Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 20.11.2004

Untertitel: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am 20. November in Berlin eine Laudatio anlässlich der Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin an den ehemaligen Bundespräsidenten, Dr. Johannes Rau, gehalten.
Anrede: Verehrter Herr Staatspräsident, verehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Blumenthal, verehrte, liebe Christina Rau, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/32/748232/multi.htm


Der heute zum dritten Mal im und vom Jüdischen Museum vergebene Preis für Verständigung und Toleranz ist von ganz herausragender Bedeutung in Deutschland. Er ist Persönlichkeiten gewürdigt, die sich auf ganz besondere Frage in einer ganz besonderen Weise eingelassen haben: Was müssen wir tun, damit wir in unserer Gesellschaft auch in Zukunft friedlich, respektvoll, eben menschlich zusammenleben können? Wir - das sind Menschen, die entweder in Deutschland geboren oder als Flüchtlinge, Aussiedler oder Arbeitsmigranten zu uns gekommen sind. Also Menschen verschiedener Herkunft, Sprachen, kultureller Prägungen, Religionen und Hautfarben. Wie wir unter den Bedingungen einer solchen Vielfalt und Verschiedenartigkeit miteinander leben, ist für den Menschen, den Politiker und das Staatsoberhaupt Johannes Rau niemals ein abstraktes Thema gewesen. Johannes Rau weiß nur zu gut um Vorurteile, Ängste und Sorgen, die aus unzureichender Aufklärung resultieren oder die in den alltäglichen Lebensverhältnissen der Menschen wurzeln. Er ist sich stets bewusst, dass es zwangsläufig Probleme und Konflikte geben muss, wenn Menschen solch unterschiedlicher Herkunft zusammenleben. Er weiß auch, dass es deswegen verbindlicher normativer Regeln für eben dieses Zusammenleben bedarf. Er hat besonnen, aber eindringlich vor einer geradezu romantisch-schwärmerischen Ausländerfreundlichkeit gewarnt, weil sie Schwierigkeiten bloß ignoriert, statt zu ihrer Lösung beizutragen. Wie kaum ein anderer hat sich Johannes Rau in fast fünf Jahrzehnten gegen Ausländerfeindlichkeit und vor allem gegen Antisemitismus eingesetzt. Nach innen hat er mit seinen Appellen an Toleranz und Verständigung sehr wichtige Diskussionen angestoßen. In der Vertretung nach außen hat er durch sehr, sehr angemessene Worte, aber eben durch klare Haltungen viele Sympathien für unser Land gewonnen. Die Jury für den Preis für Verständigung und Toleranz jedenfalls hätte nach meiner Auffassung keine bessere Wahl treffen können. Ich spreche gewiss im Namen aller Anwesenden unser großes Bedauern darüber aus, dass Johannes Rau an diesem Abend nicht bei uns sein kann. Liebe Christina Rau, ich bitte Sie, Ihrem Mann meine persönlichen wie auch die herzlichen Genesungswünsche aller Gäste der heutigen Veranstaltung zu überbringen. Meine Damen und Herren,"Politik ist angewandte Liebe zur Welt". Das ist ein berühmter Satz von Hannah Arendt. Der Satz beschreibt eher ein Ideal als eine Realität. Gleichwohl für Johannes Rau und sein Verständnis von Politik scheint mir dieser Satz durchaus zutreffend. Was ihn angeht, vielleicht mit einer kleinen Präzisierung. Er hätte wohl eher gesagt: "Politik ist angewandte Liebe zur Welt, aber jedenfalls zu den Menschen." Das umfasst nicht weniger als die Verpflichtung, sich mit ganzer Kraft - und seien die Mittel auch noch so bescheiden - für eine bessere, lebenswertere und allemal für eine friedlichere Welt einzusetzen. Humanismus, Solidarität und Nächstenliebe, wie Johannes Rau sie vorlebt, sind ohne die Erfahrungen - und vor allem: die Auseinandersetzung - mit dem Nationalsozialismus kaum zu verstehen. Unvergessen geblieben ist Johannes Raus erste Begegnung mit einem Juden in seinen Kinderjahren, wie er uns berichtet. Die Situation ereignete sich beinahe zufällig in einer Straßenbahn. Der junge Gymnasiast Rau ist mit einigen Schulkameraden unterwegs. Ein Mann erregt die Aufmerksamkeit der Schülergruppe, weil er seine Aktentasche verängstigt an die Brust presst. Beim Aussteigen erkennen die Schüler den gelben Stern. Diese Begebenheit hat den jungen Menschen Johannes Rau nachhaltig geprägt. Er hat nie vergessen können, dass dieser Mann Angst vor den Schülern hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Zivilisationsbruch des Holocaust hat seine Einstellungen, und wie er selbst sagt, sein Leben verändert. Fortan engagiert sich der überzeugte Christ in der Politik und für das Gemeinwohl. Immer bestrebt, eine Gesellschaft zu schaffen, in der niemand Angst vor anderen Menschen haben muss. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen ohne Angst auch verschieden sein können. Meine Damen und Herren, gerade dem Staat Israel und dem Judentum fühlt sich Johannes Rau eng verbunden. Das Wiedererblühen jüdischen Lebens in Deutschland ist ihm ein unverzichtbarer Teil unserer Demokratie, aber eben mehr noch: auch und gerade unserer Kultur. Zu Israel hat Johannes Rau durch viele Reisen und durch intensive Begegnungen mit den Menschen ein außergewöhnlich tiefes und freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Für uns Deutsche ist die besondere Beziehung zu Israel, das Bekenntnis zu dessen staatlicher Existenz in sicheren Grenzen, ein Grundpfeiler unserer Außenpolitik. Das war so. Das ist so. Und das wird so bleiben. Für Johannes Rau ist es daneben und vielleicht zuallererst die Mitverantwortung für ein Land, das den Überlebenden der Shoah die ersehnte Heimstätte gegeben hat. Es ist daher auch kein Zufall, dass Johannes Rau als erster deutscher Bundespräsident in einer wahrlich historischen Rede vor der Knesset um Vergebung gebeten hat, und zwar Vergebung für das unermessliche Verbrechen des Holocaust. Damit hat der Bundespräsident ausgedrückt, was die Deutschen nach wie vor als Verantwortung für ihre Geschichte empfinden. Unsere Aufgabe besteht mehr denn je darin, die kommenden Generationen über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aufzuklären, denn nur wer sich erinnert, auch wenn er keine Schuld auf sich geladen hat, kann wirklich verantwortungsbewusst mit der Geschichte seines Volkes umgehen. Meine Damen und Herren, ohne diese Erinnerung kann es keine Freiheit und ohne diese keine Zukunft geben. Eine zwingende Konsequenz lautet denn auch: Wir werden jeder Form von Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Antisemitismus auch weiterhin mit aller Entschiedenheit in unserem Land und darüber hinaus entgegentreten, weil diese Einstellungen und Haltungen die fundamentalen Grundlagen unserer Zivilisation und damit unseres Zusammenlebens in Frage stellen. Diese Auseinandersetzung ist übrigens keine, die gleichsam an die Politik oder an die Polizei und Justiz wegdelegiert werden könnte. Nein, diese Auseinandersetzung betrifft uns alle, fordert die ganze Gesellschaft. Nichts anderes war mit dem Begriff vom "Aufstand der Anständigen" gemeint. Anstand eben nicht verstanden als eine Stilfrage, sondern ausdrücklich als eine Kategorie der politischen Moral. Anstand begriffen als Achtung vor uns selbst und vor anderen, als sorgsamer Umgang miteinander, ist dann nichts anderes als die Basis von Zivilisation. Einer Zivilisation, für die die Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte, die Garantie von Meinungs- , Glaubens- und Religionsfreiheit elementar sind, aber - auch das ist auch gewiss - immer wieder aufs Neue errungen werden müssen. Durch Bürger, die nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht, die Zivilcourage gerade im Alltag beweisen. Bürger, die ihre Stimme dann erheben, wenn der Versuch gemacht wird, Geschichte umzudeuten. Meine Damen und Herren, der heutige Preis wird aufgrund beispielhafter Leistungen für Verständigung und Toleranz verliehen. Nach dem bestialischen Mord und den Anschlägen auf Moscheen und Kirchen in den Niederlanden sind das Begriffe, die auch bei uns Gegenstand einer notwendigen Debatte geworden sind. Mir sind dabei zwei Dinge besonders wichtig: Zum einen dürfen wir uns durch dieses Verbrechen nicht in einen Kampf der Kulturen - also der Zivilisationen - drängen lassen. Es gibt keinen Bedarf an "Kreuzzügen", wie auch immer sie motiviert sein mögen. Extremismus und Terrorismus sind Herausforderungen für jede Gesellschaft. Mehr denn je stehen wir vor der Aufgabe, einen Kampf um die Kultur zu führen. Wir müssen in Europa die Gedanken der Aufklärung als Leitlinien für Politik verteidigen und bewahren. Erfolgreich können wir nur sein, wenn wir uns gemeinsam dieser Herausforderung stellen. Zum anderen: Dabei dürfen die vielen Muslime, die bei uns leben und leben wollen, eben nicht teilnahmslos beiseite stehen. Sie müssen sich klar und unmissverständlich zu unserer Rechtsordnung und unseren demokratischen Spielregeln bekennen. Nicht ohne Grund bezeichnen wir die Werte der Demokratie und der Aufklärung als universelle Werte. Davon werden wir auch nicht abgehen. Werte, die auch diejenigen akzeptieren und verinnerlichen müssen, die aus einer anderen Kultur stammen. Sie sind eben die Basis unseres gemeinsamen Zusammenlebens, und zwar unabhängig von den kulturellen Unterschieden. Toleranz, davon bin ich sehr überzeugt, kann es nur innerhalb klar definierter Grenzen geben. Weder kann eine Demokratie rechtsfreie Räume noch kann sie Parallelgesellschaften dulden. Die Vielfalt der Kulturen in unseren Gesellschaften ist eine Tatsache, die sich nicht zurückdrehen lässt und die wir auch nicht zurückdrehen wollen sollten. Aber keine Kultur darf sich aus dem gesellschaftlichen Gefüge herauslösen. Wir müssen darauf bestehen, dass unserer Integrationsbereitschaft ein Integrationswille bei denen entspricht, die zu uns kommen. Dazu gehört zuallererst die Bereitschaft und Fähigkeit zur "Verständigung" - ganz im Sinne dieses Wortes: durch Sprachkompetenz. Ohne sie können keine Integration und kann kein Dialog gelingen. Johannes Rau hat das in seiner ersten Berliner Rede vor 4 œ Jahren präzise formuliert. Ich zitiere: "Integration braucht langen Atem und Geduld. Sie braucht die Offenheit der angestammten Bevölkerung. Noch mehr braucht sie aber die Bereitschaft und die Anstrengung der neu Dazukommenden - die Bereitschaft, nicht nur dazu zu kommen, sondern auch dazu gehören zu wollen." Meine Damen und Herren, die offene Gesellschaft kann nur auf einem verbindlichen gemeinsamen Wertefundament gedeihen. Toleranz ist unverzichtbar für offene Gesellschaften. Toleranz darf jedoch nicht mit Beliebigkeit und Gleichgültigkeit verwechselt werden. Wir müssen einerseits Toleranz fördern, aber sie eben auch einfordern. Auf der anderen Seite muss Toleranz die Gemeinschaft auch fordern. In diesem Sinne hat Johannes Rau für Respekt, Achtung, Verständigung, Toleranz und den Dialog der Kulturen geworben. Meine Damen und Herren, ich gratuliere Johannes Rau und auch Michael Otto ganz herzlich zum Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums.