Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 28.11.2004
Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich der Verleihung des Marion Dönhoff-Preises 2004 für internationale Verständigung und Versöhnung der ZEIT-Stiftung an Prof. Gesine Schwan am 28. November 2004 in Hamburg.
Anrede: Sehr geehrte Preisstifter, sehr geehrte Jurymitglieder, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/90/752190/multi.htm
vor allen Dingen liebe Gesine Schwan! Dieser Preis, heute zum zweiten Mal verliehen, trägt den Namen einer Frau, die nicht nur für mich zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten unseres Landes gehört hat. Politisch klug und historisch weitsichtig trat Gräfin Dönhoff konsequent für eine Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen, zwischen West- und Osteuropa ein. Sie hatte damit entscheidenden Anteil daran, dass nach den Schrecken des Krieges und den Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine Verständigung zwischen Völkern und Nationen überhaupt wieder möglich wurde. Unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges schien das ebenso ausgeschlossen wie in den Jahren der Erstarrung und der Abschottung während des Kalten Krieges. Gräfin Dönhoff hat den Schmerz über den Verlust ihrer Heimat stets dem Bemühen um Versöhnung untergeordnet, weil sie wusste, dass es keinen anderen Weg gab und geben würde, die Spaltung Europas zu überwinden. Nach Krieg, Diktatur und Vertreibung damit zu beginnen, Brücken für ein neues Miteinander in Europa zu bauen, erforderte tiefe innere Überzeugungen und innere Stärke. Marion Dönhoff hatte diese Kraft, und sie hat Zeit ihres Lebens an solchen Brücken gebaut. Ganz in diesem Sinn hat sie auch die Entwicklung der Europa-Universität Viadrina seit deren Gründung befördert. Marion Dönhoff hat dort 1999 ihren 90. Geburtstag gefeiert - mit einer hochkarätig besetzten Diskussionsrunde zum Thema "Deutschlands alter Osten - Baustein zum neuen Europa". Das neue Mensa-Hörsaalgebäude, als sichtbares Zeichen intellektueller Verbundenheit direkt an der Oder und vis-a-vis dem Collegium Polonicum gelegen, ist kürzlich nach ihr benannt worden. Die jungen Menschen aus Deutschland, Polen und anderen Ländern, die an der Viadrina ihre Ausbildung absolvieren, werden einmal in verantwortlichen Positionen arbeiten. Sie werden das im Geiste der an dieser besonderen Lehranstalt so bewunderten und verehrten Marion Dönhoff tun. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, die Gräfin, wie sie allenthalben genannt worden ist, wäre sehr einverstanden mit der Entscheidung der Jury, Gesine Schwan, die Präsidentin der Viadrina, heute mit diesem Preis zu ehren. Der "Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung" hat ja noch einen Untertitel, wie wir erfahren haben. Es ist ein Zitat der Gräfin, das, wie ich finde, maßgeschneidert auf Gesine Schwan passt: "Menschen, die wissen, worum es geht". Und doch, der Satz scheint mir nicht ganz vollständig. Denn Gesine Schwan weiß nicht nur, worum es geht, sie weiß auch, wie es geht, und sie arbeitet wirklich konsequent dafür. Wenn sie es für richtig hält, schreitet sie voran: mutig, entschlossen, unerschrocken und - hier darf ich es anmerken - keineswegs immer gemäß den Lehrbüchern der feinen Diplomatie. Auch Gesine Schwan ist eine Brückenbauerin, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit für ihre Überzeugungen eintritt und die im Übrigen das direkte Gespräch dem bloßen Theoretisieren vorzieht. Das hat sie schon in den 70er und 80er Jahren so gemacht, als sie beharrlich und entschieden auf die Zukunft der polnischen Opposition setzte. Die intellektuellen Führer der Solidarnosc-Bewegung waren alle ihre Freunde. Sie gaben Gesine Schwan Einblicke ins Innenleben der polnischen Version des real existierenden Sozialismus, und sie nahm vielleicht deshalb deutlicher als andere wahr, was sich seinerzeit dort entwickelte. Ihre engen Kontakte nach Polen waren ein wichtiger Beitrag, den Boden für die europäische Perspektive nach 1989 zu bereiten. Eine Frau wie Gesine Schwan muss man lange suchen: eine Intellektuelle mit Bodenkontakt und politischer Weitsicht, zugleich aber wahrlich energiegeladen, humorvoll, erfrischend direkt, unverstellt und eigentlich auch immer Zuversicht versprühend, eine, die mit Ausstrahlung, einer großen Portion Optimismus und scheinbar unerschöpflichem Elan in der Lage ist, auch die dicksten Bretter zu bohren, z. B. , wenn es darum geht, für "ihre" Europa-Universität zu werben. Dass heute bereits rund 40 % der Studierenden aus dem Ausland kommen, ist nicht zuletzt ihr ganz persönliches Verdienst. Sie hat die Viadrina zu einem besonderen Zentrum der deutsch-polnischen Begegnung und des gemeinsamen Lernens und Forschens gemacht. Ich freue mich sehr, dass wir an diesem wichtigen Ort grenzüberschreitender Ausbildung in Zukunft noch weiter arbeiten werden können und dass wir ihn auch ausbauen und unterstützen werden. Ich habe mit dem polnischen Ministerpräsidenten Belka vereinbart, eine Stiftung zu gründen, die die wissenschaftliche Kooperation zwischen Deutschland und Polen an der Viadrina fördert. Deutschland wird sich hieran mit 50 Millionen Euro beteiligen. Ich teile übrigens die Auffassung, dass vieles von dem, was dort angelegt ist, später Früchte tragen wird. Ich bin sicher, dass es gute, wertvolle Früchte sein werden und dass wir spätestens dann sehen werden, wie richtig die gemeinsam getroffenen Entscheidungen gewesen sind. Meine Damen und Herren, Politik kann nur erfolgreich sein, so betont Gesine Schwan immer wieder, wenn sie das Vertrauen der Menschen hat, deren Interessen sie vertreten will. Wie wichtig Vertrauen ist, wird auch und nicht zuletzt im Verhältnis zu unserem Nachbarn Polen deutlich. Neues Vertrauen ist das Fundament für die deutsch-polnische Freundschaft, die wir gestalten und stärken wollen. Zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses stand die Aussöhnung Deutschlands mit den westlichen Nachbarn, besonders mit Frankreich, auf der Tagesordnung. Die Erweiterung der Europäischen Union ist aber nicht denkbar ohne die Aussöhnung Deutschlands mit seinen mittel- und osteuropäischen Nachbarn und, in besonderem Maße, mit Polen. Angesichts unserer gemeinsamen Geschichte, in der gerade Deutsche über Polen so viel unendliches Leid gebracht haben, wirkt diese Versöhnung immer noch wie ein Wunder. Die Freiheit, die sich das polnische Volk erkämpft hat, wird nun zum zentralen Baustein für das neue Europa. Polen ist heute frei und unabhängig. Es hat in Bündnissen von Gleichen seine Sicherheit und Souveränität gewonnen - übrigens mit Bezug auf die Perspektiven in Osteuropa endgültig gewonnen. Gesine Schwan hat für das Vertrauensverhältnis zwischen Deutschen und Polen sehr viel getan. Daher ist es ein Glücksfall, dass sie bereit war, das wichtige Amt der Deutsch-Polnischen Koordinatorin zu übernehmen. Ich erhoffe mir, dass Gesine Schwan mit der ihr eigenen positiven Energie und mit guten Ideen das dichte Netz der Beziehungen zwischen unseren Ländern weiter ausbauen wird. Im Schwerpunkt geht es dabei um den kulturellen Austausch und die zivilgesellschaftlichen Kontakte, vor allen Dingen natürlich zwischen den jungen Deutschen und jungen Polen. Liebe Gesine Schwan, schon Anfang der 60er Jahre hast du Polnisch gelernt. Mit der Sprache, der Geschichte, der Kultur und dem Land Polen verbindet dich offenkundig eine große Liebe. Eine stärkere Antriebskraft für die Aufgabe, der du dich verschrieben hast, kann ich mir nicht vorstellen. Meine Damen und Herren, die Jury hätte für den "Marion Dönhoff-Preis 2004 für internationale Verständigung und Versöhnung" keine bessere Preisträgerin finden können. Nicht zuletzt deshalb, aber wirklich auch von Herzen, gratuliere ich dir, liebe Gesine Schwan, ganz herzlich zu dieser großen Auszeichnung.