Redner(in): Christina Weiss
Datum: 16.02.2005

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss unterstrich in ihrer Rede die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. "Die deutschen Filmemacher geben uns mit ihren Werken geeignete Instrumente dafür in die Hand."
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/06/789806/multi.htm


wer allein die deutschen Filme im Wettbewerb der 55. Berlinale gesehen hat, der ahnt, was unserem Kino endlich den erwarteten Aufschwung beschert hat. Es ist der Mut, eigenständige Geschichten zu erzählen, es ist die Vielfalt der Sprachen, der Stile und Formen. Damit behauptet sich der deutsche Film immer wieder gegen Majorisierung. Dieser Markt der Kreativen und der Talente ist unser Kapital - im europäischen Austausch, aber auch in der Konkurrenz zu den finanzstarken Amerikanern. Also haben wir dieses Kapital fürsorglich zu behandeln, am besten wäre es natürlich, es zu mehren.

Diese Berlinale ist nicht aber nur ein Spiegel der Kreativität, sie zeigt auch, wie intensiv, aufrichtig und präzise sich Filmemacherinnen und Filmemacher aus unserem Land mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen. Deshalb danke ich dem SPD-Parteivorstand für diesen Abend mit der Aufführung von Volker Schlöndorffs "Der neunte Tag", der mir Gelegenheit gibt, einige Gedanken darüber zu äußern, wie Geschichte im Film dargestellt wird.

Dazu gehört auch und vor allem die Beschäftigung der Filmemacher mit der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945. Selten haben sich Filmemacher unseres Landes so intensiv und so aufrichtig mit diesen finstersten Jahren auseinandergesetzt, wie in der jüngsten Vergangenheit. Neben Volker Schlöndorffs "Der neunte Tag" sind zu nennen;"Der Untergang" von Oliver Hirschbiegel,"Napola- Elite für den Führer" von Carsten Gansel und "Sophie Scholl - Die letzten Tage" von Marc Rothemund, der als deutscher Beitrag im Wettbewerb der Berlinale zu sehen war.

Gerade hier, im Film mit der großartigen Julia Jentsch, geht es um individuelle Konflikte - es geht um das Ringen des Einzelnen, um seine aufrechte Haltung, um sein Gewissen letztlich. Es geht um den Versuch, den Menschen sichtbar zu machen.

Meine Damen und Herren,

auch die große internationale Resonanz die der Film "Der Untergang" gefunden hat, führt uns deutlich vor Augen, dass es alles andere als überflüssig ist, wenn wir über die Auswirkungen nachdenken, die Filme für den historischen Blick auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg haben. Bernd Eichingers verdienstvolle Produktion hatte im vergangenen Jahr in Deutschland über vier Millionen Besucher, läuft mit großem Erfolg in vielen europäischen Ländern, wurde für den "Oscar" nominiert - und steht gleichzeitig im zweifelhaften Ruf Kultstatus in der rechtsradikalen Szene erlangt zu haben. Hier eröffnet sich ein wichtiges Feld der öffentlichen demokratischen Auseinandersetzung. Ich werde darauf zurückkommen.

Welches Bild von der Vergangenheit zeichnen Filme? Filme geben die Vergangenheit nicht wieder, sie erzählen Geschichten von der Vergangenheit. Sollte man geneigt sein, dies als eine Spezialität von Kunst und Medien zu begreifen, dann muss man erwähnen, dass auch Geschichtsschreiber nicht umhinkönnen, Geschichte zu vermitteln, indem sie Geschichten erzählen.

Filme erzählen die Geschichten von der Vergangenheit mit ihren eigenen Mitteln. Dazu zählt selbstverständlich die Erfindung und die dramaturgische Zuspitzung. Gegenwärtig zielen die stilistischen Mittel des Kinos - nicht nur in Deutschland - vor allem auf die Emotionen des Publikums. Diese Tendenz ist nicht etwa zu verachten.

Wir erinnern uns nur ungern an die Jahre, in denen der deutsche Film vor allem reflektierte und das Publikum die Filme mit Desinteresse strafte. Kino und Gefühle gehören seit jeher zusammen, aber mit der Neigung zur Emotionalität steht der Film nicht allein im Ensemble der Medien. Der Trend zur öffentlichen Emotionalisierung von Informationen, Personen und Sachverhalten ist ja allgemein vorhanden. Womöglich ist die Tendenz auch in der politischen Öffentlichkeit zu bemerken.

Das Kino erzählt die Geschichten von der Vergangenheit so, dass sie auf die Emotion, den Sinnesapparat, das seelische Zentrum des Zuschauers zielen. Die Ästhetik der Bilder, der Rhythmus des Films, die Musik, die Kunst der Schauspieler schaffen jenen Effekt, der den Betrachter fasziniert oder ihn schaudern macht, der ihn zur Identifikation mit dem Schicksal der Figuren einlädt - oder erschreckt davor zurückweichen lässt, der ihn jedenfalls aber in geistige und emotionale Spannung versetzt und so in das historische Geschehen involviert.

Die so im Film entfaltete Geschichte folgt immer einer Dramaturgie. Die Aufarbeitung der Historie zu einem Kinostoff ist ohne die Anwendung bestimmter emotionaler dramaturgischer Muster unvorstellbar. Es sind oftmals die Genres, die dem Film und den Emotionen der Zuschauer eine Richtung geben.

Ich finde es bemerkenswert, dass sich in der Auseinandersetzung der deutschen Filmemacher mit dem Nationalsozialismus ganz unterschiedliche Genres finden. Das "Suspense - Drama" bei Volker Schlöndorff, die "Coming-of-age" - Erzählung bei Carsten Gansel und der Katastrophenfilm bei Oliver Hirschbiegel.

Volker Schlöndorffs Film ist ein klassisches Drama. Er erzählt von neun Tagen im Leben eines Geistlichen - des Abbé Kremer - , der dem KZ auf kurze Zeit entkommt, um in die schwerste Gewissensprüfung seines Lebens geführt zu werden. Die Handlung des Films - inspiriert von der Lektüre eines Dokuments - ist fiktional. Die Drehbuchautoren Eberhard Görner und Andreas Pflüger haben kein Doku-Drama geschrieben, sondern - wie Volker Schlödorff sagt - "erkannt, dass es kein Fall ist, den man dokumentarisch nachstellen kann, sondern ein Stoff ist, den es zu dramatisieren gilt."

Volker Schlöndorff betont, dass es sich bei dem Grundkonflikt, in dem die von Ulrich Matthes glänzende gespielte Figur des Abbé Kremer steckt, um einen moralischen Konflikt des Individuums handelt. Es kann sich bei seiner Entscheidung nicht hinter Kirche, Gesetz oder Staat verstecken. Der Film ist ein Drama, echtes spannungsgeladenes Suspense-Kino.

Bernd Eichinger verglich die Dramaturgie seines Films "Der Untergang" typologisch mit der des Blockbusters "Titanic" von James Cameron. Der Produzent sagt über seinen Film: Es geht von der ersten Minute an steil und unaufhaltsam hinunter. Das Szenario des Katastrophenfilms ist es, dem wir beim "Untergang" folgen, wenn wir den für Deutschland katastrophalen Ausgang des Zweiten Weltkriegs im Führerbunker miterleben.

Die Frage, ob man Hitler "als Menschen" darstellen dürfe, ist durch die Regeln des Genres schon entscheiden - ja, man muss, aber... Dieses "aber" ist es, was den Film zu einer überzeugenden Leistung macht. Dem Publikum wird die Einfühlung in die Figuren im Bunker nicht nur erschwert, sondern oftmals gänzlich verweigert. Eine heikle Strategie, wenn man die Maxime der emotionalen Aktivierung der Zuschauer berücksichtigt. Die schauspielerischen und inszenatorischen Leistungen bewirken, dass der Zuschauer nicht etwa emotional teilnahmslos bleibt, sondern mehr und mehr erschrocken und befremdet ist, ohne sich den grauenhaften Vorgängen auf der Leinwand entziehen zu können. Wieder ist es Ulrich Matthes, der es mit all seinen schauspielerischen Fähigkeiten erreicht, Joseph Goebbels so darzustellen, dass Empathie und Einfühlung nicht aufkommen, die Figur aber in hohem Masse interessant bleibt.

Die Machart des Films legt dem Zuschauer nahe: das Opfer der Katastrophe ist nicht innerhalb, sondern außerhalb des Bunkers zu suchen - es ist das deutsche Volk.

Es ist meines Erachtens in hohem Masse erfreulich, dass wir im deutschen Film gegenwärtig in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus einen Reichtum der künstlerischen Mittel und Handschriften vorfinden. Es ist ein Beweis für die gewachsene künstlerische Vielfalt und das große Potenzial der deutschen Filmemacher.

Wie können wir es verhindern, dass im rechtsradikalen Lager Missbrauch damit betrieben wird? Wir brauchen, so meine ich, eine neue gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, über seine Wurzeln, seine katastrophalen Auswirkungen für das deutsche Volk, über den Nährboden auf dem sein Gedankengut wachen kann. Diese Auseinandersetzung muss zu einer neuen Aufklärung führen, die jedem Mythos, jeder Glorifizierung dieser Phase deutscher Geschichte alle Chancen nimmt. Die deutsche Filmemacher geben uns mit ihren Werken geeignete Instrumente dafür in die Hand.

Ich danke Ihnen.