumifizierung verschont. Marbach ist freizusprechen vom Vorwurf der Mumifizierung. Schon die Entscheidung des Preisgerichts für den Ursprungsbau stellte etwas von bürgerlicher Wiedergutmachung dar. Ein Schloss wie die Solitude wird jetzt demjenigen gebaut, der im alten königlichen Württemberg unter der Zucht Karl Eugens festgenagelt war und in ein erbärmlich karges Zimmerchen hineingehört hätte. Nun ist der Chipperfieldsche Bau - soviel den Plänen zu entnehmen ist - dadurch sehr reizvoll, dass er ihm durch die Tektonik eine Klassikerattitüde wieder gibt und zugleich einen Möglichkeitsraum öffnet. Er setzt vor das geschlossene Bauwerk keine Säulenumgänge, sondern die Pfeiler, die das Ganze umgeben, sind eher so etwas wie in die Moderne hinübergerettete Kolonnaden. Diese Kolonnaden umgürten nicht nur das Bauwerk, sondern durch sie wird das Außen nach innen und das Innen nach außen geführt. Das Auffälligste jedoch ist, dass hier wieder klassische Tektonik zu entstehen scheint, die nicht sagt: das ist das Gesicht der Schillerzeit - wie die Solitudeparaphrase- , sondern das ist das moderne Gesicht der Klassik. Die Folgebauten waren geeignet, einen Grundzweck zu erfüllen, der trotzdem das alte Museum nicht außer Kraft setzte. Der Chipperfieldbau ist der erste Bau, der sich als ein Pendant des Berliner Alten Museums versteht, aber nicht als wiederholende Paraphrase, sondern er denkt es aus der Schiller- , aus der Schinkelzeit hinaus und verbindet die Tektonik der klassischen Antike mit der Durchlässigkeit der klassischen Moderne. Wir wollen hier nicht beanspruchen, dass Schiller zu einem absolut Modernen zu machen sei: Es gibt viele Gründe, warum die Moderne gerade nicht auf Schiller bezogen wird. Wir setzen den Klassikern immer in doppelter Bewegung nach, wir fragen uns, um es mit Schillers Worten zu sagen, wo wir unendlich von ihnen dependieren; und wir sehen Probleme, wo wir ohne sie auch ganz gut oder besser leben können. Der Zeitenabstand ist da. Der Klassiker kann aber für uns, gerade da, wo er nicht unser Zeitgenosse ist, aufregend sein. Mehr noch: Das Klassische enthält einen Möglichkeitsraum, der bis heute nicht ausgeschöpft ist. Klassiker und Modernität müssen - wie wir ja von Beckett wissen - nicht unbedingt auseinander fallen. Warum Klassiker heute? Das ist eine Pathosfrage und sie kann nur mit Pathos beantwortet werden. Schillers Freiheitspathos - unter Larven die einzig fühlende Brust - kann man immer beleben, solange es Menschen gibt. Jede Zeit kann sich an seinem Freiheits-und Humanitätspathos messen, kann daran wieder entdecken, dass sie die Norm nicht erreicht hat, dass sie unterhalb von Anmut und Würde existiert: Das ist die bleibende Herausforderung des Klassikers Schiller an unsere Gegenwart - auch über das Jahr 2005 hinaus.