Redner(in): Michael Naumann
Datum: 28.01.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/24/7424/multi.htm


I. Lassen Sie mich mit einer Verlegenheit beginnen, mit einer

Unruhe, die jeden erfasst, der über den Mord an den Juden Europas nachdenkt. Wir

wollen über politische und das heißt heute ethische - Konsequenzen aus der

Geschichte des Holocaust sprechen. Und wir sind doch mit der Diagnose nicht

fertig. So klagt einer der begabtesten jungen deutschen Historiker, Ulrich

Herbert: " Da es keine Theorie des Holocaust gibt, [...] ist es im Grunde immer

nur wieder die Auseinandersetzung mit dem Geschehen selbst, die das Bedürfnis

nach Aufklärung stillen kann. Nur die Unbegreiflichkeit zu konstatieren, führt...] ins Leere." Es ist freilich die Klage eines Historikers, dem die Bild und

Text gewordenen Daten des Grauens keine Antworten geben auf seine Fragen. Der

Holocaust droht, zur Metapher des Unerklärlichen zu verblassen. Leider wissen

wir heute, dass die schockhafte Konfrontation mit dem Ur-Verbrechen dieses

Jahrhunderts in den Vernichtungslagern der SS keineswegs eine universal

folgenreiche Rückbesinnung aller Menschen auf den manifesten Verlust von

Menschlichkeit zur Folge hatte eine Besinnung, die eigentlich zu erwarten

gewesen wäre. Und diese Enttäuschung hat wenig zu tun mit der unzulänglichen

strafrechtlichen Sühne der Mordtaten, sondern alles mit den unbeantworteten

Fragen nach ihren geistigen und gesellschaftlichen Wurzeln.

Was ist der Kern jener Menschlichkeit, die im Holocaust

zerstört werden sollte? Wem genau galt der Furor der Aggression? Darüber gilt es

weiter nachzudenken; denn die Ratlosigkeit ist groß. Eberhard Jäckel, ein Nestor

der Hitlerforschung, hat den Grund solcher Ratlosigkeit in der unzureichenden

Würdigung des deutschen Diktators gefunden: " Man wird sich noch einmal Hitler

zuwenden müssen. [...] An der Spitze stand Hitler allein! ". Aber wer waren dann

all die anderen Mörder? Wer die Juristen, die Pastoren, die Offiziere, die

Lehrer, die deutsche Funktionselite des Dritten Reichs? Und was waren ihre

Motive?

Jäckels weltberühmter deutscher Kollege, der Hitlerbiograph

Joachim Fest, hat resignierend konstatiert, dass die Frage nach der Art und

Herkunft von Hitlers eigenem Judenhass " unbeantwortet und womöglich

unbeantwortbar "ist. Das Böse" an sich - so vermutet Fest mittlerweile - habe sich

in der Person Hitlers einer durch und durch säkularisierten Welt in blutige

Erinnerung gerufen. Dass dieser als "metaphysisch" ironisierte Theorieansatz

alsbald einem stillen Diskussionsverbot unterstellt werden würde, war abzusehen;

denn säkularisiert ist die Welt in der Tat und die in ihr agierende Wissenschaft

von der Gesellschaft allemal. Hatte uns die empirische Verhaltensforschung nicht

gelehrt, vom "sogenannten Bösen" rückzuschließen auf naturwissenschaftlich exakt

erklärbare Evolutionsmechanismen? Immerhin, Time Magazine sieht - im

Anschluss an Explaining Hitler von Ron Rosenbaum - in seiner

Sondernummer Person of the Century vom 31. Dezember 1999 Hitler ebenfalls

als Beweis dafür,"that evil does exist". Yehuda Bauer, dem wir eine

bewegende Rede im Deutschen Bundestag zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

verdanken, hält zwar nichts von derartigen Überlegungen, doch die Unruhe über

den unbefriedigenden Forschungsstand lässt auch ihn nicht los: " Hitler ist im

Prinzip erklärbar; das bedeutet aber nicht, dass er erklärt worden ist ",

vertraut er im Jahre 1998 dem amerikanischen Autor Ron Rosenbaum an.

Wenn man mit der Antwort "Hitler" nicht weiterkomme bei der

Suche nach dem "Warum", so sagen wiederum andere Autoren ( z. B. Daniel

Goldhagen ) , könne man vielleicht mit einer Charakteranalyse des deutschen Volkes

zu endgültigen Aussagen kommen. Wenn es wirklich die grausamste und

judenfeindlichste Menschenansammlung der Geschichte gewesen ist, dann erkläre

sich daraus der Holocaust fast wie von selbst. Nun mag es sein, dass niemand

jemals grausamer und judenfeindlicher war als die Deutschen. Aber eine

vergleichende Grausamkeitsforschung, die da Klarheit schaffen könnte, gibt es

nicht. Der größte Teil der Menschheitsgeschichte liegt im Dunkeln, die Rituale

der Menschenopfer und Infantizide beschäftigen allenfalls die archäologische

Anthropologie. Gleichwohl gälte es zu fragen: Was wäre denn die geistige Wurzel

solcher modernen, technisch perfektionierten Grausamkeit? Was ist der Kern einer

massenhaften, organisierten Unmenschlichkeit?

Was sollen die Eltern ihren Kindern, die Lehrer ihren Schülern,

die Professoren ihren Studenten, die Journalisten ihren Lesern und die Politiker

ihren Wählern sagen, wenn unsere besten Fachgelehrten selbst nicht weiter

wissen?

Nun sucht seit einem halben Jahrzehnt ein Völkermordforscher,

der deutsche Gelehrte Gunnar Heinsohn, einen Ausweg aus diesem Dilemma. Er

betreibt eine etwas aus der Mode gekommene Disziplin, die wir als kritische

Geistesgeschichte beschreiben können; der Begriff "kritisch" steht für sein

offensichtliches Bemühen, sich jedem religiös-fundamentalistischem

Transzendentalismus zu entziehen eine Art negative Theologie. Heinsohn ruft

uns in Erinnerung, dass die Zivilisation Europas und Amerikas auf vier Pfeilern

ruhe - zwei jüdischen und zwei griechischen. Aus dem Judentum kommen die

Wahrheit der Lebensheiligkeit und der Eingottglaube, aus dem alten Hellas das

Prinzip des Eigentums und der Einehe. Immer wieder ist in unserer Geschichte an

diesen Pfeilern gerüttelt worden. Allein Hitler-Deutschland jedoch machte sich

zwischen 1933 und 1945 bewusst, das heißt mit geheimen Reichserlassen und

offener Gesetzgebung daran, das höchste dieser Prinzipien, die Heiligkeit des

Lebens, wieder abzuschaffen. Das "Dritte Reich" führte einen paganen Kreuzzug

wider zwei Religionen die jüdische und die christliche: genauer, einen

Hakenkreuzzug, dessen unheilige Urgewalt als Manifestation einer hochtechnisch

bewaffneten, entgleisten Moderne das Bild unserer Zivilisation ( und mit ihr das

Bild der weitgehend angepassten christlichen Kirchen Deutschlands ) nachhaltig

verdunkelte.

Mit der Ermordung des Judentums sollte seine Religion

schlechthin vernichtet werden. Die Deutschen sollten ohne fromme Gewissensnot

den slawischen Lebensraum bis zum Ural mit seinen hundert Millionen Menschen

ausrotten, aber auch behinderte oder schwer kriegsverletzte Deutsche und andere Untüchtige " in der Heimat skrupellos beseitigen können. Das Judentum - als

Religion und als lebendige Menschengruppe - sollte niemals wieder den deutschen

Tötungswillen "zersetzen". Auch deshalb hatte Hitler zuerst die Entfernung der

Juden aus dem deutschen Machtbereich und schließlich ihre physische Vernichtung

beschlossen.

Aus diesem Blickwinkel würde zugleich verständlich, warum auch

jeder Nichtjude verfolgt wurde, der das jüdische Erbe der Lebensheiligkeit im

christlichen Glauben verteidigte. Er musste dafür allerdings aktiv werden, sich

sichtbar als "verjudet" erweisen. Ein Jude hingegen konnte nicht einmal durch

Abschwören seiner Ethik auf Schonung rechnen: So verbündete sich der

ideologische Rassismus des 19. Jahrhundert mit dem politisch-religiösen

Heilsprogramm der Nationalsozialisten. Als eine Art Volksbiologe bedrängte

Hitler am 21. Juli 1941 - die Massenvernichtung der Juden war seit einem knappen

Monat ( 25. Juni 1941 ) im Gange - den faschistischen kroatischen

Kriegsminister Kvaternik: " Wenn auch nur ein Staat [der Achse] aus

irgendwelchen Gründen eine jüdische Familie bei sich duldet, so würde diese der

Bazillenherd für eine neue Zersetzung werden."

Am 23. 09. 1941 hatte Wilhelm Keitel - Chef des Oberkommandos der

Wehrmacht - die Tötung gefangener Kommissare ( KPdSU-Mitglieder in der

Sowjetarmee ) als "Vernichtung einer Weltanschauung", bezeichnet, die er billige "und" decke ". Mehr als zwei Millionen russische Kriegsgefangene in der

Obhut der Wehrmacht kamen zu Tode, erschossen, verhungert, durch Krankheiten

entkräftet. Eugen Stähle - ministerialer Aufseher der württembergischen Klinik

Grafeneck, in der vom September 1939 an behinderte Deutsche vergast wurden -

wies am 4. Dezember 1940 den Stuttgarter Oberkirchenrat Reinhold Sautter zurück,

der ihn in einem privaten Gespräch die Tötung sogenannten "lebensunwerten"

Lebens vorgehalten hatte. Stähle erwiderte kühl: " Das 5. Gebot: Du sollst nicht

töten, ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung." In der Tat,

das Kinder, Behinderte, Kranke und Alte einschließende Tötungsverbot war ein

zentraler Beitrag des Judentums zur Zivilisation, war Abschied von archaischen

Ritualen des Menschenopfers. In einem Wort, die systematische Vernichtung des

jüdischen Glaubens an den Lebensschutz als dem höchsten menschlichen Prinzip

bildete das ideologisch-terroristische Kraftzentrum des Holocaust. Jeder

Historiker des Nationalsozialismus könnte unzählige Belegstellen dieses

Sachverhalts versammeln gleichwohl blieb es Zeitgenossen Hitlers, genauer,

seinen Opfern, vorbehalten, die angeblich unerklärliche Herkunft dieses Terrors

beim Namen zu nennen: "Das Böse" von Auschwitz wurde dort erkannt, wo es in

seiner Unfassbarkeit Gewissheit würde. In der sprachlosen Trauer der

Überlebenden, in ihrem jahrzehntelangen Schweigen, erklärte sich ihre Erfahrung

im "Herzen der Finsternis". Eine junge Jüdin, die an einem schuldigen Zeugen

einer Massenermordung nackt vorüberging, wies auf ihren Körper und sagte: " 18

Jahre ". Sie meinte: Mein Leben, mein unschuldiges Leben.

II. Wenn diese Überlegungen stimmig sind, dann verstand Hitler

selbst sich keineswegs als größten Verbrecher oder als historisch maßlosesten

Übertreter des Gesetzes der Lebensheiligkeit, sondern als dessen planmäßiger

Beseitiger. Hitler hätte bei einem denkbaren, militärischem Sieg ein Recht auf

Völkerbeseitigung geschaffen und somit die gültige Völkerrechtsordnung

umgeworfen. Zumindest die ersten Versammlungen der Vereinten Nationen nach 1945

scheinen ihn genau so verstanden zu haben. Bekanntlich haben sie im Dezember

1948 - bei ihren Sitzungen im Pariser Palais Chaillot - den Opfern des Holocaust

in nur zwei Tagen zwei wegweisende Denkmäler errichtet, und zwar durch

internationale Gesetze mit völkerrechtlich bindender Kraft. Allerdings fehlten

die dazugehörigen Sanktionsmechanismen.

Dem historischen, nationalsozialistischen Schritt zur

Abschaffung des Tötungsverbotes wurde am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen

Erklärung der Menschenrechte als höchstes Prinzip entgegengestellt: " Jedermann

hat das Recht auf Leben! " ( Artikel 3 ) . Im 2. Satz der Präambel wurde der

Holocaust, der "Akt der Barbarei", als unmittelbarer Anlass für die Erklärung

kenntlich gemacht.

Das Osloer Nobelpreiskomitee verlieh im Jahre 1968 René Samuel

Cassin ( 1887 - 1976 ) den Friedenspreis. Dieser sephardische Jude und Jurist aus

Frankreich war der eigentliche Verfasser der Allgemeinen Erklärung der

Menschenrechte. Vor Hitler-Deutschland hatte er nach London fliehen können. Mit

seinem Gesetz änderte er nicht umgehend den Lauf der Welt, aber er formulierte

den - seitdem auch nie mehr ernsthaft in Frage gestellten - Anspruch auf eine

neue Epoche, also auf eine ethische Erneuerung der zivilisierten Gemeinschaft

aller Staaten. Denn nunmehr unterstanden nicht nur die Deutschen von neuem dem

Gebot "Du sollst nicht töten", sondern alle Völker der Erde.

Ihr zweites Denkmal für die Opfer des Holocaust errichteten die

Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948, einen Tag vor der

Menschenrechtserklärung. Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des

Völkermordes führt in ihrem Artikel 2 die Ausrottungsverfahren der

Nationalsozialisten minutiös auf: ( 2a ) Tötung von Mitgliedern der Gruppe [i. e. Vergasung,

Erschießung, Injektionen] ; 2b ) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen

Schaden an Mitgliedern der Gruppe [i. e. Konzentrationslagerhaft,

medizinische Experimente etc.] ; 2c ) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die

Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise

herbeizuführen [i. e. Ghettoisierung, Vernichtung durch Arbeit,

Todesmärsche] ; 2d ) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung

innerhalb der Gruppe gerichtet sind [i. e. Zwangssterilisation] 2e ) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine

andere Gruppe [i. e."Umvolkung" blonder Slawenkinder] ."

All diese Eliminationsverfahren wurden nun wiederum nicht

allein den Deutschen, sondern der ganzen Menschheit verboten. Nirgendwo sollte

sich noch einmal ein Staat oder ein Diktator ein Recht auf Völkermord anmaßen.

Was Cassin für die Menschenrechtserklärung leistete, schaffte Raphael Lemkin 1900 - 1959 ) für die Völkermordkonvention. Der polnische Jurist und Jude

askenasischer Herkunft war vor Hitler-Deutschland über Stockholm und London in

die Vereinigten Staaten in Sicherheit gebracht worden. Im Jahre 1943 hatte er

für die polnische Exilregierung in London dem Menschheitsverbrechen erstmals

einen Namen gegeben: Ludobójstwo ( von = Volk und zabójstwo Mord ) . Im Jahre 1944 transponierte er den polnischen Terminus ins

Englische als genocide ( von griechisch = Volk und lateinisch

caedere = töten;) . Bis dahin behalf man sich mit dem 1915er Terminus crimes against humanity ", der im Deutschen als" Verbrechen gegen die

Menschlichkeit "wiedergegeben wird, obwohl" Verbrechen gegen die Menschheit "

gemeint war.

Bereits am 24. Mai 1915 hatten Großbritannien, Frankreich und

Rußland den Genozid an den Armeniern als " new crimes of Turkey against humanity

and civilization " bezeichnet und Rechenschaft verlangt. Am 10. April 1919 kam es nach der Verurteilung in den Istanbuler Prozessen - zur ersten Hinrichtung der

Geschichte für den Straftatbestand "crimes against humanity". Am 12. Oktober

1942 hatte - angesichts der Judenvernichtung durch Hitler-Deutschland - die London International Assembly "von Völkerrechtlern empfohlen, mit" crimes

against mankind " einen neuen internationalen Straftatbestand zu schaffen.

Seltener wurde vor dem Gebrauch von "genocide" der französische Terminus populicide " verwendet. Ihn hatte im Jahre 1795 Gracchus Babeuf für die

Ausrottung der 117 000 Bauern der Vendée geprägt. Das fruchtbare Gebiet im

westlichen Frankreich blieb in der Tat über 25 Jahre lang so gut wie

menschenlos.

III. Dass Lemkins Völkermordkonvention im Jahre 1948 in der UNO

einstimmig verabschiedet wurde, hatte einen Preis. Lediglich " nationale,

ethnische, rassische oder religiöse Gruppen " ( Einleitungssatz von Artikel 2 )

sind gegen Tötungen zu schützen. Politische und ökonomische Opfergruppen werden

nicht erwähnt. Die Millionen getöteter Eigentümer, zum Beispiel die sogenannten Kulaken ", in den marxistisch-leninistischen Staaten des 20. Jahrhunderts

sollten offenkundig nichts ins Blickfeld rücken.

Wie steht es heute mit der Wirkung der Völkermordkonvention für

die von ihr ausdrücklich geschützten Minderheiten? Einfach ist das nicht zu

ermitteln; denn die vergleichende Völkermordforschung ist keine dreißig Jahre

alt. Sie beginnt systematisch erst im Jahre 1972 mit Gil Elliotts Buch The

Twentieth Century Book of the Dead. In Kanada und den USA beginnen Ein- oder

Zweipersoneninstitute meist von akademischen Aussenseitern gegründet - Ende

der achtziger Jahre mit entsprechenden Forschungen. In Europa entstand die erste

einschlägige Einrichtung vor sieben Jahren an der Universität Bremen, andere

sollten folgen. Ein lexikalischer Gesamtüberblick "Lexikon der Völkermorde"

liegt erst seit zwei Jahren vor, und auch er muß sich den Vorhalt gefallen

lassen, unvollständig zu sein. Dass das Buch keine unmittelbaren Konsequenzen

zeitigte, hat auch den Autor nicht überrascht.

Seit der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 sind mindestens

einhundert genozidale Akte nachweisbar. Die Tutsis, die Bosnier, die Kurden, die

Timoresen und Chinesen Indonesiens sowie die Dinka, Naga und Nuba Sudans sind

sogar mehrfach betroffen. Im amazonischen Regenwald Brasiliens ging es zwischen

den sechziger und achtziger Jahren gegen fünfzehn Naturvölker. Die Cintas

Largas z. B. wurden von 10 000 auf 500 Menschen reduziert. Ein kleines Volk gewiss - und wer von uns hörte je seinen Namen? Aber bei einer 95prozentigen

Auslöschung bleibt es in seinem Leiden auf furchtbare Weise unerreicht.

Das Schreckensregime Pol Pots in Kambodscha ist weithin

bekannte Geschichte. Der verantwortliche Massenmörder starb im eigenen Bett.

Nach 1945 - bei der Vertreibung von über 14 Millionen wurden auch 2,1

Millionen Deutsche, Zivilisten, allemal, in sieben Ländern Europas zu Tode

gebracht. Vor allem schwedische und schweizerische Journalisten haben damals

über die Entsetzen berichtet. Wir Deutsche haben immer noch eine Scheu, diese

Toten öffentlich zu erwähnen. Aber wir beklagen sie. Das dumpfe Gefühl, eine

verdiente Rache erlitten zu haben und die Entschlossenheit, nicht aufrechnen zu

wollen, spielen dabei gleichermaßen eine Rolle. Aber das Schweigen tut

denjenigen Europäern und Weltkriegssiegern Unrecht, die nach 1945 zwar deutsche

Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen haben, nicht jedoch selbst zu

Verbrechen an Deutschen übergegangen sind. Nachzustreben gilt es denjenigen, die

sich von der Rache zum Recht emanzipiert haben.

IV. Warum konnte es auch nach dem kläglichen Selbstmord Hitlers mit

Völkermorden so scheinbar ungehemmt weitergehen? Warum konnten die gewaltigen

Kräfte, mit denen Deutschland und das Japan Tojo Hidekis niedergerungen wurden,

auf einmal nicht mehr aufgeboten werden? Wieso blieben die Nürnberger Prozesse

von 1945/46 und die Tokioter Prozesse von 1946 bis 1948 ähnlich folgenlos wie

die Istanbuler Prozesse von 1918 bis1920 gegen jungtürkische Armeniermörder und

die Leipziger Prozesse von 1919/20 gegen deutsche Kriegsverbrecher des 1. Weltkrieges?

Die UNO von 1945 hat sich sehr schnell in eine

Völkergemeinschaft verwandelt, in der totalitäre und autoritäre Regime eine

deutliche, ja mächtige Minderheit stellten. Wichtige Entscheidungen konnte

ohnehin nur der fünfköpfige Sicherheitsrat treffen. Man würde es sich jedoch zu

leicht machen, verwiese man nur auf die Präsenz von Diktaturen in diesem

Gremium. Frankreich und England steckten lange in blutigen Kolonialkriegen. Die

USA als westliche Führungsmacht wiederum haben sich erst 1989 entschließen

können, die UNO-Völkermordkonvention von 1948 zu ratifizieren. Überdies waren

die Vereinigten Staaten oft genug dadurch blockiert, dass sie im Kampf gegen

kommunistische Regime mit autoritären Staaten genozidalen Zuschnitts glaubten

paktieren zu müssen. Wo sich Realpolitik selbst in ethische Entscheidungszwänge

brachte, siegte zumeist interessengeleiteter Pragmatismus. Erst die

massenmediale Präsentation seiner bisweilen tödlichen Konsequenzen veränderten

die innenpolitisch maßgebende Bewusstseinslage der westlichen Demokratien. Der

Vietnamkrieg wurde im Fernsehen entschieden.

45 Jahre lang scheiterten die Vereinten Nationen daran, die

Konvention über die Verhütung und Bestrafung des

Völkermordes auch nur teilweise umzusetzen. Erst von 1993 an wurden für

die Bestrafung der Verbrechen in Jugoslawien und - später - Ruanda

spezielle Gerichtshöfe geschaffen. Es dauert sogar ein halbes Jahrhundert, bis

im Juli 1998 ein permanenter Internationaler Strafgerichtshof der

Vereinten Nationen gebilligt wurde. Der Sturz des Kommunismus in Osteuropa

und der Sowjetunion seit 1989 hat dabei beschleunigend gewirkt. Immer noch steht

es jedoch miserabel um die Verhütung von Völkermord. Der Genozid an den

Tutsis im Frühjahr 1994 wurde von der ganzen Welt zugelassen "eyes wide shut".

Sechsmal bat der UN-Kommandeur in Ruanda - General Romeo Dallaire ( Kanada ) -

darum, das Morden mit einer Truppe von 5000 Mann - 2700 hat er bereits vor Ort -

verhindern zu dürfen. Jedesmal wurde er in New York abgewiesen. Schätzungsweise

800 000 Menschen wurden zwischen dem 6. April und 5. Mai 1994 regelrecht

abgeschlachtet. Kofi Annan - Dallaires Vorgesetzter in New York - bedauert das

später zutiefst. Aber damals wurde im Sicherheitsrat bewusst der Euphemismus civil war "verwendet, wahrscheinlich, weil man bei der Diagnose" genocide "

gemäß der eigenen Normen hätte handeln müssen.

Ein halbes Jahrzehnt später, im Jahre 1999, gelang die

Beendigung der Völkermorde im Kosovo - durch die NATO - und in Osttimor durch

vorwiegend westliche Truppen. Dennoch wurden nach Auskunft Carla del Pontes, der

Chefanklägerin am Haager Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das

frühere Jugoslawien ( ICTY ) , bis zum Abzug Serbiens aus dem Kosovo über 11 000

Albaner ermordet. In Ost-Timor starben binnen weniger Tage mehr als über 1000

Menschen und 70 000 Häuser - zwei Drittel aller Behausungen wurden

verbrannt.

Überdies verdanken sich beide Interventionen keineswegs

Mandaten der UNO, obwohl knapp 140 Mitglieder die Völkermordkonvention

unterschrieben haben. Sie haben also anerkannt," dass Völkermord, ob im Frieden

oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu

dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten " ( Artikel 1 der

Konvention ) .

V. Buchstaben und Geist der bahnbrechenden Konventionen und

Holocaustvermächtnisse von 1948 sind in Politik und Gesellschaft auch der

demokratischen Staaten weitgehend unbekannt geblieben. Dass ihre Verbreitung

eine kulturpolitische und pädagogische Aufgabe erster Ordnung darstellt, wird

noch kaum erfaßt. An welchen Schulen verlangt man schon, dass die

Völkermordkonvention und die Menschenrechtserklärung wenigstens dem Wortlaut

nach bekannt sein müssen? Wer von uns hier Versammelten wäre wirklich sicher in

diesen Materien? Warum neben einer Ballade nicht auch einmal die Würde dieser

Gesetze behandeln? Sie öffnen ein Fenster in die bessere Geistes- und

Gesetzesgeschichte Europas in eine Zeit, da die Idee politischer Autorität

verknüpft war mit der rechtsstaatlichen Überzeugung, dass der Repräsentant

gesellschaftlicher Herrschaft "religiosissimus iuris" zu sein hätte.

Eine neue Scheu vor dem Leben muss in den Mittelpunkt

politischer Erziehung gerückt werden. Verzeihen Sie einem sozialdemokratischen

Agnostiker solche Redeweise, aber der Kerngedanke der hebräischen Bibel, dass

Leben und Gutes identisch sein sollen, ist für eine antigenozidale

Weltzivilisation unentbehrlich: " Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben

und das Gute. / Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe

euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst " Deuteronium / 5. Mose 30: 15/19 ) . Es bedarf keiner religiös-mystischen Erfahrung,

um zu erkennen, dass die Abkehr von dieser offenbarten Wahrheit großes Unheil

über das 20. Jahrhundert gebracht hat. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser

Abkehr zu erforschen, sollte nicht der Theologie oder Sonntagspredigern allein

überlassen werden. Ökonomen und Soziologen allerdings auch nicht. In dieser

Frage gibt es kein Interpretationsmonopol; auch ich beanspruche keins. Fraglos

aber ist angesichts der Menschheitsschuld des Holocaust die Notwendigkeit der

Umkehr.

VI. Die Bundesrepublik Deutschland hat die UNO-Völkermordkonvention

am 22. Februar 1955 ratifiziert. Aber auch sie ließ dann 44 Jahre verstreichen,

bis sie zum erstenmal an einer militärischen Völkermordunterbindung mitwirkte.

Diese Abstinenz hatte verständliche historische Gründe. Doch am 24. März 1999

begründete Bundeskanzler Gerhard Schröder die deutsche Teilnahme am

NATO-Vorgehen gegen das bereits mehrfach genozidal aktiv gewordene

Serbien / Jugoslawien: " An unserer Entschlossenheit, das Morden im Kosovo zu

beenden, besteht kein Zweifel." Der Deutsche Bundestag unterstützte mehrheitlich

diese Haltung. Wir alle haben nicht nur um die ermordeten Albaner getrauert,

sondern auch um die Menschen, die bei den 78-tägigen NATO-Luftangriffen ihr

Leben verloren.

Eine Verhütung von Völkermord, die diesen Namen verdient, muss

früher ansetzen als bei militärischen Sanktionen. Und dennoch gibt es bis heute

nicht eine einzige internationale Frühwarnstation, die genozidale Alarmzeichen

sammelt und öffentlich verbreitet. Das erstaunt angesichts des folgenden

Sachverhalts: Am 30. Dezember 1999 - nach amerikanischen Initiativen seit 1996 -

hat der britische Wissenschaftsminister Lord Sainsbury die Formierung einer Task

Force für die Frühermittlung erdgefährdender Asteroiden und Kometen angekündigt.

Er sagte: " The risk of an asteroid or comet causing substantial damage is

extremely remote. This is not something that people should lie awake at night

worrying about. But we cannot ignore the risk, however remote, and a case can be

made for monitoring the situation on an international basis." Das Risiko von

Genoziden dürfte aber bisher pro Jahrhundert etwa hundert mal höher gelegen

haben als der Eintritt eines verheerenden - Kleinasteroiden in die

Erdatmosphäre. Überdies sollte die Abwendung menschlichen Tötens leichter fallen

als die Ablenkung eines kosmischen Desasters. Nun wird es interessant, wie lange

wohl eine bitter nötige Völkermordprävention auf die Asteroidenfrühwarnung in

Rückstand gerät.

Die meisten der seit 1944/45 gezählten 100 genozidalen Aktionen

sind erst während oder nach ihrem Vollzug der Weltöffentlichkeit bekannt

geworden. Menschenrechtsorganisationen haben versucht, diese Lücke zu füllen -

mit bescheidenen Mitteln und fast immer ohne feste Basis für die oft

lebensgefährliche Arbeit ihrer Aktivisten. Die Vielfalt und auch die Konkurrenz

unter diesen noblen Bewegungen erschwert überdies die Identifizierung eines

eindeutigen Ansprechpartners für die Bedrohten.

Internationale Organisationen und mächtige Staaten haben bis

heute gezögert,"Völkermord-Frühwarneinrichtungen" aufzubauen vielleicht, weil

sie durch deren Befunde nicht unter militärischen Handlungszwang gebracht werden

wollen. Auch wenn wir uns einig sind, dass in Zukunft viel schneller gehandelt

werden muß, wissen wir doch, dass permanente internationale Verbände nicht schon

morgen bereit stehen würden. Mit dem Aufbau eines Frühwarninstituts deshalb

ebenfalls zu warten, erschiene jedoch widersinnig. Wenn ein solches Institut

einen Völkermord voraussagt, den die Staatengemeinschaft dann geschehen lässt

und vielleicht auch lassen muss aufgrund besonderer politischer oder

strategischer Zwänge oder militärischer Notlagen - könnte das ja niemals gegen

die Frühwarnung als solche sprechen. Eine allgemeine Erfahrung des Holocaust,

nämlich die nationale und internationale Weigerung, die Wirklichkeit staatlichen

Terrors überhaupt wahrzunehmen, ist längst in die Geschichtsliteratur

eingegangen."The Terrible Secret" hat der Historiker Walter Laqueur sein Buch

über die frühzeitige Kenntnis des Westens vom wahren Ausmaß des Holocaust

genannt. Was wäre wohl geschehen, wäre die Wahrheit von Auschwitz, Sobibor,

Chelmno oder Treblinka nach 1942 kein "Geheimnis" geblieben?

Ein solches Institut sollte also gerade ohne Angst vor

möglichen Interventionszwängen rückhaltlos aufklären dürfen und keinerlei

Information zurückhalten müssen. Dafür muss es unabhängig sein. Gewiss würde

schon die bloße Existenz einer solchen Einrichtung etwas bewirken. Wie mit einer

Wetterkarte würde die Öffentlichkeit regelmäßig über drohende Gefahren

informiert. Auch die Planer von Genoziden - und sie gibt es - könnten

beobachten, dass man ihre Vorbereitungen erfasst.

Völkermorde können - anders als Massaker - nicht aus dem Stand

begangen werden. Historisch, so Gunnar Heinsohn, geht etwa jede vierte

autoritär-totalitäre Nation oder Bewegung mit Völkermordpotential auch zum

wirklichen Töten über. Alle Nationen mit Genozidpotential wären deshalb auf

Hinweise zu überprüfen, die für seine Realisierung sprechen. Sechs

solcher Anzeichen, die sich nur ungemein schwer verbergen lassen,

haben - und zwar bereits jedes für sich - eine furchtbare Voraussagekraft

bewiesen:( 1 ) Die adressenmäßige Erfassung und die Kennzeichnung von

Opfergruppen;( 2 ) eine Propaganda, in der die vorgesehenen Opfer als tödliche

Gefahr für die Täter hingestellt werden;( 3 ) die Auswechslung von hohen

Offizieren der Tätergruppe, die beim Töten nicht mitmachen wollen;( 4 ) das

Auftauchen von Tarnbegriffen ( Euphemismen ) für geplante Tötungen wie etwa ethnographische Sanierung "oder" Endlösung " ( Hitlerdeutschland über Polen bzw.

Juden ) ;"ethnische Säuberung" ( in Jugoslawien seit 1991 ) oder auch "Bürgerkrieg" Hutus 1994 über den Tutsigenozid oder Serbien 1999 zu Kosovo-Albanern ) ;( 5 )

die Aufstellung und Ausbildung von speziellen Mordeinheiten ( Tscheka, SS,

Paramilitärs, etc. ) und ( 6 ) das Auftauchen von Flüchtlingen ohne typische

Fluchtanlässe wie Hungersnöte oder Naturkatastrophen.

In meiner Behörde wird seit 1998 darüber nachgedacht, wer mit

einer Völkermord-Frühwarnstation diesen besonderen Wachdienst für die

Weltgemeinschaft übernehmen könnte. Uns schien, dass mit einer solchen Aufgabe

die Opfer der Jahre 1933 bis 1945 ein lebendiges Vermächtnis über das

Weltgewissen gewönnen. Trauer und Erinnerung würden ergänzt durch einen Beitrag

zur Verhinderung neuer Völkermorde. Die Völkermordkonvention von 1948 könnte,

nein, sie muss neues Gewicht gewinnen; denn ohne Frühwarnung wird es niemals

eine effektive Verhütung geben. Die Holocaust-Konferenz in Stockholm legt es

nahe, die Einrichtung eines solchen Instituts auf internationaler Grundlage zu

bedenken. Ein solches Genocide Watch-Institut darf keine Einrichtung eines

einzelnen Staates sein. Seine Unabhängigkeit und Vertrauenswürdigkeit könnten

durch Erträge aus einer Stiftung finanziert werden. Vielleicht ist es auch

denkbar, dass eine internationale Instanz wie die OSZE sich an einem Genocide

Watch-Institut beteiligt. Unter Umständen sollte es weltweit zwei oder drei

solcher Frühwarneinrichtungen geben. Im Dezember 1999 hat - zur Ermutigung

unseres Hauses - auch das US-State Department eine Konferenz darüber

veranstaltet, wie schon im Vorfeld Gefahren erkannt werden können. Punkt 6 des

dort verabschiedeten "Statement of Principles" lautet: " Governments are asked to

designate one person or agency to coordinate information about atrocities in

order to create an international network."

Im Holocaust wurde die Entmenschlichung von Politik zum

terroristischen Ereignis. Ihre historische Reflektion kann nicht die

Vergangenheit bewältigen; denn Vergangenheit bleibt vergangen. Das Vermächtnis

des Genozids besetzt vielmehr unsere Gegenwart mit der zentralen Frage: Was ist

die Würde des Menschen, wenn nicht diejenige seines Lebens? Wie ist es vor

genozidalen Anschlägen der Zukunft zu schützen? Aus der Erinnerung des Holocaust

müssen die richtigen Antworten für Politik und Gesellschaft in zukünftiger

Geschichte erwachsen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!