Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 02.12.2004
Untertitel: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat dazu aufgerufen, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wach zu halten: "Erinnerung hilft, der Gegenwart einen Sinn zu geben", sagte der Bundeskanzler bei einem Festakt zum 50. Jahrestag der Gründung der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Anrede: Sehr geehrter Herr Shalev! Liebe Frau Berben! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/54/754454/multi.htm
Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Festkonzert "Erinnerung gestaltet die Zukunft" anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Holocaust-Gedenkstätte "Yad Vashem" am 2. Dezember 2004 in Berlin Yad Vashem ist ein einzigartiger Ort. Jeder, der einmal dort war, kann das fühlen und erspüren. Es ist ein Mahnmal, eine Erinnerungsstätte, ein Kultur- und Lernzentrum. Wer einmal Yad Vashem besucht hat, der wird die Gefühle der Scham und der tiefen Trauer im Moment der Begegnung mit der dort so gegenwärtigen Geschichte niemals vergessen. Ich füge aus eigenem Erleben hinzu: Das für mich Berührendste ist, wenn man in den Saal mit den Lichtern geht und die Stimme hört, die Kindernamen und deren Alter nennt. Man möchte dann das Unfassbare begreifen, das doch jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Aber Yad Vashem ist mehr als Aufschrei und Anklage, ist mehr als Trauer und Gedenken. Diese Stätte ist zugleich ein Ort der Hoffnung. Ich finde, dass das Zeichen auf dem Plakat das eindrucksvoll ausdrückt. Ein Ort der Hoffnung auf Verständigung und Versöhnung, auf Toleranz und Menschlichkeit, auf Frieden und eben gute Nachbarschaft. Zugleich - und das ist einmalig in der Welt - werden in der Gedenkstätte Menschen geehrt, die ihr Leben eingesetzt haben, um Juden während des Holocaust zu retten. In der "Allee der Gerechten" erinnern mehr als 20.000 namentlich gewidmete Bäume an diejenigen, die sich auch unter einer barbarischen Diktatur in ihrem Verhalten von ihrem eigenen Gewissen leiten ließen. Diese als "Gerechte unter den Völkern" Geehrten haben eben nicht weggeschaut, sondern durch ihren Mut viele Leben gerettet. Sie sind ein Vorbild dafür, wie notwendig es ist, aber eben auch, dass es möglich ist, Anstand und Moral gegen Grausamkeit und tiefe Unmenschlichkeit zu setzen. Meine Damen und Herren, Yad Vashem ist längst zu einem Teil der Identität Israels geworden. Im Jahr 1953, nur fünf Jahre nach der Gründung des Staates Israel, hat die Knesset das Gesetz zur Einrichtung der Gedenkstätte verabschiedet. Der Ort ist seitdem zu einem Zentrum für Juden aus aller Welt und aus allen Generationen geworden - als Ort des nationalen, aber eben auch des internationalen Gedenkens. Für die deutsch-israelischen Beziehungen ist Yad Vashem ein besonders bedeutsames Symbol, für das Bekenntnis und die bleibende Verantwortung Deutschlands für die staatliche Existenz Israels in sicheren Grenzen immer wieder entschieden einzutreten. Diese historische und politische Verantwortung ist ein Grundpfeiler unserer Außenpolitik, und er wird es bleiben. Sie ist im Übrigen ein Zeichen der Solidarität und der Verbundenheit mit einem Land, das den Überlebenden der Shoah die ersehnte Heimstätte gegeben hat. Denn unsere Aufgabe besteht mehr denn je darin, die kommenden Generationen über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aufzuklären. Nur wer sich erinnert, auch wenn er keine persönliche Schuld auf sich geladen hat, kann verantwortungsbewusst mit seiner eigenen Geschichte umgehen. Nur wer das kann, wird eine für ihn und für andere befriedigende Zukunft gewinnen. Erinnerung hilft, der Gegenwart einen Sinn zu geben. Erinnerung ermöglicht Identität, aber eben auch Kontinuität. Aber vergangene Ereignisse werden nicht automatisch zu Erinnerungen. Das Vergessen, das Verdrängen, ja auch das Umdeuten von Geschichte sind nur allzu gegenwärtig. Dagegen müssen wir, jede und jeder einzelne, immer wieder aufs Neue die Bereitschaft setzen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, unsere Geschichte anzunehmen und sich mit ihr bewusst auseinander zu setzen. Ich denke, nicht zuletzt das ist der Sinn einer Veranstaltung wie dieser. Wir wissen, dass es ohne Erinnerung keine Freiheit und keine Zukunft geben kann. Meine Damen und Herren, Yad Vashem setzt Maßstäbe für diese Erinnerungsarbeit, für den sachlichen und sensiblen Umgang mit Geschichte und für ein breites Bewusstsein dafür, dass wir alles tun müssen, damit unsere Gesellschaften respektvoll, menschlich und vor allem friedlich miteinander leben können. Das heißt, dass Menschen verschiedener Herkunft, Sprachen, kultureller Prägungen, auch verschiedener Religionen und Hautfarben in offenen Gesellschaften wirklich gemeinsam Zukunft gestalten können. Yad Vashem mahnt genau zu dieser Toleranz, Verständigung und Versöhnung. Jeder, der dort war und die stille, aber unglaublich machtvolle Botschaft auf sich hat wirken lassen, wird das gespürt haben. Die Gedenkstätte Yad Vashem hat zu Recht Unterstützer in der ganzen Welt. Sie organisieren sich in 32 Freundeskreisen. Den Anstoß für den deutschen Freundeskreis gab übrigens Ignaz Bubis, der unvergessene ehemalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Freundeskreis ist in gewisser Weise auch Ausdruck für das wieder erblühende jüdische Leben in Deutschland und Europa, das uns mit Freude und auch mit Dankbarkeit erfüllt. Vor allem aber ist dieser Abend in der Deutschen Oper Berlin eine Begegnung mit jüdischer Kultur und wunderbaren Künstlern. Ich denke, Sie alle freuen sich genau wie ich auf das außergewöhnliche Programm.