Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 28.02.2005

Anrede: meine Herren Minister, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/794707/multi.htm


Königliche Hoheiten, ich möchte gerne zu drei Themenbereichen Bemerkungen machen. Zunächst: Was bringt uns eigentlich zusammen, Deutsche und Saudis? Zweitens: Wie sieht das internationale Umfeld aus für die wirtschaftlichen Tätigkeiten, die wir uns vorgenommen haben? Und zum Dritten möchte ich Bemerkungen über mein Land als Standort für Investitionen aus Saudi-Arabien machen. Denn wir wollen, dass die deutsche Wirtschaft sich in Saudi-Arabien mehr als in der Vergangenheit engagiert. Wir wollen aber zugleich, dass die erhebliche wirtschaftliche Kraft Saudi-Arabiens auch in Deutschland sichtbar wird. Um es an einem Beispiel zu sagen: Viele Staaten in der Region - auch solche, die ich auf meiner Reise besuchen werde - engagieren sich direkt, indem sie sich an deutschen Unternehmen beteiligen. Wir haben ein Interesse daran, dass Kapital aus dieser so wichtigen Region auch und gerade nach Deutschland fließt. Deswegen werbe ich nicht nur für verbesserte Handels- und Austauschbeziehungen, für ein Engagement der deutschen Wirtschaft in Saudi-Arabien, sondern ich werbe auch dafür, dass Sie sich, die saudische Wirtschaft, in Deutschland engagieren.

Sie haben, Herr Minister, zu Recht darauf hingewiesen, wie traditionsreich die deutsch-saudischen Beziehungen sind. Sie haben daran erinnert, dass wir gestern das 75-jährige Jubiläum der Formalisierung dieser Beziehungen gefeiert haben. Ich fand es sehr schön, Herr Minister, dass Sie auch auf die kulturelle Dimension unserer Beziehungen hingewiesen haben und den West-östlichen Divan zitiert haben. Ich finde, dass diese große Tradition sich in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen wiederfinden soll. Ich bin das letzte Mal vor 18 Monaten hier gewesen. Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, meine Reise durch die Region in Saudi-Arabien zu beginnen. Denn Ihr Land ist das politisch und wirtschaftlich einflussreichste der Region und bekommt deshalb zu Recht eine große Aufmerksamkeit der internationalen Politik, auch der internationalen Wirtschaft.

Wenn ich diesen Konsultationsprozess, den ich begonnen habe, erwähne, dann auch deshalb, weil er auf allen Ebenen dichter werden soll. Es darf nicht so sein wie in der Vergangenheit, dass wir trotz unserer großen Tradition der Zusammenarbeit, einander fremder werden als wir sein dürfen, weil es so wenig gegenseitige Besuche gibt. Deswegen möchte ich, dass dieser Konsultationsprozess eng wird und er auf allen Ebenen vonstatten geht, insbesondere auf der Ebene der Wirtschaftsminister und derer, die für Wirtschaft in unseren Ländern verantwortlich sind.

Ich hatte von dem internationalen Umfeld gesprochen, um das wir uns kümmern müssen. Eines ist klar: die wirtschaftliche Entwicklung der Länder gedeiht am besten, wenn es gelingt, Frieden in dieser Region zu schaffen. Deshalb geht es auch darum, miteinander Gemeinsamkeiten für diese Art von Politik zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen. Es gibt einige große Konflikte, die wir gemeinsam - Europäer, Amerikaner und die Kräfte der Region - lösen müssen. Als erster Konflikt ist natürlich der zu nennen, den es zwischen Israel und Palästina gibt. Ich sage klar, was wir wollen: Wir wollen ein Israel in anerkannten sicheren Grenzen, dessen Menschen frei von terroristischen Attacken sind. Wir wollen aber auch einen lebensfähigen, einen selbständigen Staat der Palästinenser, in dem diese Menschen frei und in wirtschaftlich guter Zukunft leben können.

Mein Eindruck ist, Exzellenzen, meine Damen und Herren, dass wir gegenwärtig eine Phase erleben, in der die Lösung dieses so schwierigen Konfliktes, der Ursache für viele politische und wirtschaftliche Verwerfungen ist, jedenfalls leichter geworden ist. Ich denke, wir haben alle ein Interesse daran, diesen Moment zu nutzen, um den Konflikt lösen zu können. Dass das in erster Linie ein starkes Engagement der Vereinigten Staaten von Amerika erfordert, ist jedem klar, der sich mit den politischen Gegebenheiten befasst. Aber auch die Europäer, die Deutschen, können und wollen einen Beitrag leisten - ergänzend zu dem, was vor allen Dingen die Vereinigten Staaten von Amerika leisten müssen. Dabei wollen wir nicht abseits stehen. Das jedenfalls ist unser fester Wunsch und auch unser Wille. Die Europäische Union wird, um Strukturen aufzubauen, für einen Palästinenserstaat 250 Millionen Euro bereitstellen. Wenn über Leistungen der Europäischen Union geredet wird, dann ist es immer zu einem Viertel deutsches Geld. Denn ein Viertel des europäischen Haushaltes zahlt Deutschland. Darüber hinaus sind wir auch bereit, beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen und ökonomischen Strukturen behilflich zu sein.

Der zweite Konflikt, über den zu reden ist, betrifft den Irak. Ich will nicht ein Stück Zeitgeschichte aufarbeiten. Aber ich denke, die ganze Region hat ein Interesse an einem stabilen Irak, der den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft genügt. Deutschland hat sich nicht mit Soldaten im Irak beteiligt und wird sich nicht beteiligen. Aber wir haben ein Interesse daran, hilfreich zu sein, wenn es um den Aufbau von Sicherheitsorganen geht, die eigenständig Sicherheitsaufgaben wahrnehmen können. Wir haben ein Interesse daran, dass wirtschaftlicher Aufbau vonstatten geht. Auch hier gibt es Möglichkeiten der Zusammenarbeit in der Region.

Wir sind zusammen mit anderen europäischen Staaten dabei, einen weiteren Konflikt einzugrenzen und wenn möglich zu lösen. Wir sind der Auffassung, dass es unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Massenvernichtungsmittel nicht weiter verbreitet werden. Das betrifft in diesem Fall den Iran. Wir wünschen nicht, dass er über atomare Waffen verfügt. Wir müssen sicherstellen, dass das unterbleibt. Wir sind gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien in aussichtsreichen Verhandlungen, die wir mit Entschiedenheit fortsetzen wollen.

Sie sehen, Exzellenzen, meine Damen und Herren, das ist das Umfeld, in dem sich wirtschaftliche Tätigkeit in dieser Region vollzieht. Je mehr wir friedliche Entwicklung schaffen, umso mehr wird es uns gelingen, wirtschaftliche Tätigkeiten voranzubringen. Das ist der Zusammenhang: Ohne Frieden wird auch wirtschaftliche Prosperität, auf Dauer jedenfalls, nicht funktionieren.

Was sind die Felder der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Saudi-Arabien einerseits und Deutschland andererseits? Sie, Herr Minister, haben zu Recht über das Ausmaß an Infrastrukturmaßnahmen gesprochen, das Saudi-Arabien in den nächsten Jahren vor sich hat. Die Frage ist: Was können wir miteinander zu unserer beider Nutzen beitragen? - Ich denke, dass wir uns zunächst einmal die gewaltigen Möglichkeiten beim Aus- und Aufbau der Infrastruktur in Ihrem Land anschauen sollten. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Zusammenarbeit in diesem Sektor mit einem großen Projekt beginnen könnte. Das ist gewiss wichtig. Deutschland ist immer daran interessiert, bei großen wichtigen Projekten mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Aber wir möchten auch gerne an der Planung, an der Entwicklung der Infrastruktur beteiligt werden. Deutschland verfügt - das weiß man in Saudi-Arabien - über erstklassige Ingenieurbüros und über großartige Architekten. Deutschland verfügt über ein dichtes Netz von Consulting-Unternehmen - alles Unternehmen, die sehr große Erfahrung bei der Planung und Entwicklung von Infrastruktur haben. Warum ist das so?

Nicht zuletzt deshalb ist es so, weil Deutschland vor 15 Jahren das Glück der Wiedererlangung seiner staatlichen Einheit hatte. Wir mussten zwei unterschiedliche Wirtschaftssysteme zusammenbringen. Wir mussten eine Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft umwandeln, und wir mussten Aufholprozesse im Osten unseres Landes in Gang setzen - nicht zuletzt Aufholprozesse bei der Entwicklung der Infrastruktur. Wir haben das planerisch unter Rückgriff auf die eben genannten Planungs- und Consulting-Unternehmen geleistet. Wir möchten auf diesem Gebiet sehr viel enger als in der Vergangenheit zusammenarbeiten, damit Sie hier in Saudi-Arabien von unseren Erfahrungen profitieren können und so die Basis für eine Zusammenarbeit gelegt wird, die sich dann natürlich auf den Bau und die Lieferung von Technologien erstreckt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang, liebe saudi-arabischen Freunde, auf das eingehen, was Deutschlands Wirtschaft immer ausgezeichnet hat. Unser Interesse ist, faire Partner zu sein. Wir wollen und wir müssen niemanden dominieren. Wir sind die größte Handelsnation der Welt und als solche auf faire Partnerschaft angewiesen. Faire Partnerschaft heißt, dass wir nicht nur Märkte wollen, sondern auch hilfreich bei der Entwicklung der Märkte sein wollen, um die es geht.

Lassen Sie mich ein besonders wichtiges Beispiel nennen: Wenn deutsche Unternehmen dauerhaft in Ihrem Land präsent sind, dann leisten sie immer auch einen Beitrag zur Ausbildung Ihrer Menschen. Deutschland hat das beste Ausbildungssystem, das es weltweit gibt, weil es eine Integration von theoretischer Ausbildung und praktischer Ausbildung in den Betrieben kennt. Sie stehen vor der Frage, wie Sie insbesondere den jungen Bürgerinnen und Bürgern Beschäftigungsmöglichkeiten verschaffen können. Fast immer hängt dies mit Ausbildung zusammen. Die deutschen Unternehmen kennzeichnet in besonderer Weise, dass sie nicht nur einen Markt wollen, sondern dass sie bereit sind, Ausbildungshilfen bereitzustellen, um den Menschen eine Perspektive zu geben. Diesen Aspekt der wirtschaftlichen Zusammenarbeit kann man nicht hoch genug einschätzen, weil er von Dauer ist und eine großartige Perspektive beinhaltet.

Es gibt einen weiteren Aspekt. Vor dem Hintergrund der Traditionen und der traditionsreichen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Deutschland haben wir noch nicht den Stand des wissenschaftlichen Austausches erreicht, den wir erreichen können und, wie ich finde, erreichen müssen. Gegenwärtig sind wir auf der politischen Ebene damit beschäftigt, einen Studentenaustausch größer als je zuvor zu ermöglichen. Wir haben ausgezeichnete Universitäten und großartige Studienmöglichkeiten nicht zuletzt auch für die Menschen, die als junge Leute aus Saudi-Arabien zu uns kommen wollen. Diesen Bereich der Zusammenarbeit auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Ausbildung, nicht nur in den Naturwissenschaften und auf dem medizinischen Sektor, sondern auch in anderen Bereichen, müssen wir künftig vertiefen.

Ich habe gestern Abend lange mit den deutschen Unternehmen geredet und versucht zu erfahren, was ihre Probleme beim Engagement in Saudi-Arabien sind und welche Erwartungen sie haben. Sie sagen sehr deutlich, dass es ein großes Maß an Zufriedenheit gibt, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht. Im Grunde entsprachen die Erwartungen dem, was der Minister eben als seine Reformagenda formuliert hat. Das heißt, wenn Sie auf dem Wege der Schaffung von mehr Rechtssicherheit, wie Sie es selber erläutert haben, vorangehen, dann wird die wirtschaftliche Entwicklung, die Exportmöglichkeiten aus Saudi-Arabien nach Deutschland, besser werden. Ich kann Sie nur ermuntern, diesen Weg weiter zu gehen. Wir haben 1999 ein Investitionsschutzabkommen miteinander geschlossen, das funktioniert. Wir sind in intensiven Diskussionen über ein Doppelbesteuerungsabkommen. Dieses Abkommen ist für einen regen wirtschaftlichen Austausch von großer Bedeutung. Wir müssen erreichen, dass Streitfragen präzise, kalkulierbar und schnell von den Gerichten entschieden werden. Jede Unkalkulierbarkeit macht eine Investition schwieriger und nicht leichter. Umgekehrt gilt: Je höher die Kalkulierbarkeit - das ist immer auch Rechtssicherheit - , desto besser ist das Investitionsklima.

Wir haben schließlich festgestellt, meine Damen und Herren, Exzellenzen, dass es manchmal Defizite bei der Frage gibt, was in dem einen oder anderen Sektor des Landes passiert. Wir brauchen mehr Informationen über die Projekte, die der Herr Minister genannt hat, damit sich deutsche Unternehmen beteiligen. Ich meine das durchaus im Wettbewerb zu anderen, damit ich nicht missverstanden werde. Wir sind selbstbewusst genug - und unsere Wirtschaft ist es auch - zu wissen, dass wir immer dann, wenn wir faire Wettbewerbsbedingungen antreffen, eine gute Chance haben, bei den entsprechenden Projekten auch zum Zuge zu kommen. Anders gesagt: Wir wollen keine Bevorzugung. Wir wollen keine politischen Hilfen. Wir wollen faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen, weil wir wissen, dass sie gut genug sind, um in solchen fairen Wettbewerben ihre Möglichkeiten auch zu nutzen.

Ich will, meine Damen und Herren, abschließend ein paar Bemerkungen machen über Deutschland. Wenn man über Deutschland redet, dann muss man auch über Europa reden. Wir sind in einem Prozess der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union. Staaten aus Ost- und Mitteleuropa sind nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinzu gekommen - ein Markt von 450 Millionen kaufkräftigen Menschen ist entstanden. Es ist auch ein Markt, der Chancen für Ihre Wirtschaft beinhaltet. Vertiefung heißt, dass wir die Entscheidungsprozesse in einem so großen Gebilde transparenter und schneller machen müssen, dass wir die Zusammenarbeit auf den unterschiedlichsten Sektoren immer enger gestalten müssen, damit Europa politisch, aber vor allem wirtschaftlich, mit möglichst einer Stimme sprechen kann.

In diesem Prozess müssen wir Deutschland modernisieren. Wir müssen auf zwei große Herausforderungen antworten, die Sie nicht in gleicher, aber doch auch in ähnlicher Weise betreffen. Die eine Herausforderung ist die Globalisierung der Wirtschaft. Das heißt verschärfte Wettbewerbsbedingungen und das heißt, dass wir unsere Wirtschaft effizienter organisieren müssen. Speziell in Deutschland, speziell in Europa gibt es eine zweite Herausforderung, nämlich die Überalterung unserer Gesellschaft. Diese drückt auf die Systeme der sozialen Sicherung. Wir sind mitten in einem Prozess, um diese Systeme zu verändern und zukunftsfest zu machen.

Wir müssen unser Land in drei wesentlichen Bereichen stärken. Erstens: Wir müssen Forschung und Entwicklung stärken. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Wir sind darauf angewiesen, den Rohstoff, der in den Köpfen unserer Menschen ist, besonders zu pflegen. Das heißt, wir müssen mehr Ressourcen mobilisieren, um sie in Forschung und Entwicklung zu investieren. Wir sind immer noch gut bei der Entwicklung neuer Technologien. Wir gehören immer noch zur Weltspitze. Wenn das so bleiben soll, dann müssen wir auch im Bereich von Forschung und Entwicklung weiter vorn bleiben. Wir müssen uns zum Zweiten auf die Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung einstellen und unseren Arbeitsmarkt flexibilisieren. Wir sind mitten in diesem Prozess mit allen Schwierigkeiten, die das in einer entwickelten Industriegesellschaft heraufbeschwört. Wir müssen zum Dritten unsere Systeme der Sicherheit für unsere Menschen verbessern. Verbessern heißt, sie zunächst auf die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bedingungen einzustellen. Wir sind mitten in diesem Prozess, und wir sind dabei schneller als andere große europäische Staaten.

Wir müssen diesen Reformprozess unter einem wichtigen Aspekt bewerkstelligen, mit dem kein anderes Land fertig werden muss: 4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes - das sind rund 80 Milliarden Euro - transferieren wir jedes Jahr in unserem Land von West nach Ost, um die Folgen der Teilung zu überwinden. Damit wird deutlich, wie stark und attraktiv die deutsche Wirtschaft ist. Einen solchen gewaltigen Transfer aufzubringen, das könnten nur wenige Volkswirtschaften in der Welt. Bisher gibt es keine, die das je hat erledigen müssen. Wir tun das seit 15 Jahren, und wir tun es gern. Wir haben gleichwohl auf den Märkten der Welt nicht an Einfluss verloren, sondern an Einfluss, an Marktmöglichkeiten gewonnen. Das mag Ihnen deutlich machen, dass es sich hier um eine Volkswirtschaft handelt, die hoch attraktiv ist und die in der Tat darauf wartet, dass Sie sich als unsere Partner und Freunde auch dort engagieren.