Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 16.11.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich des Deutschen Arbeitgebertages der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände am 16. November 2004 in Berlin.
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Dr. Hundt, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/66/746166/multi.htm


Etwa vor einem Jahr haben Sie, Herr Dr. Hundt, vor diesem Forum die Frage aufgeworfen, die eben auch schon ein bisschen anklang, nämlich ob Deutschland überhaupt reformfähig sei. Die Frage war nicht unberechtigt. Vielleicht war sie auch als Mahnung an den damals tagenden Vermittlungsausschuss gemeint. Ich für meinen Teil hatte keine grundsätzlichen Zweifel an der Reformfähigkeit unseres Landes, habe aber erfahren können und erfahren müssen, was die eigentlichen Schwierigkeiten einer Reform in einem Staat sind, der zu den wohlhabendsten dieser Erde gehört. Es gibt zwei grundsätzliche Erfahrungen, die ich habe machen können. Erstens. Die abstrakte Reformbereitschaft in unserem Land ist außerordentlich hoch. Bei einer Umfrage bezüglich der Frage, ob sich vieles oder gar alles in dieser Gesellschaft ändern müsse, sagen rund 80 % der Menschen: ja. Wenn man fragt, ob das auch bei persönlicher Betroffenheit gelte, dann überwiegt jedoch die Ablehnung. Diese Kluft zwischen der abstrakten Reformbereitschaft einerseits und der konkreten Reformbereitschaft andererseits ist die eine Schwierigkeit eines jeden Reformprozesses in einer entwickelten, wohlhabenden Gesellschaft. Die zweite Schwierigkeit hat vielleicht noch größere Bedeutung: Es gibt eine zeitliche Differenz zwischen gelegentlich schmerzlichen Maßnahmen, die man beispielsweise zum Umbau der sozialen Sicherungssysteme jetzt durchführen muss, und den Erfolgen, die später eintreten. In diese zeitliche Kluft - das ist spürbar, insbesondere in einem föderalen Staat, in dem Landtagswahlen stattfinden - kann Politik "hineinfallen". Ich habe anderthalb Jahre daran gearbeitet, nicht ganz in dieser zeitlichen Kluft zu verschwinden. Ich verstehe diese Schwierigkeiten, weil wir in einem Land leben, das nach dem 2. Weltkrieg einen Wohlstand der breiten Schichten und der arbeitenden Bevölkerung erreicht hat, wie es ihn in Deutschland so nie gegeben hat. Völlig verständlich ist doch, dass eine große Zahl von Menschen das festhalten will, was nach so langen Jahrzehnten erreicht worden ist. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, der Mehrheit der Menschen klar zu machen, dass dieser Wohlstand nur dann zu sichern ist, wenn man bereit ist, sich zu verändern und die Gesellschaft zu verändern. Das ist die Aufgabe, die verantwortliche Politik hat, und ich meine jetzt nicht nur institutionalisierte Politik, sondern ich rede von einem Politikbegriff, der die ganze Gesellschaft umfasst. Das waren die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der "Agenda 2010". Wenn man es fair und objektiv betrachtet, dann kann man sagen, dass wir in Deutschland ein ganz gutes Stück vorangekommen sind, was diese Veränderungsbereitschaft angeht. Herr Hundt hat die Aufgabe richtigerweise definiert, wenn er sagt: "Wir sind zwar auf dem Weg zu einem Ziel, aber noch nicht am Ziel". Das heißt aber auch, dass dieser Reformprozess nie endgültig wird abgeschlossen sein können. Es gibt eine einfache Erklärung dafür: Sie und wir alle spüren, dass sich unsere Gesellschaft und vor allen Dingen unsere Wirtschaft permanent ändern und permanent auf neue, radikale Herausforderungen einstellen müssen. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Wir dachten doch alle miteinander, dass wir in diesem und im nächsten Jahr von ganz sicheren Zuwächsen im Export ausgehen können. Es sieht auch so aus, als ob das der Fall sein wird. Ich bin dabei gar nicht pessimistisch. Aber jedem von uns macht es doch Sorgen, wenn man an die Ölpreise und an die Euro-Dollar-Relation sowie an die damit verbundenen Auswirkungen auf den Export denkt. Diese Beispiele zeigen, dass die Reformprozesse, über die wir reden und über die wir streiten, nie abgeschlossen werden können; denn in einer Gesellschaft, deren ökonomische Basis sich so schnell und radikal immer wieder ändert, können die politischen Systeme nicht statisch sein. So betrachtet muss Gesetzgebung bereit, aber auch in der Lage sein, auf veränderte Bedingungen möglichst rasch und möglichst entschieden zu reagieren. Außerdem gibt es in einer demokratischen Gesellschaft ein Problem, das ich gerade hier erwähnen will, weil ich mit der Frage, wie andere mit diesen Prozessen zurecht kommen, gar nicht oberflächig und schon gar nicht zynisch umgehen will. Alles, was wir in unserer Gesellschaft an Veränderung unternehmen, ist in einer Demokratie zugleich Teil einer Machtauseinandersetzung, Teil einer Auseinandersetzung um Macht und Einfluss im Staat. Das erschwert die Umsetzung, weil vor diesem Hintergrund die Frage, was richtig oder falsch ist, von den an der Machtauseinandersetzung Beteiligten - auch in den Institutionen Beteiligten - keineswegs nur rational und keineswegs nur der Sache entsprechend diskutiert wird. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass wir mit der Agenda nicht nur einen richtigen Weg beschritten haben, sondern dass wir mit der Umsetzung der Agenda auch ganz praktische Erfolge erzielt haben. Übrigens wird hinter diesen Reformprozess niemand mehr zurückgehen können, weil er inzwischen als Notwendigkeit im Bewusstsein des Volkes verankert ist. Meine Damen und Herren, in Deutschland vollzieht sich dieser Reformprozess, der in anderen europäischen Ländern weiter vorangeschritten ist und z. B. in den skandinavischen Ländern in den 90er-Jahren begonnen wurde, in einer weltweit einzigartigen ökonomischen Situation. Rund 4 % unseres Bruttoinlandsproduktes - etwa zwischen 80 und 90 Milliarden Euro - transferieren wir jährlich zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse von West nach Ost. Das ist eine Anstrengung, die keine andere Volkswirtschaft der Welt unternimmt und die kaum eine andere Volkswirtschaft der Welt würde schultern können. Ich sage das sehr selbstbewusst und auch stolz auf die Leistungsfähigkeit meines Landes. Vor diesem Hintergrund war und bleibt es die Aufgabe, die sozialen Sicherungssysteme umzubauen, um sie in Zukunft lebensfähig zu halten. Ich möchte gerne aufzählen, um was es dabei geht. Begonnen haben wir mit dem Gesundheitssystem. Die Erkenntnis war, dass wir die Lohnnebenkosten senken müssen und dass das nur möglich ist, wenn wir in diesem System, das prinzipiell hoch leistungsfähig ist, eine neue Balance finden zwischen Verantwortung und Solidarität einerseits und Effizienz-Fortschritten in diesem System andererseits. Wir mussten den Patienten mehr an eigenen Leistungen zumuten. Wir werden im nächsten Jahr zu entscheiden haben, dass sowohl die Finanzierung des Krankengeldes als auch die Finanzierung der Leistungen für den Zahnersatz Teil dieser neuen Balance sind. Im Frühjahr dieses Jahres hatte ich den Eindruck, dass in Deutschland eine kaum beherrschbare Situation entstand, nur weil wir eine Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal eingeführt haben. Das war eine Situation, die zeigt, wie schwierig Veränderungen durchzusetzen sind. Aber wir haben das gemacht, mit allen Folgen - ich erinnere mich schmerzlich daran - , die das hatte, was Zustimmung auch bei Wahlen angeht. Das war aber ein richtiger Weg. Ich erwähne das, um einmal auf die andere Seite hinzuweisen, nämlich welche Probleme wir hatten, den Ärzten klar zu machen, dass sie die Praxisgebühr auch annehmen. Dahinter steht die Tatsache, dass diese Leistung nicht mit dem Leistungsempfänger abgerechnet wird, sondern mit den Kassen. Teil des Systems ist ganz offenkundig die Auffassung, dass die erbrachten Leistungen scheinbar nichts kosten - mit allen Folgen für Effizienz. Wir hatten also keineswegs nur die Schwierigkeit, den Menschen klar zu machen, dass sie 10 Euro zahlen müssen, sondern wir hatten die größere Schwierigkeit, den Leistungsgebern klar zu machen, dass sie die 10 Euro auch annehmen. Zudem hatten wir große Schwierigkeiten, eine Situation zu beenden - wir reden über Dienstleistungen - , in der jemand, der Apotheker ist, nur eine Apotheke haben darf, mit allen Folgen, die das für die Entwicklung von Einkaufsmacht hat. Wir haben das aufheben wollen, und zwar im Sinne von Deregulierung. Die Mehrheit im Bundesrat hat uns gestattet, statt einer Apotheke wenigstens vier zuzulassen. Von Bildung von Einkaufsmacht war keine Rede. Ich wäre auch dankbar, wenn wir zusammen Druck auf die Kassen ausüben könnten, dass sie Mehreinnahmen auch wirklich in Form von Beitragssatzsenkungen zurückgeben. Im ersten Halbjahr 2003 haben die Krankenkassen ein Minus von zwei Milliarden Euro gemacht. Im ersten Halbjahr 2004 haben sie ein Plus von 2,5 Millionen Euro erwirtschaftet. Ich finde, dass ein Anspruch der Beitragszahler besteht, dass das in Form von Beitragssenkungen weitergegeben wird. Zudem würde dies zur Senkung der Lohnnebenkosten führen. Wir müssen diesen Weg im Gesundheitssystem weitergehen. Das bedeutet einerseits, mehr Effizienz im System zu schaffen. Andererseits geht es um eine neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. Man muss aber auch sehen, dass diese Systeme so, wie sie gewachsen sind, nicht von heute auf morgen, sondern Schritt für Schritt in einem Reformprozess umgebaut werden können. Und das bedeutet auch, dass derjenige, der die Veränderungsbereitschaft überfordert, auch einen Fehler machen kann. Im Zusammenhang mit dem Gesundheitsbereich gibt es eine Haltung, die man zurückdrängen muss, auch aus Verantwortung für das Gesamtsystem. Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese Systeme nach dem Motto "Was ich eingezahlt habe, will ich auch rausbekommen" benutzt werden. Das ist ein falsches Verständnis von Solidarität. Solidarität in diesem System heißt, dass der Gesunde seinen Beitrag leistet, damit dem Kranken geholfen werden kann. Das heißt aber nicht, dass ein Arztbesuch gemacht wird, obwohl er nicht nötig ist. Ich denke, dass es Sinn dieser Reformbemühungen war, ist und bleiben wird, die eben gekennzeichneten falschen Verhaltensweisen in einem hoch leistungsfähigen System in einem längeren Prozess zurückzudrängen. Die zweite Reformaufgabe ist der Bereich der Alterssicherung. Wenn angesichts der demographischen Entwicklung die Zahl derer, die in Vollerwerbsarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, zurückgeht und sich auf der anderen Seite die Bezugsdauer von Leistungen ausweitet, kommt man in Finanzierungsprobleme. Wir haben darauf reagiert, und zwar nicht nur, Herr Dr. Hundt, mit dem Nachhaltigkeitsfaktor. Wir haben in diesem System neben die Säule der Umlagefinanzierung, die wir wegen der demographischen Entwicklung und der gekennzeichneten Entwicklung auf den Arbeitsmärkten verändert haben, die zweite Säule der Kapitaldeckung aufgebaut. Mit diesem Aufbau der Kapitaldeckung haben wir auch in der Altersvorsorge eine neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung geschaffen, denn der Aufbau von Kapitaldeckung im Rentensystem ist klassische Eigenverantwortung. Die damalige Kritik war gerade darauf gerichtet, dass mit dem Aufbau von Kapitaldeckung das System von einer reinen umlagefinanzierten Alterssicherung in eine gemischte Finanzierung verändert wird. Exakt das haben wir gemacht. Exakt das haben wir gewollt, weil das angesichts der gekennzeichneten Entwicklung in unserer Gesellschaft notwendig ist. Ich wundere mich gelegentlich, dass über diesen Reformbereich so wenig geredet wird, obwohl das eine der wichtigsten Veränderungen in einem Altersvorsorgesystem war, das bisher ausschließlich auf Umlagefinanzierung gegründet war. Wir haben in unserem System der Alterssicherung das Problem, dass wir eine zu große Differenz zwischen nominalem und realem Renteneintrittsalter haben. Diese Differenz beträgt im Durchschnitt immer noch fünf Jahre. Die Debatte über die Verlängerung des realen Renteneintrittsalters - das ist ja der Vorschlag, den Sie gemacht haben - trägt jedoch so lange nicht weiter ehe wir nicht das reale dem nominalen Renteneintrittsalter angepasst haben - oder jedenfalls in diese Richtung gekommen sind. Wir müssen deswegen das System dieser sehr teuren Frühverrentung durchbrechen. Wir müssen dafür sorgen, dass das reale Renteneintrittsalter nach hinten geschoben wird. Das bedeutet natürlich auch, dass diejenigen, die in den Betrieben länger bleiben sollen, auch länger bleiben dürfen. Wir müssen also dafür sorgen, dass dies auch durch die Betriebe ermöglicht wird und die Beschäftigten nicht, wenn sie 50 Jahre alt sind, aus den Betrieben herausgedrängt werden. Die dritte, vielleicht schwierigste Aufgabe, die wir haben und in deren Umsetzung wir sind, ist der Arbeitsmarkt. Auch hier teile ich, Herr Dr. Hundt, Ihre Ansicht, dass die betrieblichen Wirklichkeiten in Deutschland, was diese Frage angeht, viel entwickelter sind als die Presseerklärungen und die Leitartikel es gelegentlich nahe legen. Wenn die Presseklärungen den betrieblichen Wirklichkeiten angepasst wären, dann würden wir eine etwas realistischere Debatte über Flexibilität am Arbeitsmarkt in Deutschland bekommen. Es ist eine Flexibilität, die sich jedenfalls im europäischen Maßstab durchaus sehen lassen kann. Sie, Herr Kannegiesser, und andere haben mit dem Tarifabschluss in der Metallindustrie wirklich einen Meilenstein in Richtung einer rationalen, den Verhältnissen entsprechenden Tarifpolitik gesetzt. Weil Sie als Ergebnis der Tarifautonomie, für die wir alle miteinander sind - übrigens auch bei der Lohnfindung, wo ich ausdrücklich Ihrer Meinung bin - , in den Verhandlungen mit den Sozialpartnern, den Gewerkschaften durchgesetzt haben, dass es betriebliche Öffnungsklauseln in einem Maße geben kann, wie es bisher nicht der Fall gewesen ist. Ich finde, sie sollten diesen vernünftigen Weg weiter gehen. Dann brauchen Sie auch keinen Gesetzgeber. Wir haben immer gesagt: Der muss nur auf den Plan, wenn es im Wege der Tarifautonomie nicht gelingt, die Balance zwischen zentraler Verhandlungsmacht einerseits und betrieblichen Notwendigkeiten andererseits sinnvoll zu verändern. Bei den Arbeitsmarktreformen brauchen wir noch sehr viel Rückenwind und auch ein kräftiges Rückgrat, um das, was im Gesetzblatt steht, auch gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen. Das, was sich mit dem Begriff Hartz IV verbindet, ist ohne jeden Zweifel die größte Anstrengung, die in Deutschland je in diesem Bereich gemacht worden ist - mit allen Folgen, die das hat. Was verbindet sich damit? Wir werden alle diejenigen, die bislang Sozialhilfe beziehen, obwohl sie arbeitsfähig sind, aus der Sozialhilfe herausholen und sie in das so genannte Arbeitslosengeld II integrieren. Das hat Folgen für die Betroffenen, weil sie, wenn sie arbeitsfähig sind, auch zumutbare Arbeit akzeptieren müssen. Zumutbar sind Arbeiten, die der Berater bei der Bundesagentur für Arbeit anbietet. Im Übrigen glaube ich, dass der ganze Begriff der Zumutbarkeit, wie er diskutiert worden ist, falsch debattiert wurde. Welche Arbeit für einen konkret betroffenen Einzelnen zumutbar ist, lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern das kann nur der Vermittler bestimmen. Denn die Zumutbarkeit einer Arbeit richtet sich nach dem Ausbildungsstand, nach dem Alter, nach dem, was der Mensch konkret kann. Das kann nicht abstrakt gesetzlich definiert werden, sondern das kann nur durch den Vermittler konkret bestimmt werden. Ich teile Ihre Auffassung, dass wir auf diesem Sektor eine ganze Zeit Erfahrungen machen müssen, ehe Debatten über die Frage, wie Lohnfindung im unteren Bereich gemacht werden soll, sinnvoll sind. Debatten sind immer sinnvoll, aber für Entscheidungen brauchen wir Erfahrungen mit den umzusetzenden Hartz-Gesetzen. Diejenigen, die arbeitsfähig sind und eine Arbeit angeboten bekommen, die zumutbar ist, müssen sie annehmen. Ansonsten wird das sanktioniert. Nun weiß ich sehr wohl und Sie wissen es auch, dass es viele Menschen gibt, denen wir konkret zurzeit nichts anbieten können. Was ist mit denen? Wie werden sie versorgt? Auch hier gibt es eine neue Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. Das, was jenseits eines Schonvermögens, das beachtlich und so hoch wie nirgendwo in Europa ist, an eigenen materiellen Möglichkeiten besteht oder was der Partner an materiellen Möglichkeiten hat, muss eingesetzt werden, ehe die Solidarität der Gesellschaft, für die der Staat handelt, greift. Das sind zwei Bereiche - Zumutbarkeit und der Einsatz eigener Möglichkeiten jenseits eines Schonvermögens - , die uns bei der Umsetzung, beginnend im nächsten Jahr, noch erhebliche Probleme bereiten werden. Ich gehe davon aus, dass es noch eine wirkliche Debatte in unserer Gesellschaft braucht, ehe nicht nur abstrakt anerkannt ist, dass sich etwas verändern muss, sondern ehe konkret jedem Betroffenen klar wird, dass es in seinem eigenen Interesse ist, diesen Reformprozess zu unterstützen. Deswegen glaube ich, dass es völlig unsinnig wäre zu sagen, es gebe Reformpausen. Einmal kann es sie nicht geben aus dem Grund, den ich eingangs genannt habe - die Gesellschaft entwickelt sich; also müssen sich die politischen Systeme entwickeln - , und zum anderen sind wir mitten in dem Agenda-Prozess. Reform kann doch nicht heißen, dass man sich zurücklehnt, wenn die Gesetzgebung geleistet ist, sondern politische Führung bedeutet auch, die Umsetzung dessen, was man entschieden hat, vernünftig zu organisieren. Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Bemerkung zum Ausbildungspakt und der Niedriglohnfrage machen. Ich finde, dass der Ausbildungspakt wirkt und dass sich gezeigt hat, dass es richtig war, auf Vereinbarungen zu setzen. Meine Skepsis gegenüber der Überantwortung solcher Bereiche an den Staat kennen Sie. Das gilt, das sage ich jetzt sehr persönlich, auch für die Debatte, was die Niedriglohnfrage angeht. Mein eigentliches Problem damit ist nicht, dass man nicht Möglichkeiten finden könnte, so etwas in bestimmten Bereichen zu machen, etwa da, wo es keine starken Gewerkschaften und entsprechende Arbeitgeberverbände gibt, wo das vernünftig und fair ausgehandelt werden kann. Das ist nicht das vorherrschende Problem. Meines ist, dass man in einem föderalen Staat in jedem Landtagswahlkampf über die Frage diskutieren würde, ob der Mindestlohn noch hoch genug ist - mit völlig unbeherrschbaren Folgen für die Wirtschaft. Das ist jedenfalls meine Befürchtung, die ich habe; und das ist der Punkt, den ich in diese Debatten einbringen will. Wir haben eine andere Tradition als die meisten europäischen Länder, etwa Frankreich und England, in denen es diese Mindestlöhne gibt. Wir haben eine andere Tradition, und sie einfach über Bord zu werfen, ist zumindest problematisch. Diese Frage der Überforderung von Politik bei der Bestimmung eines solchen Lohnes ist die eigentliche Frage, die mich jedenfalls besorgt macht - vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen in solchen Entscheidungsprozessen. Meine Damen und Herren, der Ausbildungspakt wirkt. Ich unterstreiche deswegen die Vereinbarung, die wir getroffen haben, und will ausdrücklich anerkennen, dass die Wirtschaft sie zu halten bereit ist und große Erfolge vorzuweisen hat. Ich füge hinzu, dass mich die Nachricht vom DIHK besorgt gemacht hat, dass man 30.000 junge Menschen, die eine Lehrstelle suchen, angeschrieben hat und nach zweimaligem Anschreiben 10.000 junge Menschen nicht geantwortet haben. Das ist etwas, was zur Verantwortung von Erziehern und der jungen Menschen selber gehört, dass die Chancen, die einem geboten werden, auch genutzt werden. Wenn das nicht der Fall ist, dann macht es keinen Sinn, mit Fingern auf andere zu zeigen. Meine Damen und Herren, wir haben im europäischen Maßstab eine Diskussion über die Beteiligung von Arbeitnehmern. Ich bin froh, dass Sie, Herr Dr. Hundt, jedenfalls in der Tendenz eine ähnliche Position vertreten haben. Klar ist dabei auch: über die Einzelheiten werden wir dann zu streiten haben. Ich glaube, dass man in Reformprozessen wie die, in denen wir sind, die Menschen mehr mitnehmen muss, ihnen mehr erklären muss und sie mehr teilhaben lassen muss an Entscheidungen, als wenn wir in ruhigeren Zeiten lebten. Mein Plädoyer für die Mitbestimmung - damit meine ich ausdrücklich auch die, die es in Deutschland gibt - , hat etwas mit dieser Erkenntnis zu tun. Wir leben in einer Umbruchzeit, gekennzeichnet durch radikale Veränderungen unter dem Stichwort Globalisierung einerseits und demographische Entwicklung andererseits. Wir leben in einer Umbruchzeit, und die Menschen spüren das auch. Darum gibt es ja auch Verunsicherungen. In dieser Umbruchzeit muss man deutlich machen: Wir schaffen das zusammen. Deshalb muss man Menschen nicht nur an den Erfolgen, die es geben wird, sondern auch an den Entscheidungen beteiligen. Das ist der Inhalt meines Plädoyers für die Mitbestimmung. Deswegen meine Warnung an diejenigen, die wollen, dass die Reformprozesse gelingen: Belastet uns nicht mit einer solchen Debatte, sondern helft uns über Beteiligung, Motivation zu schaffen. Das ist doch der Sinn einer betrieblichen wie einer überbetrieblichen Mitbestimmung. Deswegen streite ich ausdrücklich dafür, hier und anderswo. Meine Damen und Herren, was zum Bildungssystem gesagt wurde, sowohl zu den Schulen als auch zu den Hochschulen, das teile ich. Ich bin Ihrer Auffassung. Ob man für das Erststudium Studiengebühren von allen verlangen soll oder nicht, das ist eine Frage, die ich vor dem Hintergrund meiner eigenen Entwicklung anders beurteile als sie. Aber was die Frage der Effizienz angeht, was die Frage der Förderung aller angeht, sind wir uns einig. Schließlich sollten wir hinzufügen - aus zwei Gründen, zum einen wegen der Geschlechtergerechtigkeit und zum anderen aus ökonomischer Vernunft - , dass wir es schaffen müssen, gut ausgebildete Frauen mehr Möglichkeiten in der deutschen Wirtschaft zu eröffnen. Denn die Vorstellung, dass man einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, den es wahrscheinlich noch in dieser Debatte geben wird, allein durch Zuwanderung ausgleichen könnte, übersteigt die Integrationskraft unserer Gesellschaft. Deswegen gibt es nur die Möglichkeit, in einer gemeinsamen Anstrengung von Staat und Wirtschaft auf allen Ebenen dafür zu sorgen, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen, damit Frauen in unserer Gesellschaft ihre Potenziale besser nutzen können. Ich bin fest davon überzeugt, dass das nötig ist und bin dankbar, dass es auch auf diesem Gebiet eine Zusammenarbeit gibt zwischen der Bundesregierung einerseits und den Verbänden der Wirtschaft andererseits. Ich will das ausdrücklich anerkennen. Meine Damen und Herren, ich bin gern gekommen, um unsere Vorstellungen zur Fortsetzung der Reformen und ihrer Durchsetzung zu referieren. Ich bin gern gekommen, weil ich deutlich machen möchte, dass bei allem, was es in einer Demokratie an vernünftigem, gelegentlich auch unvernünftigem Streit geben kann und geben muss, uns jedenfalls eines verbindet, nämlich dieses Land nach vorn zu bringen. Über das Ziel streiten wir nicht; über die Wege dahin werden wir weiter miteinander diskutieren. Aber Entscheidungen auf dieser Basis zu finden und sie durchzusetzen, wird dann eine gemeinsame Aufgabe sein und bleiben.