Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 08.12.2004

Untertitel: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat anlässlich des Symposiums über Wirtschafts- und Handelszusammenarbeit zwischen Deutschland und den drei nordost-chinesischen Provinzen am 8. Dezember 2004 in Changchun folgende Rede gehalten:
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/757307/multi.htm


Herr Vizeministerpräsident, meine Herren Gouverneure! Ich finde es gut, dass wir einen Meinungsaustausch pflegen; denn Deutschland hat einen Umstrukturierungsprozess zum Teil hinter sich, und zum Teil befinden wir uns mitten darin. Ich will auch erklären, was die Erfolge und was die Schwierigkeiten waren. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung, also vor 15 Jahren, standen wir vor der Tatsache, dass die industriellen Strukturen im Osten unseres Landes, also in der früheren DDR, in keiner Weise weltmarktfähig waren. Gleichsam über Nacht mussten wir diesen Umstrukturierungsprozess beginnen, und zwar mit einer Schnelligkeit, die natürlich auch soziale Fragen aufwirft. Um nur eine Zahl zu nennen: Von den industriellen Arbeitsplätzen, die in der früheren DDR vorhanden waren, waren ganze 10 % weltmarktfähig, also erhaltbar. Alle anderen mussten umstrukturiert bzw. neu geschaffen werden. Natürlich hatte das Auswirkungen auf die Höhe der Arbeitslosigkeit in unserem Land, die über Nacht enorm angestiegen war. Damit einher ging natürlich die Gefahr sozialer Brüche in einem solchen bisher nirgendwo bekannten Prozess. Wo stehen wir jetzt? - All diejenigen, die erwartet hatten, dass wir wegen dieser Notwendigkeiten, vor denen wir standen, um unser Land ökonomisch und sozial zusammenzuführen, und wegen der enormen Anspannungen, die wir erleben mussten, Anteile am Weltmarkt verlieren würden, haben sich getäuscht. Deutschland hat in den letzten 15 Jahren, obwohl wir mit der Notwendigkeit befasst waren, ökonomisch und sozial die Deutsche Einheit herzustellen, Weltmarktanteile nicht verloren, sondern gewonnen. Ich sage das, um deutlich zu machen, wie groß die Kraft der deutschen Volkswirtschaft ist und wie leistungsfähig und leistungsbereit die Menschen bei uns sind. Wir sind wirklich stolz darauf, diesen Prozess bis zu diesem Punkt gebracht zu haben. Abgeschlossen ist er naturgemäß noch lange nicht. Warum ist uns das relativ gut gelungen? - Wir haben sofort darauf gesetzt, die Infrastruktur im Osten des Landes der im Westen anzugleichen. Wenn ich von Infrastruktur rede, meine ich Straßen auf der einen Seite, Schienen auf der anderen Seite, aber auch die Herrichtung von entsprechenden Flugmöglichkeiten. Infrastruktur bedeutete aber nicht nur das, was an Notwendigkeit bestand, Transport zu organisieren, sondern Infrastruktur hieß auch, Kommunikationsmöglichkeiten herzustellen. Wir haben im Osten unseres Landes das modernste Kommunikationsnetz, das es weltweit gibt, aufgebaut - natürlich mit enormen Investitionen - , aber es zeigt sich, dass dieser Aspekt der Herstellung von Kommunikationseinrichtungen außerordentlich wichtig ist, wenn man einen solchen Umstrukturierungsprozess erfolgreich schaffen will. Was war der weitere Punkt? - Wir haben uns bei der Neuschaffung von Arbeitsmöglichkeiten sehr stark konzentriert. Das heißt, wir haben Wachstumskerne in den einzelnen Regionen gebildet und um diese Wachstumskerne herum entsprechende Industrien angesiedelt. Diese Art der Konzentration auf Wachstumskerne ist etwas ganz Bedeutungsvolles. Ich werde noch darauf zurückkommen. Der nächste Schritt war natürlich, dass wir, um solche Kerne aufzubauen, entsprechende Forschungseinrichtungen zur Verfügung haben mussten. Also haben wir im Osten unseres Landes ein Netz von Forschungseinrichtungen schaffen müssen, das durchaus mit dem konkurrenzfähig ist, das es im Westen unseres Landes gibt. Die nächste Frage lautete natürlich: Wie steuert man diesen Prozess, ohne wirkliche soziale Brüche zu riskieren und übrigens auch, ohne Wanderungsbewegungen von Ost nach West in enormem Umfang zu riskieren? - Wir haben sehr stark Wert auf die soziale Absicherung derer gelegt, die Arbeitsplätze durch die Umstrukturierungen verloren hatten oder auch Qualifikationen neu erwerben mussten, um in einer dem Weltmarkt ausgesetzten Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein. Natürlich hat das enorme Kosten verursacht, aber es hat sich gezeigt, dass unsere Gesellschaft fähig gewesen ist und weiterhin fähig ist, diese Kosten zu tragen. Allerdings ist nicht zuletzt Folge dessen, dass wir ein ambitioniertes Reformprogramm auflegen mussten und aufgelegt haben, um unsere Gesellschaft leistungsfähig zu halten. Bei der sozialen Absicherung ist die Entwicklung von Qualifikationen der Beschäftigen ein ganz entscheidender Gesichtspunkt. Das heißt, Umstrukturierung ist auch immer mit dem Verlust früher als sicher angesehener Qualifikationen und entsprechender Arbeitsmöglichkeiten verbunden, und Neuqualifizierung der Menschen ist ein ganz entscheidender Aspekt. So viel vielleicht zu dem - natürlich nur im Überblick - , was wir in unserem Land haben leisten können und leisten müssen. Wenn ich mich auf die Situation im Nordosten Chinas beziehe, stellten sich den Provinzen - wir haben das von den Gouverneuren gehört - ganz ähnliche Aufgaben. Allerdings ist die Dimension, mit der sie fertig werden müssen, noch einmal sehr viel größer. Ich glaube, die Bereitschaft, entsprechend ( Ressourcen ) aus anderen Regionen des Landes zu transferieren, ist vielleicht nicht ganz so sehr entwickelt, wie das bei uns der Fall gewesen ist. Sie sind also noch mehr auf die Mobilisierung eigener Ressourcen und eigener Möglichkeiten angewiesen. Es war ganz beeindruckend, was die Gouverneure hier vorgestellt haben. Was kann man von dem Prozess lernen, den wir durchgemacht haben bzw. in dem wir mittendrin stecken? - Ich glaube, das erste, was hier richtigerweise gemacht worden ist, ist, dass man sagte: Wir sind eine alte Industrielandschaft, und wir müssen dafür sorgen, dass das, was an alten Industrien auf den Weltmärkten nicht konkurrenzfähig ist, umstrukturiert wird, und in diesem Prozess muss es zu einer Konzentration kommen. Wenn ich es richtig verstanden habe, konzentriert man sich hier auf drei Bereiche: erstens auf Automobile einschließlich der Zulieferung, zweitens auf die chemische Industrie und drittens auf die optische Industrie. Das glaube ich jedenfalls den Vorträgen entnommen zu haben. Diese Art von Konzentration auf ganz bestimmte industrielle Bereiche - ohne, dass man andere herausdrängt oder vernachlässigt - erscheint mir richtig. Zweitens ist auch richtig, wenn darauf hingewiesen wird, dass man eine erstklassige Infrastruktur besitzt bzw. schaffen wird. Ich glaube, die Infrastruktur sowohl im kommunikativen Bereich als auch in dem Bereich, in dem es um Transport von Waren und Dienstleistungen geht, ist ganz enorm wichtig, vor allen Dingen, wenn man ausländisches Kapital haben will. Der dritte Punkt, den ich verstanden zu haben glaube und bezüglich dessen ich nur sagen kann, dass mir dies der richtige Weg zu sein scheint, ist der Aufbau einer guten Forschungsstruktur. Forschung und Entwicklung sind die Voraussetzungen dafür, dass eine Ansiedlung nicht nur Werkbankcharakter hat, sondern Wertschöpfung auf Dauer ist. Deswegen glaube ich, dass das Vorhaben, eine Forschungsinfrastruktur aufzubauen, eine enorm wichtige Sache ist. Der nächste Gesichtspunkt: Alle Gouverneure haben darauf hingewiesen, dass eine weitere wesentliche Voraussetzung erfüllt ist, und die heißt qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Unternehmen. Mit dem Vorhandensein qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steht und fällt jede Industriepolitik. Hier sowohl qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorzuhalten als sie auch zu qualifizieren und dies als einen lebenslangen Prozess zu begreifen, scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein. Der nächste Punkt - auch damit haben wir Erfahrungen sammeln können - ist: Es hat sich gezeigt, dass die veralteten industriellen Bereiche diejenigen Bereiche waren, die nicht nur, was die Produkte angeht, nicht fähig waren, sich auf dem Weltmarkt durchzusetzen, sondern auch, was ihre innere Organisation angeht. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich glaube, dass eine Reindustrialisierung im Nordosten auf Dauer nur gelingen kann, wenn sie von einer entschiedenen und auf Dauer angelegten Privatisierungspolitik begleitet wird. Ich glaube jedenfalls, dass das die Erfahrungen sind, die wir vermitteln können. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die Betriebe, die als Staatsbetriebe geführt worden sind, in ihren Strukturen nicht leistungsfähig genug gewesen sind, und erst eine durchgreifende Privatisierung in diesem Bereich hat dazu geführt, dass wir die ökonomischen Erfolge vorweisen konnten - auch im Osten unseres Landes - , die sich jetzt eingestellt haben. Deswegen glaube ich, dass die Dinge von großer Bedeutung sind, die wir gerne als unsere Erfahrung vermitteln wollen: erstens Konzentration auf Wachstumsbereiche, zweitens Aufbau von Infrastruktur - sowohl, was Transport angeht, als auch, was Kommunikation angeht - , drittens Aufbau einer Forschungsstruktur, soweit noch nicht vorhanden, und viertens Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Um die betriebswirtschaftlichen Anforderungen zu erfüllen, die man braucht, wenn man weltmarktfähig sein will, bedarf es einer durchgreifenden und ernst gemeinten Privatisierungsstrategie. Ohne die, glaube ich, wird Leistungsfähigkeit auf Dauer nicht zu erzielen sein. Wir haben in unserem Land durch gewaltige Anstrengung des ganzen Landes und seiner Menschen dafür sorgen können, dass dieser Prozess weitgehend - natürlich hat es Belastungen der Menschen gegeben - ohne gravierende soziale Brüche vonstatten gegangen ist. Ich glaube, dass deswegen all diejenigen, die vor ähnlichen Aufgaben stehen, gut beraten sind, in einen sehr intensiven Meinungsaustausch mit uns zu treten, weil wir Erfahrungen gemacht haben, die verwertbar sind, und weil wir Fehler gemacht haben, die man nicht unbedingt machen muss und aus denen man viel mehr lernen kann. Dies vielleicht als mein Beitrag zu dem, was Sie hier an Aufgaben vor sich haben. Ich will abschließend nur sagen: Ich bin durchaus von dem Weg beeindruckt, den Sie bisher zurückgelegt haben, und ich bin ganz sicher, dass Sie diesen Prozess, den Sie eingeleitet haben, auch erfolgreich abschließen werden. Soweit sich Möglichkeiten für deutsche Unternehmen ergeben, sich hier zu engagieren, wird man dies tun. Die Zahl derer, die ( hier ) bereits tätig sind, beweist, dass es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen China einerseits und Deutschland andererseits kommen kann und kommen wird und dass sich diese Zusammenarbeit eben auch auf diese Provinzen, in denen wir freundlicherweise zu Gast sind, bezieht. - Vielen Dank!