Redner(in): Christina Weiss
Datum: 04.03.2005

Untertitel: Staatsministerin Weiss eröffnete am 4. März 2005 die "MaerzMusik 2005", das Internationale Festival für aktuelle Musik unter dem Dach der Berliner Festspiele.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/30/798530/multi.htm


kürzlich lag auf den Tischen einiger guter Buchhandlungen ein Buch, ragte speerspitzig heraus aus dem Wust von Neuerscheinungen alleine durch seinen Titel, machte neugierig, erregte gesteigertes Interesse: "Die Sinne denken", so lautet der - von Georg Picht geliehene - bemerkenswerte Titel dieses Buches. Darin versammelt: Aufsätze Hans Zenders aus der Zeitspanne zwischen 1975 und 2003. Seltsam genug, aber dieser Titel trifft auf ingeniöse Weise Wesen und Werk des Komponisten und Dirigenten Zender, jenem neben Michael Gielen wohl bedeutendsten Künstler der Nachkriegszeit, der in beiden Disziplinen Herausragendes geleistet hat. Und eben dies wird bei der sehr empfehlenswerten Lektüre des Buches deutlich: Es spricht aus den Texten die Emphase eines Künstlers der Gegenwart, der auf präzise Weise darüber reflektiert, wie das eigene, schöpferische wie nachschöpferische Tun definiert ist, wo es verortet ist im großen Teich der aktuellen Kunst, und, was mir fast noch wichtiger erscheint: wo die zwingende Notwendigkeit besteht, die festgetretenen Pfade der Tradition zu verlassen.

Die Sinne denken: Betrachtete und verfolgte man in den vergangenen Jahren aufmerksam das Internationale Festival für aktuelle Musik unter dem Dach der Berliner Festspiele, die "Maerzmusik", dann ließe sich über ihr ästhetisches Profil wohl zumindest Ähnliches, wenn nicht gar Gleichlautendes sagen. Denn gerade in der scheinbaren Antinomie beider Begriffe, man könnte auch sagen: in der darin geborgenen dialektischen Grundsubstanz liegt der enorme Reiz dieses Festivals, seine Singularität.

Es kommt hierbei nicht in erster Linie darauf an, wie man das Kind denn adjektivisch benennt. Ein Festival für "aktuelle" Musik ist natürlich sui generis ein Festival für "Neue" Musik. Und es ist zugleich ein Festival für "zeitgenössische", für "gegenwärtige" Musik. Aber eben nicht ausschließlich.

Der Clou, die Besonderheit von "Maerzmusik" liegt meines Erachtens von Grund auf darin, dieses Wort "Neu" geschickt zu umgehen, sich nicht von ihm fesseln zu lassen - zumal bekanntermaßen die Großschreibung des Begriffs einen nachgerade Atem beraubenden Strick um den Körper der Musik unserer Zeit gelegt hat. Diesem Festgezurrt-Sein zu entfliehen, darin liegt die hohe Kunst eines Festivals, welches sich mit den Zeiterscheinungen der Gegenwart beschäftigt, ohne die Zeiterscheinungen der Vergangenheit auszublenden - und ohne die Zukunft als denkbare Zeiterscheinung außer Acht zu lassen.

Im vergangenen Jahr gelang dieser künstlerische Drahtseilakt bei "Maerzmusik" vor allem durch den Themenblock "Ives and the consequences" : Ives und die Konsequenzen. Denn nicht nur für die Zukunft hatte dieser eigenwillige und phantasiebegabte Komponist Konsequenzen. Seine Art zu komponieren, war für sich schon eine Konsequenz aus gesellschaftlicher Realität.

Sie war damit gewissermaßen gesellschaftlich relevant schon in dem Moment ihres Entstehens. Und dies vor allem meint ein Festival, wenn es von sich selbst sagt, es sei "aktuell". Es fügt die Zeiterscheinungen zusammen; es ist, um es in ein Bild zu fügen, ein Kaleidoskop der Musikgeschichte. Wer in dieses Kaleidoskop hineinsieht, durch es hindurch sieht, wird, wenn er auch nicht gleich alles versteht, ganz gewiss bemerken, über welche Farbenvielfalt die Musik unserer Zeit verfügt. Hieße sie nun aktuell, neu oder zeitgenössisch, gegenwärtig.

Werfen wir nun einen Blick auf das mit rund dreißig verschiedenen Künstler-Projekten und zahllosen Uraufführungen äußerst reichhaltige Programm der diesjährigen "Maerzmusik", dann sticht zunächst wieder einmal dieses weitgefasste Spektrum ins Auge.

Anders gesagt: Es ist mehr als schwierig, eine Hauptlinie auszumachen; die diversen Stränge sind ihrer Form, ihrem Inhalt nach so divergent, dass es sträflich wäre, einen dieser Stränge als den Hauptweg zu markieren. Damit ist es Ihnen, sehr geehrter Matthias Osterwold, und Ihrem Team wieder einmal gelungen, dem erklärten ästhetischen Prinzip der "Märzmusik" zu folgen. Man könnte es in etwa so beschreiben: Auf der Plattform, auf der wir uns in den kommenden zehn Tagen bewegen, stehen nebeneinander so verschiedene Modelle des Komponierens, dass man wahrhaft von einem Panorama-Blick sprechen kann, der sich hier öffnet, eröffnet.

Da ist, was mich persönlich besonders freut, vor allem der Fokus, der auf das Thema "Musik - Stimme - Text" gelegt wurde. Ein extrem spannendes Thema schon an sich.

Innerhalb der "Maerzmusik" wird unter diesem Rubrum nun ein Spannungsfeld auf die imaginäre Landkarte der aktuellen Kunst gezeichnet, welches sich - in unerwarteter Ausprägung - sicherlich als bedeutsamer Ort innerhalb des diesjährigen Festivals erweisen wird. Auch deswegen möchte ich an dieser Stelle auf das zentral verankerte Symposium zu diesem Thema hinweisen, welches übermorgen, am Sonntag, den 6. März, vormittags, hier, im Haus der Berliner Festspiele, stattfindet. Veranstaltet wird es vom "Institute for Living Voice", besetzt ist es hochkarätig. Und, soviel sei verraten: Überraschungen - nicht nur vokaler und diskursiver Natur - bietet dieses etwas andere "Institut" hinreichend.

Hochkarätig besetzt: das ist auch ein Ensemble, das wir in Berlin lange, viel zu lange, nämlich über fünfzehn Jahre nicht erleben durften, und das wir heute Abend endlich bei uns als Gast begrüßten durften:

Die London Sinfonietta gilt zurecht, wir durften uns gerade persönlich davon überzeugen, als eines der besten Ensembles für "aktuelle Musik" in der ganzen Welt. Man sollte sich die Gelegenheit, diese phantastische Musikervereinigung nochmals zu hören, nicht entgehen lassen: Am morgigen Samstagabend führt die London Sinfonietta im Kammermusiksaal der Philharmonie Werke von Jonathan Harvey, Pierre Boulez, Sam Hayden und Giacinto Scelsi, dessen einhundertsten Geburtstag wir in diesem Jahr feiern dürfen, auf.

Mit einiger Berechtigung könnte man auch "Musik im Raum" als ein Thema bennen, das besondere Aufmerksamkeit der Programmgestalter um Matthias Osterwold erfährt. Für mich ist das ein sehr spannendes Thema, weil es auf der einen Seite historisch gesehen von so fundamentaler Bedeutung für die Musik und ihre Rezeption ist und auf der anderen Seite der Konzertalltag nach wie vor zumeist in sehr traditionell geprägten Räumen vollzogen wird.

Carsten Nicolai schuf mit "syn chron" einen begehbaren Klang- und Lichtkörper, der im Rahmen der Maerzmusik in der Nationalgalerie zu erleben ist. Und das Ensemble Modern und die Internationale Ensemble Akademie lassen im ehemaligen Kabelwerk Oberspree wandernde Klangskulpturen entstehen, die den Aufführungsraum und seine Umgebung einbeziehen. Bei den letztjährigen Donaueschinger Musiktagen, die mit der Maerzmusik kooperieren, wurde die Komposition von Benedict Mason ein großer Erfolg.

Um die gesamte Bandbreite des Programms weiter vor Ihnen, meine Damen und Herren, aufzufächern, bräuchte es zu viel Zeit. Deswegen lassen Sie mich zum Abschluss noch auf zwei gleichsam exklusive Wesenheiten der diesjährigen "Maerzmusik" verweisen. Zum Einen auf die "Musica Brasileira Descomposta".

Hinter diesem ein wenig enigmatisch klingenden Titel verbirgt sich ein aufregendes, erfindungsreiches intermediales Projekt, in dessen Mittelpunkt die menschliche Stimme samt ihrer Eigenheiten steht. Insbesondere gespannt dürfen wir sein auf eine Musiktheater-Produktion im Hebbel am Ufer. Dort wird die Telebossa "Destino das Oito", zu deutsch: "Schicksal um acht" von Chico Mello und Christina Tappe gezeigt.

Das Schönste am Schluss. Ein Geburtstag. Aber nicht irgendeiner. Dieter Schnebel, den einen Komponisten nur zu nennen, wohl die Spannweite seiner künstlerischen Fähigkeiten unterschätzen würde - Dieter Schnebel wird am 14. März dieses Jahres 75 Jahre alt.

Und es ist eine große Freude, dass am Vorabend dieses Jubiläums in der Philharmonie eines der zentralen Werke Schnebels im Rahmen der "Maerzmusik" aufgeführt wird, in einer um den Teil III erweiterten Neufassung: Die Rede geht von Schnebels "SINFONIE X". Aktueller, denke ich, kann ein Festival nicht sein.

Uns allen wünsche ich bis zu diesem würdigen Abschluss ein spannendes, mit allen Sinnen denkendes Festival.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.