Redner(in): Christina Weiss
Datum: 26.11.2004

Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss eröffnet mit einem Grußwort die Berliner Konferenz für europäische Kulturpolitik, die am 26. und 27. November 2004 in der Dresdner Bank am Pariser Platz in Berlin stattfindet.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/58/751558/multi.htm


als Stiftungsratsvorsitzende der Kulturstiftung des Bundes heiße ich Sie alle sehr herzlich willkommen zu einer Konferenz, die als Inventur der europäischen Seelenlage gedacht ist. Der Titel klingt wie eine Aufforderung, und so hat ihn Jacques Delors wohl auch gemeint. Als Fingerzeig, sich für Europa zu engagieren, über Binnenmarkt, gemeinsamer Sicherheitspolitik und Maastricht-Kriterien nicht zu vergessen, wie wir wurden, was wir sind, was unser wirklicher, unser geistiger Stabilitätspakt ist. Wir dürfen Europa nicht nur wirtschaftlich betrachten. Die Kulturstiftung des Bundes nimmt diesen Aufruf an, indem sie gezielt grenzüberschreitende Kulturprojekte in Europa fördert. Die Visionen der Künstlerinnen und Künstler, ihr unabhängiges Denken, ihre Grenzüberschreitungen brauchen wir für den europäischen Einigungsprozess. Ich freue mich darüber, dass die Initiative für diese Konferenz gerade von Berlin ausgeht. Wir treffen uns hier am Brandenburger Tor, wo vor fünfzehn Jahren noch versucht wurde, einen Kontinent brutal zu trennen und mit dem Skalpell der Ideologie sogar zu amputieren. Hier wurde die "Tragödie Mitteleuropas" manifest, wie es Milan Kundera formulierte, weil eine geistige Eingemeindung erzwungen wurde, die jeder kulturellen Zugehörigkeit Hohn sprach. Man sollte "kulturell zum Westen, politisch zum Osten und geographisch zur Mitte" gehören. Es war die Kultur, die das "gekidnappte Abendland" zusammenhielt, der Austausch zwischen den ost- und den westeuropäischen Eliten. Als die Mauer fiel und in den euphorischen Novembertagen auch das blaue Europa-Banner wehte, konnte man dieses Bild durchaus als Frage verstehen: Was wollen wir denn nun miteinander anfangen, wie wird das Europa-Projekt aussehen? Die Berliner Konferenz wird der Frage nachgehen, ob mit der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einheit auch die Kultur wieder in Zusammenklang gebracht werden konnte. Václav Havel antwortete auf diese Frage vor einiger Zeit sehr skeptisch: "Europa bricht so sehr unter der Last der Technokratie, der Ausführungsbestimmungen und der Verwaltungsverfahren zusammen, dass es darüber das Wesentliche vergisst: die historische Bedeutung des Wiedervereinigungsprozesses." Für mich ist wesentlich, dass der kulturelle Raum wieder begehbar ist. Polen, Ungarn, Slowaken oder Tschechen kehren nach Europa zurück, das sie - ihrem eigenen Selbstverständnis nach - nie verlassen haben. Und sie entdecken es neu. Dennoch: Auf beiden Seiten wissen nur noch wenige, was uns einst verbunden hat. Dabei muss man kein Historiker sein, um in Polen oder in den baltischen Ländern, in der Ukraine oder in Ungarn die architektonischen Spuren eines gemeinsamem Kulturraumes zu entdecken, der einmal Frankfurt am Main und Tallinn, Berlin und Lemberg umschloss. Denken wir nur an den künstlerischen Aufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der ganz Europa erfasste, auch die östlichen Peripherien. Die Suche nach neuen Formen, Klängen, Wörtern war untrennbar mit dem Traum von einer neuen und gerechten Welt verknüpft. Große Visionen, die an der Ideologie und der Politik zerschellten. Wir kommen heute stets auf zwei Faktoren zurück, wenn wir Europa zu definieren versuchen: die gemeinsamen Werte und die Kultur. Der Reichtum der kulturellen und sprachlichen Vielfalt taugt aber nicht nur für Verfassungspräambeln, sondern sollte Eingang finden in ein neues Marketing für die europäische Idee. Man kann sich nämlich oftmals in der öffentlichen Diskussion des Eindrucks nicht erwehren, viele der europäischen Bürgerinnen und Bürger seien der Europäischen Union schon wieder ein wenig überdrüssig geworden, weil sie die Idee nicht mehr erkennen. Wo ist die Neugier, die Aufbruchstimmung geblieben, das Gespür für die unbegrenzten Möglichkeiten an Ideen und Visionen, die sich mit dem Geschenk von 1989 eröffneten? Wenn die europäische Einigung auch geistig vorankommen soll, müssen wir an unserer gemeinsamen Identität weiterarbeiten. Identität lässt sich aber nur schaffen, wenn es uns gelingt, unsere Wahrnehmung zu verändern und den Zauber Europas wieder zu entdecken. Und dazu brauchen wir die Kultur. Wie all das gelingen kann, darauf erhoffe ich mir Antworten von dieser Konferenz, der ich einen guten Verlauf wünsche. Vielen Dank!