Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 17.11.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich der Südosteuropa-Wirtschaftskonferenz des DIHK am 17. November 2004 in Berlin.
Anrede: Sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten, liebe Frau Ministerin, lieber Herr Präsident Braun, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/97/747097/multi.htm


diese Konferenz macht deutlich, dass die Verbindungen zwischen Deutschland und den Staaten Südosteuropas nicht nur auf politischer Ebene, sondern vor allen Dingen auch auf wirtschaftlicher Ebene immer enger werden. Wir arbeiten gerade im Bereich der Wirtschaft erfolgreich zusammen. Die Steigerungsraten im wirtschaftlichen Austausch, aber auch bei den direkten Investitionen sind beachtlich. Ich finde es wirklich sehr gut, dass Sie, Herr Präsident Braun, dafür gesorgt haben, dass diese Veranstaltung stattfinden kann. Sie setzen damit ein deutliches Zeichen, nämlich das Zeichen, dass die deutsche Wirtschaft sehr wohl begriffen hat, welche Erwartungen es in dieser Region an Deutschland und an den wirtschaftlichen Austausch mit Deutschland gibt. Damit wird aber auch deutlich, welche gewaltigen Chancen es für beide Seiten gibt, wenn wir diese Erwartungen auch wirklich realisieren. Die wirtschaftliche und politische Annäherung unserer Länder schafft in Europa die Grundlage für Frieden, für mehr Sicherheit und als Folge dessen natürlich auch für mehr Wohlstand. Das liegt in beiderseitigem Interesse. Wir wollen eine sogenannte "Win-win-Situation" herstellen. Wir wissen, dass wir nicht nur als diejenigen agieren können, die von der Entwicklung dieser Länder profitieren wollen, sei es bei der Herrichtung der Infrastruktur, sei es beim Export, sei es aber auch bei der Zusammenarbeit in Joint-Ventures. Wir wissen auch, dass wir einen Beitrag leisten müssen, damit die Region sich ökonomisch entwickeln kann und zu mehr Stabilität findet. Es ist gerade die deutsche Wirtschaft, die im Vergleich zu anderen am ehesten bereit ist, nicht nur zu profitieren, sondern auch einen eigenen Beitrag zu leisten, was zum Beispiel Technologietransfer angeht. Es ist gerade auch die deutsche Wirtschaft, die bereit ist, sich in den Ländern, in denen sie in den Märkten tätig ist, auch für Ausbildung zu engagieren und so das Qualifikationsniveau der einheimischen Arbeitskräfte zu verbessern. Diese Strategie im Ökonomischen wie im Politischen zugleich ist die Voraussetzung für die notwendige Heranführung Südosteuropas an die Europäische Union und - dies ist im Wesentlichen geleistet - auch an die NATO. Deutschland wird diesen Prozess weiterhin nach Kräften unterstützen, aus einem allgemeinen politischen Interesse an mehr Stabilität in der Region, aber durchaus auch aus einem eigenen, nationalen Interesse, was die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit angeht. Wir teilen darüber hinaus gemeinsame Ziele, nämlich zu einem demokratisch verfassten, friedlichen und einigen Europa, und zwar in ganz Europa, zu kommen. Auf dieser Grundlage hat die Europäische Union in diesem Jahr zehn neue Mitgliedstaaten aufgenommen. Im Jahr 2007 werden Bulgarien und Rumänien dazukommen. Ich denke, dass die Europäische Union im Dezember beschließen wird, mit Kroatien zu Beginn des nächsten Jahres - nach meinem Dafürhalten spätestens im März des nächsten Jahres - Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Also das zu realisieren, was der Europäische Rat beschlossen hat, und zwar, ohne zusätzliche Bedingungen zu formulieren. Der Europäische Rat wird sich dann mit dem Beitrittsantrag Mazedoniens beschäftigen. Dazu ist es erforderlich, dass die Kommission diesen Antrag zunächst einmal bewertet. Die Europäische Union will und wird zur Unterstützung dieses Annäherungsprozesses mehr als 20 Programme für die Staaten des westlichen Balkans öffnen. Ich bin zuversichtlich, dass wir auf dem EU-Westbalkan-Forum, das bereits in der nächsten Woche stattfindet, die entsprechenden Abkommen auch unterzeichnen können. Meine Damen und Herren, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union einerseits und die Länder Südosteuropas andererseits sind aufeinander angewiesen. Das gilt für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, das gilt aber nicht zuletzt auch für Fragen der Sicherheit und des Friedens auf dem ganzen Kontinent. Das vergangene Jahrzehnt hat uns in schmerzhafter Weise vor Augen geführt, dass die Probleme und Konflikte auf dem Balkan für alle Staaten, auch für die nicht unmittelbar Konfliktbeteiligten, von großer Bedeutung sind. Das macht unser gemeinsames Interesse an der Lösung dieser Konflikte aus. Niemand sollte glauben, dass man sich im übrigen Europa von den dortigen Entwicklungen quasi abkoppeln könnte. Auf Dauer wird das nicht gelingen, denn entweder schaffen wir es, Entwicklung in diesen Länder zu ermöglichen, oder die Stabilität wird nicht so sein, dass sie Grundlage wirklich nachhaltigen Wachstums sein kann. Die Europäische Union und die NATO haben daher eine Art Doppelstrategie beschlossen und damit auf die Situation reagiert. Sie beruht zum einen auf militärisch-politischer Stabilisierung, und sie beruht zum anderen - das ist das wesentliche Thema des heutigen Tages - auf der Heranführung der Staaten des westlichen Balkans an die Europäische Union, naturgemäß auch an die NATO. Dazu gehört die Angleichung der politischen und der wirtschaftlichen Standards. Wir haben mit der Strategie bei der politischen Stabilisierung und der wirtschaftlichen Entwicklung Südosteuropas beachtliche Erfolge erzielt. Wenn ich "wir" sage, dann meine ich in erster Linie die Akteure in den Ländern selbst. Denn was da unter sehr schwierigen Bedingungen und von sehr schwierigen Ausgangspositionen aus in den vergangenen Jahren geleistet worden ist, das kann sich wirklich sehen lassen. Auch wenn längst noch nicht alle Träume erfüllt sind - aber wo sind schon alle Träume erfüllt! - , sollte man die beachtlichen Erfolge derjenigen, die diesen Prozess vorangebracht haben und die ihn heute steuern, wahrlich nicht klein schreiben. Es gibt - das muss man genauso klar sagen - weiterhin zwei ganz große Herausforderungen. Erstens müssen wir neue Konflikte verhindern, damit die Region sich weiter stabilisieren kann. Das ist der Grund, warum Deutschland in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo auch militärisch engagiert bleiben wird, und zwar so lange, bis eine selbsttragende Stabilität erreicht ist. Wir hoffen, dass das bald geschehen kann, aber unser Engagement dient ja gerade dazu, das zu ermöglichen, und kann deswegen nicht zur Unzeit zurückgenommen werden. Zweitens geht es uns um die wirtschaftliche Entwicklung und den Fortschritt in der Region mit dem Ziel - sicher in einem längeren Prozess - der Angleichung an die Standards der Europäischen Union. Die Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit und zwischen den Staaten Südosteuropas ist dabei von besonderer Bedeutung. Regionale Zusammenarbeit kann einen entscheidenden Beitrag leisten, um den zum Teil noch bestehenden Teufelskreis aus Unterentwicklung, aus Armut und auch aus Gewalt zu durchbrechen. Die Bundesregierung hat sich im Rahmen des Stabilitätspaktes maßgeblich an der Unterstützung für die Länder Südosteuropas beteiligt. Die Bilanz der vergangenen fünf Jahre zeigt - bei allem, was noch fehlt - , dass die Richtung stimmt und dass wir in dieser Richtung weiterarbeiten müssen. Dabei wurden die Schwerpunkte auf die Gebiete Menschenrechte und Demokratie, Sicherheit, aber eben auch wirtschaftlicher Wiederaufbau, Entwicklung und regionale Zusammenarbeit gelegt. Das hat sich bewährt. Die Fortschritte beim wirtschaftlichen Aufbau sind ohne Zweifel erkennbar. Eine Vielzahl von Projekten der regionalen Zusammenarbeit wurde auf den Weg gebracht. In Europa - das kann man wirklich vor diesem Hintergrund sagen - sind aus einstigen Gegnern enge Freunde und Partner geworden, und zwar solche, die zukünftige Aufgaben gemeinsam angehen und die sich gegenseitig helfen. Ich bin ziemlich sicher, dass diese im Grundsatz positive Entwicklung die Zukunft Südosteuropas prägen wird. Ich will ein paar Beispiele nennen, die mir wirklich großen Respekt abverlangen: Die Gesten der Versöhnung zwischen den Präsidenten Kroatiens und Serbien und Montenegros haben sehr eindrucksvoll gezeigt, was möglich ist und was man vielleicht vor etlichen Jahren noch gar nicht für möglich gehalten hätte. Ich finde, das verdient wirklich Ermutigung. Um diese Entwicklung weiter zu fördern, gilt es, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch gesellschaftspolitische Reformen dauerhaft zu sichern. Das ist die wirkliche Aufgabe, und dabei sollten wir eng zusammenarbeiten. Denn nur dies wird dazu beitragen, alte Rivalitäten und einen Rückfall in Nationalismus zu verhindern und damit natürlich Frieden und Entwicklung für die Region zu gewinnen. Deutschland - das will ich hier sehr klar sagen - unterstützt die auf dem Europäischen Rat in Thessaloniki im vergangenen Jahr bekräftigte europäische Perspektive für die Länder des westlichen Balkans. Ich stimme Herrn Braun zu, dass die Zeitdauer, die man braucht, um den Weg zu Ende zu gehen, unterschiedlich sein wird. Das weiß man in den Ländern auch. Aber für alle muss die Möglichkeit gegeben sein. Diese Perspektive wird umso rascher Wirklichkeit werden, je entschlossener die begonnenen Reformen weiter verfolgt und durchgesetzt werden. Es reicht ja nicht, dass sie auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gesellschaftliche Wirklichkeit werden. Auch bei der Umsetzung dessen, was als richtig erkannt ist, wollen wir hilfreich sein. Diese Perspektive wird aber auch davon abhängen, wie sich nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, sondern auch das Zusammenleben der Menschen in Südosteuropa entwickelt. Zivilgesellschaftlicher Austausch wird dazu beitragen, Frieden und Entwicklung dauerhaft zu sichern. Der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität wird das gegenseitige Vertrauen stärken und so zu einem Mehr an Sicherheit beitragen, was Voraussetzung für die Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist. Meine Damen und Herren, beim Übergang von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer funktionierenden Marktwirtschaft können die Länder Südosteuropas auch weiterhin auf die Unterstützung Deutschlands zählen. Bislang - das konnte auch nicht anders sein - lag ein Schwerpunkt auf dem Aufbau der Infrastruktur. Es geht jetzt darum, darauf aufbauend attraktive Standorte für Investitionen zu schaffen, denn diese direkten Investitionen schaffen Arbeit. Ich will in diesem Zusammenhang auch bestimmten Ängsten in Deutschland entgegentreten. Diese Form des wirtschaftlichen Austausches zeigt, dass das dortige Engagement positive Rückwirkungen auf die Arbeitssituation in Deutschland hat. Es ist nicht so, dass eine Investition in einem anderen Land notwendigerweise zu Lasten der Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland ginge. Alle Erfahrungen zeigen, dass diese Art von Gemeinsamkeit beiden Seiten hilft, weil auch in Deutschland industrielle Arbeitsplätze stabilisiert werden. Diese Form der Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse ist zum einen geeignet, Wanderungsbewegungen auszuschließen, und zum anderen führt es dazu, dass gerade für ein so stark vom Export abhängendes Land wie Deutschland sich die Situation weiter verbessert. Das auch in der Öffentlichkeit immer wieder klar zu machen und damit bestimmten Ängsten vor einer globalen Tätigkeit einer so qualifizierten und so internationalisierten Wirtschaft wie Deutschland entgegenzutreten ist unser aller Aufgabe. Freihandelsabkommen haben die Attraktivität Südeuropas für Handel und Investitionen deutlich erhöht. Dort existiert inzwischen ein gemeinsamer Markt von 55 Millionen Konsumenten. Für europäische Investoren wird bei der Entscheidung über einen Standort aber auch entscheidend sein, welches rechtliche Umfeld besteht und wie kalkulierbar ein Engagement ist. Dies betrifft insbesondere die gesetzlichen Rahmen, aber eben auch die tägliche Verwaltungspraxis. Die Entwicklung des Warenaustausches mit den Ländern Südosteuropas hat sich wirklich sehr günstig, um nicht zu sagen: hervorragend entwickelt. In den vergangenen fünf Jahren stiegen die deutschen Einfuhren aus der Region um mehr als 35 Prozent auf immerhin rund 5 Milliarden Euro. Hinzu kommt, dass die deutschen Exporte im gleichen Zeitraum um mehr als 50 Prozent auf rund 8,6 Milliarden Euro gestiegen sind. Das habe ich gemeint, als ich über eine "Win-win-Situation" sprach. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich dieser Trend fortsetzen wird. Er kann sich insbesondere dann fortsetzen, wenn durch Veranstaltungen wie diese, aber auch durch konkrete Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen die Austauschbeziehungen verstärkt werden. Deutschland ist ein verlässlicher Partner für die Annäherung der Länder Südosteuropas an die Union. Man weiß, dass auf uns in diesen Fragen Verlass ist. Das wird auch so bleiben. Das wird sich auch in den Beitrittsfragen, die anstehen, ausdrücken. Für deutsche Unternehmen bieten sich jetzt verstärkte Möglichkeiten und Chancen zur Teilhabe an der regionalen Kooperation in Südosteuropa. Durch die Nutzung dieser Chancen können die Menschen dort eine Perspektive gewinnen und Vertrauen in die Zukunft haben. Wir haben also eine Perspektive, für die es sich lohnt, die nicht einfachen Reformprozesse wirklich voranzutreiben. Wenn man weiß, wie schwer es ist, Veränderungen nicht nur zu predigen, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit werden zu lassen, dann weiß man auch, wie schwer es die Kollegen in ihren Ländern gelegentlich haben. Ich kann Ihnen, verehrte Kollegen, nur jeden Erfolg wünschen. Ich freue mich wirklich, dass Sie, Herr Braun, diese Veranstaltung organisiert haben, und hoffe, dass von ihr weitere Impulse für eine engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Südosteuropa ausgehen.