Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.12.2004

Untertitel: "Strategische Partnerschaft bedeutet, dass wir unsere Beziehungen auf allen Feldern konsequent ausbauen;in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, aber eben auch in der Kultur; denn als alte und angesehene Kulturnationen haben wir einander viel zu geben."
Anrede: Verehrter Herr Kollege, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/62/756862/multi.htm


Zuerst einmal danke ich Ihnen sehr herzlich für den freundlichen Empfang, den Sie mir und meiner Delegation bereitet haben. Bei meinem gestrigen Gespräch mit Herrn Ministerpräsident Wen Jiabao waren wir uns beide einig, dass die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern eine große Dynamik entwickeln. Dies betrifft nicht nur die Wirtschaft und den Handel, sondern es betrifft die gesamte Bandbreite der Beziehungen zwischen China und Deutschland. Beim Besuch von Ministerpräsident Wen Jiabao im Mai in Berlin haben wir nicht zuletzt deshalb eine strategische Partnerschaft vereinbart. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass wir unsere Beziehungen auf allen Feldern konsequent ausbauen - in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, aber eben auch in der Kultur; denn als alte und angesehene Kulturnationen haben wir einander viel zu geben. Darüber hinaus beinhaltet dieser Begriff der strategischen Partnerschaft sehr konkrete Ziele, wie z. B. die Verdoppelung des bilateralen Handels bis 2010 - ein ehrgeiziges, aber ein erreichbares Ziel, wie sich bereits jetzt zeigt. Im letzten Jahr hatten wir Wirtschaftsbeziehungen mit einem Volumen von mehr als 40 Milliarden US-Dollar. In diesem Jahr wird die 50-Milliarden-Grenze eher überschritten als unterschritten werden, und wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann wird dieses Ziel, das wir uns gesteckt haben, sicherlich erreichbar sein. Deutschland ist heute Chinas wichtigster Handelspartner in Europa, wie übrigens auch China Deutschlands wichtigster Handelspartner in Asien ist. Seit 1998 wächst der deutsche Export nach China jedes Jahr zweistellig, und dieser Trend ist ungebrochen. Export heißt - ich sage das für die deutsche Öffentlichkeit - , dass Wertschöpfung in Deutschland für den chinesischen Markt stattfindet, etwas, was für Beschäftigung in Deutschland und damit für die Perspektiven unserer Menschen sehr wichtig ist. Im ersten Halbjahr 2004 nahmen die deutschen Exporte nach China um 27 % zu, übrigens die chinesischen Lieferungen nach Deutschland um mehr als 20 % . Das ist also auch eine sehr ausgeglichene Bilanz. Aber auch die Investitionstätigkeit deutscher Unternehmen in China entwickelt sich auf sehr hohem Niveau weiter. Ebenso beginnen chinesische Unternehmen, stärker in Deutschland zu investieren und sich auf diesem wichtigsten und größten Markt Europas zu engagieren. Wir, die politischen Führungen beider Länder, wollen diese Tendenz - sowohl in Deutschland als auch in China - verstetigen und sie weiterentwickeln und befördern. Eine besondere Bedeutung hat dabei die verstärkte Zusammenarbeit mittelständischer Unternehmen, die wir gestern noch einmal bestätigt haben. Es ist wichtig, dass man nicht nur die großen "player", die weltweit auftreten, unterstützt. Wichtig ist auch, eine Struktur aufzubauen, und zwar in beiden Ländern, die mittelständisch geprägt und hoch leistungsfähig ist - sowohl, was die Schnelligkeit beim Entwickeln neuer Produkte, als auch, was die Schnelligkeit bei der Vermarktung der Entwicklungen angeht. Ich freue mich in diesem Zusammenhang sehr, dass der frühere Ministerpräsiden Zhu Rhongji heute mit einem wichtigen Mittelstandspreis ausgezeichnet wird. Meine Damen und Herren, ich werde heute nach meinen politischen Gesprächen in den Nordosten Chinas, nach Changchun, weiterreisen. Die Revitalisierung einer alten, traditionsreichen Industrieregion stellt die chinesische Regierung ganz zweifellos vor große Herausforderungen. Ich bin sicher, dass man diese Herausforderungen meistern wird. Aber Deutschland hat viel Erfahrung mit dem Strukturwandel in alten Industrieregionen. Deutschland kann mit diesen Erfahrungen in die chinesische Entwicklungsstrategie eingreifen und sich selbst im Nordosten - nicht nur dort, aber eben auch dort - einbringen. Die deutsche Wirtschaft ist bereit, sich in der Region noch stärker als bisher zu engagieren. Viele deutsche Unternehmen sind dort schon tätig. Dazu gehören führende Automobilhersteller aus Deutschland wie Volkswagen, BMW und Audi. Diese Unternehmen haben in der dortigen Region Milliardeninvestitionen vorgenommen, und ich freue mich natürlich sehr, dass wir noch heute ein neues Werk von Volkswagen in Changchun einweihen werden. Solche Investitionen helfen China bei der Entwicklung des Nordostens, sie helfen aber auch der deutschen Wirtschaft, im weltweiten Wettbewerb noch erfolgreicher zu sein. Meine Damen und Herren, im nunmehr dritten Jahr nach dem Beitritt Chinas zur WTO zeigt sich klar, dass dieser Schritt für China, aber auch für Europa und das gesamte multilaterale Welthandelssystem von großem Vorteil ist. Mit dem Beitritt hat China erklärt, den rechtlichen Rahmen anzuerkennen, den die WTO-Regeln für den Welthandel vorgeben. Dabei sind in den Beitrittsverhandlungen von China erhebliche Zugeständnisse gemacht worden. Dass sich diese Politik auszahlt, und zwar für alle Beteiligten, zeigt das stetig wachsende Engagement internationaler Unternehmen - darunter sehr viele deutscher - in China. Ich bin sicher, dass diese Entwicklung auch entscheidend dem WTO-Beitritt zu verdanken ist. Ich glaube, dass sich dieser Trend stärker fortsetzen wird, wenn China den vereinbarten Fahrplan zur Umsetzung der WTO-Regeln so engagiert wie bisher fortsetzt. Dies gilt insbesondere für den Handel mit Dienstleistungen, gilt auch für die Industriepolitik und für den Schutz des geistigen Eigentums. Die Gesetzgebung wird dabei von den Unternehmen in gleichem Maße beobachtet wie die Anwendung des neuen Rechts in der Praxis. Für die Unternehmen - auch und gerade auf der chinesischen Seite - ist die Anwendung der umgesetzten Regeln allemal so wichtig wie die Regeln selbst. Erst die praktische Umsetzung der Regeln schafft die für den internationalen Handel notwendige Vertrauensbasis. Innerhalb der WTO ist China allseits anerkannt und sehr geachtet, da das Land in allen Fragen sehr kompetent und sehr engagiert auftritt. Besonders wichtig erscheint mir dabei, dass sich China für einen zügigen und erfolgreichen Abschluss der laufenden Doha-Welthandelsrunde einsetzt. Dies zeigt deutlich den politischen Weitblick, mit dem die chinesische Führung ihre Entscheidungen getroffen hat. Europa hat damit einen neuen Partner beim Ausbau eines multilateralen Welthandelssystems gefunden. Übrigens wird dies auch dadurch deutlich, dass China in Kürze von Deutschland den Vorsitz der G20 -Gruppe übernehmen wird. Meine Damen und Herren, in meinen Gesprächen mit der chinesischen Führung haben wir vereinbart, uns künftig noch stärker dem Ausbau der kulturellen und zivilgesellschaftlichen Beziehungen zu widmen. Hier können wir ebenfalls an erfreuliche Entwicklungen anknüpfen: Die meisten ausländischen Studenten an deutschen Studienorten und Universitäten kommen aus China. Wir wollen, dass dieser Prozess weiterentwickelt wird, weil wir sehr genau um die traditionsreichen Beziehungen zwischen China und Deutschland - gerade auf dem Gebiet der Wissenschaft - wissen. Zahlreiche deutsche Städte und Bundesländer unterhalten Partnerschaften mit chinesischen Gemeinden oder Provinzen. Der beginnende Erfahrungsaustausch zwischen Nichtregierungsorganisationen hilft China sicherlich bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Chinas Absicht, demnächst in Berlin ein Kulturinstitut zu errichten, ist ein gutes und wichtiges Signal. Auch wir beabsichtigen, unsere kulturelle Präsenz in China durch ein zweites Goethe-Institut in Schanghai zu erhöhen. Ich erwähne diese Fragen kultureller Zusammenarbeit gerade vor diesem Wirtschaftsforum, weil dadurch deutlich wird, dass Wirtschaft etwas ist, das sehr wohl mit sozialen und kulturellen Fragen zu tun hat. So sehen wir es, und so sieht es die deutsche Wirtschaft. Meine Damen und Herren, unsere beiden Länder stimmen auch darin überein, die Globalisierung politisch zu gestalten. Zwei Prinzipien sind dabei nach meiner festen Überzeugung wesentlich: einerseits das Prinzip der Teilhabe möglichst vieler an dem, was es an gesellschaftlichem Reichtum in den einzelnen Ländern, aber in der Welt insgesamt gibt, und andererseits das Rechtsstaatsprinzip. Der von beiden Regierungen vor fünf Jahren angestoßene Rechtsstaatsdialog hat wichtige Impulse zum Aufbau und zur Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen in China gegeben. Wir, die chinesische und die deutsche Führung, haben vereinbart, auf diesem Weg entschieden, aber auch geduldig fortschreiten. Meine Damen und Herren, China und Deutschland teilen die Überzeugung, dass Sicherheit und Frieden nur auf der Grundlage effizienter multilateraler Strukturen möglich sind. Unsere beiden Länder haben dabei ein übereinstimmendes Interesse an starken und vor allen Dingen handlungsfähigen Vereinten Nationen. Als bevölkerungsreichstem Land der Erde, als Ständigem Mitglied des Sicherheitsrates und als aufstrebender Wirtschaftsnation kommt China dabei besondere Verantwortung zu. Die Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, die Weltorganisation zu reformieren, finden unsere ungeteilte Unterstützung. Von herausragender Bedeutung ist dabei der Sicherheitsrat, der von vielen - insbesondere von den Staaten der südlichen Hemisphäre - nicht mehr als repräsentativ für die Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert angesehen wird. Reform und Erweiterung dieses wichtigen Organs sind dabei weit mehr als die überfällige Anpassung an die Erweiterung von ursprünglich 51 auf jetzt 191 Mitgliedsstaaten in den Vereinten Nationen. Ein reformierter Sicherheitsrat muss die Realitäten der Welt von heute widerspiegeln. Der wachsenden Bedeutung wichtiger Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist daher Rechnung zu tragen. Das gilt ebenso für die Industrieländer, die wesentliche Beiträge zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit leisten. Dazu genügt es natürlich nicht, die Zahl der nichtständigen Sitze zu erhöhen. Dies wird an den strukturellen Ungleichheiten nichts ändern. Nur durch einen Sicherheitsrat, in dem auch neue Ständige Sitze vorgesehen sind, wird sich die Internationale Gemeinschaft - insbesondere der Süden - angemessen repräsentiert sehen. Ich freue mich sehr, dass China den Wunsch Deutschlands unterstützt, im Sicherheitsrat mehr Verantwortung zu übernehmen. Meine Damen und Herren, eine besondere und zunehmende Gefahr für Frieden und Stabilität erwächst aus der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. China und Deutschland sind sich einig, dass die bestehenden multilateralen Instrumente zur Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung gestärkt werden müssen. Wir begrüßen insbesondere das Engagement Chinas, im Rahmen der so genannten Sechser-Gespräche die Nordkorea-Frage zu lösen. Der eingeleitete Dialog stimmt mich vorsichtig hoffnungsvoll. Ein regionaler Rüstungswettlauf nützt niemandem, schadet aber im Gegenteil allen. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der größten Herausforderung der internationalen Gemeinschaft, wollen China und Deutschland die Kräfte noch wirkungsvoller bündeln, etwa im Bereich der Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Sicherheit, das wissen wir, ist in unserer einen Welt nicht teilbar. Terror - gleichgültig, wo er verübt wird - ist eine Kampfansage an jede Zivilisation. Wir müssen die Ursachen von Gewalt und die Wurzeln des Terrorismus entschieden angehen. Um Fanatismus und Terrorismus den Nährboden zu entziehen, müssen wir für soziale, materielle, aber auch für kulturelle Sicherheit sorgen. Daher ist es so wichtig, die Vielfalt kultureller Identitäten in jedem Land zu erhalten. Meine Damen und Herren, ein weiteres Feld der künftigen und noch engeren Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern ist der Schutz und der Erhalt der Umwelt. So unterstützt China die deutschen und französischen Überlegungen, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen zu einer Umweltorganisation der Vereinten Nationen fortzuentwickeln. Wir erkennen auch das große Engagement Chinas an, den Einsatz erneuerbarer Energien bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung zu erhöhen. Die chinesische Regierung hat angekündigt, bis zum Jahr 2010 10 % der Energie aus regenerativen Quellen zu beziehen. Deutschland besitzt gerade auf dem Sektor der Umwelttechnologien die weltweit wohl herausragendsten Erfahrungen und Möglichkeiten. Ich denke, dass das ein Feld werden wird, auf dem wir exemplarisch die Dichte unserer Zusammenarbeit der Welt und den Menschen in unseren beiden Ländern zeigen können. Nicht nur zum Schutz des Klimas, sondern auch aus wohlverstandenen wirtschaftlichen Gründen haben unsere beiden Länder also ein gemeinsames Interesse an einer möglichst effizienten und möglichst schonenden Nutzung der Energie. Das gilt für alle Bereiche, und ich denke, schon in der Vergangenheit erwies sich, aber auch in der Gegenwart erweist sich, und mehr noch wird es sich in der Zukunft erweisen, dass technologische Zusammenarbeit zwischen China und Deutschland hierbei von besonderer Bedeutung ist. Aus dem verstärkten Ausbau der erneuerbaren Energien entstehen gerade auch für deutsche Unternehmen neue Chancen für erfolgversprechende Kooperationen mit chinesischen Partnern. Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Aufstieg Chinas ist ohne die Globalisierung der Märkte nicht denkbar. Es zeigt sich: Globalisierung und freier Welthandel eröffnen allen Ländern zusätzliche Chancen. Eine Situation, in der alle Beteiligten gewinnen können, ist unser gemeinsames Ziel; denn Länder, die sich wirtschaftlich nicht entwickeln, bieten auch keine Märkte für hochwertige Produkte, wie wir sie in Deutschland herstellen. Entscheidend wird sein, dass wir die Bedingungen der Globalisierung politisch gestalten und dass wir dabei eng zusammenarbeiten. Nur dann werden alle Völker von den Chancen der Globalisierung profitieren. Nur dann werden wir es schaffen, Hunger, Unterentwicklung und Armut überall in der Welt zu überwinden und auf diese Weise die Welt gerechter zu machen. Ich denke, das ist das Ziel, das uns gemeinsam verbindet.