Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.11.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich der Berliner Konferenz für Europäische Kulturpolitik "Europa eine Seele geben" am 26. November 2004 in Berlin.
Anrede: Verehrter, lieber Herr Bundespräsident! Verehrter Herr Kommissionspräsident, lieber Jose-Manuel! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/12/751512/multi.htm


Es ist bereits zitiert worden. Der große Europäer Jacques Delors hat mit seinem Ausspruch "Europa eine Seele geben" ein wirklich geflügeltes Wort in der europäischen - und nicht nur in der europäischen - Politik geprägt. Unzählige Kongresse und Konferenzen haben unter diesem Motto stattgefunden. Das kann niemanden überraschen, denn wer wollte nicht bei der Suche nach europäischer Sinngebung mitwirken? Eine Frage ist, ob diese Mahnung, die schon vor einiger Zeit ausgesprochen worden ist, in diesem Ausmaß noch zeitgemäß ist oder ob wir auf dem Wege dorthin nicht doch schon etwas erreicht haben. Ist wirklich noch zweifelhaft, was Europa - so ist die Mahnung ja gemeint - im Innersten zusammenhält? Mein Eindruck ist: Viele Fragen nach der vermeintlich unbekannten Seele Europas sind auf eines zurückzuführen, dass manche dazu neigen, die erreichten Fortschritte im europäischen Integrationsprozess gelegentlich auch zu relativieren. Tut man das, so verstellt sich einem der Blick darauf, dass die europäische Einigung historisch und politisch insgesamt eine einzigartige Erfolgsgeschichte ist. Wir können deshalb mit Stolz und durchaus selbstbewusst auf das hinweisen, was die Gründerväter und -mütter der Europäischen Union und seitdem mehrere Generationen geschaffen haben. In diesem Jahr sind zehn europäische Staaten als neue Mitglieder der Europäischen Union beigetreten. Damit ist der Traum früherer Generationen Wirklichkeit geworden. Europa hat seine jahrzehntelange Trennung endgültig überwunden. Was sich am 1. Mai vollzogen hat, wird gemeinhin als "Osterweiterung" bezeichnet. Das ist auch nicht falsch. Aber genau genommen hat sich Europa durch die Beitritte nicht ausgedehnt. Vielmehr sind Völker und Staaten, die Teil Europas sind und die sich ganz natürlich immer als Europäer verstanden haben, in die europäische Familie zurückgekehrt. Die Beitritte sind also nichts anderes als die konsequente Fortsetzung der europäischen Einigung. Übrigens werden sie nicht der Abschluss des europäischen Einigungsprozesses sein. Bereits im Jahre 2007 werden Bulgarien und Rumänien hinzukommen. Zu Beginn des nächsten Jahres werden vermutlich Beitrittsverhandlungen mit Kroatien aufgenommen werden. Auch den Staaten auf dem Balkan können und wollen wir mittelfristig eine europäische Perspektive eröffnen. Im nächsten Monat wird der Europäische Rat über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden. Er wird das übrigens auf der Basis einer außerordentlich klugen und weitsichtigen Empfehlung der Europäischen Kommission tun. Meine Hoffnung, ja, meine Erwartung, ist, dass man sich möglichst eng an die Empfehlungen der Europäischen Kommission in dieser Frage hält, weil das von ungeheurer Bedeutung ist. Ich weiß, dass angesichts dieser Erweiterung manche Skeptiker vor einer Überdehnung der Europäischen Union warnen. Aber ich glaube, dass derlei Befürchtungen unbegründet sind, zum einen, weil jede Erweiterung immer auch mit der Vertiefung der europäischen Integration einhergegangen ist, zum anderen, weil sich das vereinte Europa eben nicht nur geographisch oder gar weltanschaulich definieren lässt. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entscheidet sich vor allem nach politischen Kriterien. Wer den europäischen Werten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten entspricht, dem darf eben auch künftig der Beitritt zur Union nicht versperrt sein. Meine Damen und Herren, neben der historischen Osterweiterung war in diesem Jahr die Verständigung auf eine Verfassung ein weiterer Meilenstein in der europäischen Geschichte. Daran haben wir Deutsche - ich sage das mit Selbstbewusstsein - maßgeblichen Anteil. Bereits unter deutscher Präsidentschaft im Juni 1999 sind die ersten Schritte für die Ausarbeitung einer Grundrechtscharta eingeleitet worden. Auch für den Verfassungskonvent haben wir nicht zuletzt in Nizza ganz entscheidend geworben. Im Verfassungsvertrag bekräftigen alte und neue Mitgliedstaaten ihren festen Willen, das gemeinsame Europa auszubauen, es entscheidungsfähig und damit politisch führbar zu halten bzw. zu machen. Mit dem bisherigen institutionellen Gefüge der Europäischen Union ist das nicht mehr zu leisten. Im Korsett der alten Strukturen und Mechanismen ist Europa an die Grenzen seiner Entscheidungs- und damit seiner Handlungsfähigkeit gestoßen. Der Verfassungsvertrag eröffnet Chancen für eine neue Dynamik im europäischen Integrationsprozess. Damit unterstreicht die Europäische Union ihre historische Ambition. Europa versteht sich als eine soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Gemeinschaft. Europa will nicht nur als äußere Einheit erscheinen, sondern ganz bewusst auch als innere Einheit auftreten und entsprechend handeln. Natürlich ist der Verfassungstext ein Kompromiss. Aber ich denke, er wird in jeder Weise dem hohen Anspruch einer Verfassung gerecht. Die Charta der Grundrechte ist rechtsverbindlicher Bestandteil der Verfassung geworden. Das ist etwas, wofür viele Europäer immer geworben und gekämpft haben. Diese Grundrechte sind das Fundament unser aller demokratischer Ordnung. Auf dem Fundament dieser Grundrechte errichten wir das gemeinsame Europa. Meine Damen und Herren, natürlich wandelt sich die Europäische Union beständig. Sie passt sich neuen Realitäten an. Sie verändert damit ihr Gesicht, aber sie behält ihren Charakter. Der Verfassungsvertrag wird das noch einmal unterstreichen. Heute umfasst die Europäische Union bekanntlich den größten Binnenmarkt der Welt mit mehr als 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Auf den Weltmärkten tritt diese Union als größter Exporteur und Importeur von Waren und Dienstleistungen auf. Dennoch - das ist mir wichtig - ist diese Europäische Union weit mehr als ein gemeinsamer Markt oder eine große Freihandelszone. Der amerikanische Autor Jeremy Rifkin hat die Europäische Union als ersten transnationalen Traum des globalen Zeitalters beschrieben, als eine Institution ganz eigener Art ohne jedes historische Vorbild. Sie agiert wie ein Staat, obwohl sie keiner ist. Sie etabliert eine neue Verfahrensform der Demokratie in Europa, gegründet auf dem Prinzip der gemeinsamen Herrschaftsordnung europäischer Staaten in klar definierten Politikbereichen. Mit diesem verfassten Europa, das es so nie gegeben hat und das wir in diesem Prozess erst gemeinsam erschaffen, verbinden die Menschen auf unserem ganzen Kontinent die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, in Frieden, in Wohlstand und natürlich auch in Sicherheit. Die europäische Integration war die Antwort der europäischen Völker auf Krieg und Zerstörung im vergangenen Jahrhundert. Das ist die erste Zweckbestimmung der europäischen Einheit. Ohne europäische Einigung wäre es wohl nicht gelungen, nationalistische Eigensucht und tief verwurzelte Erbfeindschaften zu überwinden. Frieden durch Integration - das ist die eigentliche Erfolgsformel und die Wesensbestimmung der Europäischen Union. Eine vordringliche Aufgabe der Zukunft wird es sein, eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln, damit Europa seine Stimme erheben kann für den Frieden, für die Prinzipien des Multilateralismus und für eine internationale Ordnung auf der Basis des Völkerrechts. Denn wir wissen, dass Krieg in der Regel keine Konfliktlösung, sondern allenfalls "ultima ratio" sein kann. Meine Damen und Herren, wir Europäer begreifen unser Sozialmodell zu Recht als eine einmalige zivilisatorische Errungenschaft. Nur in Europa hat sich bisher diese spezifische Art des Arbeitens, des Wirtschaftens und des solidarischen Zusammenlebens herausgebildet. Hier ist ein Sozialmodell im Geist und in der Tradition der Aufklärung entstanden, das der Würde und den individuellen Rechten eines jeden Einzelnen verpflichtet ist und das zugleich auf dem Prinzip der Teilhabe möglichst aller Menschen am erarbeiteten Wohlstand, aber auch an den Entscheidungen in der gesamten Gesellschaft beruht. Dieses Sozialmodell ist nicht zu verwechseln oder gleichzusetzen mit ganz konkret ausgestalteten Sozialsystemen, die durchaus unterschiedlich sind, nein: Angesichts der gewachsenen Unterschiede wird es eine solche Vereinheitlichung nicht geben. Charakteristisch für ganz Europa ist aber die hinter diesem Sozialmodell stehende Philosophie. Für alle Menschen existiert ein freier Zugang zu Bildung. Die Gleichberechtigung der Geschlechter soll in allen Lebensbereichen verwirklicht werden. Die Arbeitsbeziehungen sind rechtlich verbindlich geregelt. Willkür und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen bleiben ausgeschlossen. Vor allem: In allen Mitgliedstaaten besteht die Erwartung, dass ungleiche Lebenschancen durch aktive Gesellschaftspolitik ausgeglichen werden, dass Staat und Politik verpflichtet sind, sozialen Schutz und soziale Balance zu garantieren, dass es eine öffentliche Verantwortung dafür gibt, dass es in unseren Gesellschaften auch gerecht zugeht. Die Menschen in Europa wollen, dass sie bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter nicht allein ihrem Schicksal überlassen sind. Ich denke, das hat etwas zu tun mit einem bestimmten Menschenbild, das wir miteinander pflegen. Das ist, wenn man so will, der europäische Mittelweg zwischen einem extremen Individualismus, in dem der Einzelne alles gilt, und einem extremen Kollektivismus, in dem der Einzelne wenig gilt. Europa zeichnet sich durch eine Symbiose von Individualität und Solidarität aus. Das ist ein Modell, das die besten Zukunftschancen bietet. Ich meine, wir müssen es bewahren und natürlich ständig entwickeln; denn in Gesellschaften, deren ökonomische Basis sich so schnell, so radikal und so dauerhaft verändert, können die politischen Überbausysteme nicht statisch bleiben. Meine Damen und Herren, die europäische Integration ist auch unsere Antwort auf die Globalisierung und Internationalisierung der Wirtschaft. Das ist die zweite Zweckbestimmung der europäischen Einheit. In unserer Welt mit ihren Außenhandelsverflechtungen, mit liberalisierten Finanzmärkten und einer zunehmenden internationalen Arbeitsteilung gibt es keine nationale Autonomie oder gar Autarkie mehr. Der europäischen Zusammenarbeit liegt gerade diese Erkenntnis zugrunde. Die großen Probleme unserer Zeit wie Arbeitslosigkeit, grenzüberschreitende Kriminalität, Migration, Terrorismus lassen sich nur in Zusammenarbeit über bisherige Grenzen hinweg lösen. Uns allen ist längst bewusst, dass kein Staat mehr allein die Sicherheit seiner Bürger garantieren kann. Dazu braucht es mehr internationale Kooperation, und das heißt für uns zuallererst: ein starkes, aber eben auch ein handlungsfähiges Europa, ein Europa, das dem Credo verpflichtet ist, dass man gemeinsam mehr erreicht als jeder für sich. Deswegen handelt heute gerade derjenige souverän und auch verantwortlich, der bereit ist, nationale Souveränitätsrechte auf die europäischen Institutionen zu übertragen, weil nur so die Ziele erreicht werden können, an denen einzelne Staaten, egal, wie groß sie sind, zwangsläufig scheitern müssen. Meine Damen und Herren, damit gar keine Missverständnisse aufkommen: Mein Plädoyer für mehr Integration und verstärkte Zusammenarbeit zielt nicht auf die Einrichtung eines europäischen Superstaates. Europa ist und bleibt eine Organisation sui generis, die sich auch in Zukunft an den bewährten föderalen Grundsätzen orientieren und das Prinzip der Subsidiarität strikt beachten wird; denn auch das ist Europa: Ihre kulturellen Identitäten bilden die Menschen aus der Vielzahl und Vielfalt nationaler und regionaler Traditionen, aus historischer Erfahrung, aus der vielschichtigen Geistesgeschichte, aus griechisch-römischem Einfluss, aus Reformation und Aufklärung und auch aus dem Austausch mit der islamisch-arabischen Welt. Im Europa der Zukunft wird es nach meiner Auffassung weiterhin Nationalstaaten und Regionen mit eigenen Zuständigkeiten und eigenen Rechten geben, über die sich die Menschen verorten und selber definieren können. Die europäische Verfassung bringt das unter der Devise "In Vielfalt geeint", wie ich finde, treffend zum Ausdruck. Im Respekt vor anderen Kulturen. In der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen, in der Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenartigkeit besteht das kulturelle Fundament der europäischen Integration. Europa ist das gelebte Bekenntnis zur Pluralität. Mir scheint, das gerade jetzt zu betonen, in sehr aufgeregten und gelegentlich aufgewühlten Zeiten, ist besonders wichtig. Wir dürfen nicht zulassen, dass Fremdes von vornherein als Feindliches angesehen wird. Die Anerkennung des anderen als eines Gleichen ist ein kultureller Fortschritt, der Europa auszeichnet und für den wir überall in der Welt eintreten. Meine Damen und Herren, im 19. Jahrhundert empfanden sich die Menschen für lange Zeit noch eher als Bayern, als Kurpfälzer, natürlich auch als Hannoveraner, als Lombarden oder als Neapolitaner und nicht so sehr als Deutsche oder als Italiener. Im Laufe der Zeit ist aus der landsmannschaftlichen Verbundenheit und der nationalen Zugehörigkeit gleichsam eine doppelte Identität erwachsen. Heute erleben wir einen ähnlichen Prozess, wie ich jedenfalls meine. Wir erschaffen Europa, aber wir haben natürlich noch keine Europäer. So lauten jedenfalls die Einwände der Skeptiker. Ich rate da zu Geduld und Gelassenheit. Mehr und mehr - dessen bin ich mir sicher - wird sich die kulturelle Identität der Menschen um eine europäische Dimension erweitern. Das ist ein naturwüchsiger Prozess, den man nicht einfach verordnen kann. Die Menschen werden sich nur aus freien Stücken als Angehörige des jeweiligen Mitgliedstaats, aber dann eben auch als Europäer empfinden können. Die Grundlage dafür, ein Gefühl europäischer Zusammengehörigkeit, hat sich jedenfalls - dessen bin ich mir sicher - längst herausgebildet. Das ist etwas anderes als die emotionale Bindung an eine ferne Institution. Für die Menschen ist Europa weit weg, mehr als Brüssel oder Straßburg. Europa wächst gewissermaßen ganz konkret zusammen, und zwar im Alltag der Menschen, ganz selbstverständlich und ganz unspektakulär beim Reisen, beim Gebrauch der einheitlichen Währung, beim Einkaufen, selbst beim Essen. Europa entwickelt sich als Wertegemeinschaft. Nicht Geschichte, Sprache oder Religion machen Europa einzigartig und unterscheidbar, sondern normative Ziele, politische Prinzipien und auch kulturelle Haltungen, Eintreten für den Frieden, Respekt vor dem Individuum, Toleranz im Umgang mit kultureller Vielfalt, aber eben auch Achtung der universellen Menschenrechte, Vertrauen in die Stärke des Rechts und natürlich Verantwortung für kommende Generationen. Das ist auch die Grundlage, auf der wir über Betrittsverhandlungen mit der Türkei diskutieren und auf der Europa die historische Chance hat, eine Brücke in die islamische Welt zu schlagen. Nicht Abgrenzung in religiös definierte Kulturen, sondern plurale Vielfalt ist das gemeinsame Ziel. Eine demokratische Türkei, den europäischen Wertevorstellungen verpflichtet, wäre ein klarer Beweis dafür, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen dem islamischen Bekenntnis einerseits und aufgeklärten modernen Gesellschaften andererseits. Das wäre, wie ich jedenfalls finde, eine großartige Perspektive; denn damit wäre die Türkei ein Vorbild für andere muslimische Länder in unserer europäischen Nachbarschaft. Mit dem Beitritt der Türkei verbindet sich deswegen zu Recht die Hoffnung auf Frieden und Sicherheit mit Ausstrahlung weit über Europa hinaus. Meine Damen und Herren, mit dem Verfassungsvertrag sind die nationalen Regierungen ihrer Verantwortung für das Europa im 21. Jahrhundert nachgekommen. Diese Verfassung ist ein Angebot an die Bürgerinnen und Bürger, ein Angebot an alle Kräfte der europäischen Zivilgesellschaften. Es ist nicht zuletzt an ihnen, die Buchstaben der Verfassung mit Leben zu erfüllen. Ich bin mir ganz sicher, dass Konferenzen und Veranstaltungen wie diese hier dazu einen wesentlichen Beitrag leisten werden.