Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 10.04.2005

Anrede: Sehr geehrter Herr Staatspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, verehrter Herr Thumann, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/34/813234/multi.htm


Wie andere auch begrüße ich ganz herzlich den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin. Unsere russischen Gäste setzen mit diesem Besuch ein Zeichen für die guten Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, auch zwischen Russland und der Europäischen Union - Beziehungen, die enger sind als jemals zuvor. Angesichts unserer sehr wechselvollen Geschichte sollten wir dies nicht als Selbstverständlichkeit ansehen. An diese Geschichte zu erinnern, besteht wenige Wochen vor dem 60. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges besonderer Anlass. Diesen Jahrestag werden wir im Gedenken an die Millionen Opfer von Krieg und Gewalt, vor allem aber als Zeichen der Befreiung und europäischer Versöhnung begehen.

Wir können uns glücklich schätzen, dass Deutschland und Russland die Gräben der Vergangenheit endgültig überwunden haben. Unsere Länder sind heute enge Partner. Wladimir Putin und ich haben dafür den Begriff der strategischen Partnerschaft geprägt. Wir freuen uns darüber, dass dieser Begriff Allgemeingut zu werden beginnt und wir in Deutschland über die Bedeutung der russisch-deutschen Beziehungen im Kern reden, was sie historisch und in der Perspektive bedeuten. Etwas, wovon die Generation vor uns nur zu träumen wagte, ist Wirklichkeit geworden, nämlich diese enge, strategische Partnerschaft. Mit ihr wollen wir verhindern, dass sich die unheilvollen Abschnitte unserer Geschichte jemals wiederholen, und wir wollen unsere Zukunft in einem zusammenwachsenden, friedlichen und demokratischen Europa gemeinsam gestalten. Das geht nur, wenn die Europäische Union ebenso wie Deutschland zu Russland eine strategische Partnerschaft findet und sie immer während ökonomisch wie politisch ausbaut.

Meine Damen und Herren, nie waren die Voraussetzungen dafür so günstig wie heute. Nicht nur die Politik - was allemal wichtig, wenn nicht wichtiger ist - , sondern auch die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft beider Länder sind immer enger miteinander verbunden. Nach Umfragen stehen 90 % der Russen Deutschland positiv gegenüber. Diese Entwicklung müssen wir aufnehmen, sie begrüßen und als riesige Chance begreifen. Denn sie eröffnet große Chancen für Frieden und Wohlstand in unseren beiden Länder; Chancen, die wir - da sind wir uns einig, sehr geehrter Herr Staatspräsident - gemeinsam nutzen wollen und gemeinsam nutzen werden.

Diese Ziele werden wir nur erreichen, wenn die Europäische Union und Russland ihr Potenzial in dieser strategischen Partnerschaft bündeln. Der Grundgedanke einer solchen Partnerschaft ist relativ einfach: Um Sicherheit und Wohlstand in Europa und darüber hinaus zu fördern, müssen Russland und die Europäische Union - und in ihr besonders Deutschland - zusammenwirken, und dies immer enger. Dafür wollen wir eine stabile, langfristig angelegte Kooperation in den Bereichen Wirtschaft, äußere und innere Sicherheit, Forschung und Kultur, aber auch der Zivilgesellschaften schaffen. Ich bin sehr optimistisch, verehrter Herr Präsident, dass wir auf dem EU-Russland-Gipfel am 10. Mai in Ihrem Land gemeinsam die Grundlagen werden legen können. Damit öffnen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern und unseren Volkswirtschaften neue und erleichterte Möglichkeiten einer besseren Zusammenarbeit.

Besonders wichtig ist es, bei diesem Prozess die junge Generation einzubeziehen und zu beteiligen. Deshalb wollen wir die Möglichkeiten für Begegnungen zwischen deutschen und russischen Jugendlichen weiter verbessern. Deshalb, wegen der Langfristigkeit der gemeinsamen Perspektive, haben wir im letzten Dezember ein Abkommen über den deutsch-russischen Jugend- und Schüleraustausch unterzeichnet. Dieser muss immer besser, immer enger werden. Dazu gehört übrigens auch, dass man sich bemüht, die Sprache zu erlernen. Es wird nicht gleich jeder so gut Russisch sprechen können, verehrter Herr Präsident, wie Sie Deutsch. Aber ich finde, auch dieser Aspekt der kulturellen Zusammenarbeit darf nicht unterschätzt werden. Die Robert-Bosch-Stiftung, aber auch der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft, die Stadt Hamburg als Standort des Büros und die Bundesregierung werden auf deutscher Seite hierfür gemeinsam die Trägerschaft übernehmen. Ich bedanke mich herzlich bei diesen Partnern - auch für die Bereitschaft, die notwendigen finanziellen Mittel bereit zu stellen.

Herausragende Bedeutung - das ist gewiss wahr; Sie haben es in Ihrer Rede erwähnt, Herr Präsident - kommt einer verstärkten Zusammenarbeit auf den Gebieten der Bildung, Forschung und Innovation zu. Denn gute Ausbildung und exzellente Forschung sind entscheidend für Fortschritt, Wohlstand und Arbeitsmöglichkeiten und damit entscheidend für die Zukunft unserer beider Völker. Auch hier wollen wir unsere Potenziale gemeinsam noch besser nutzen. Präsident Putin und ich werden das morgen in einer gemeinsamen Erklärung über eine strategische Partnerschaft in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation vereinbaren. Wir wollen eine zielorientierte Zusammenarbeit in diesen Zukunftsfeldern erreichen - etwa bei der Ausbildung von russischen Nachwuchs- und Führungskräften in Wirtschaft, Forschung und Verwaltung. Dies wird helfen, die Verbindungen zwischen unseren Zivilgesellschaften weiter zu stärken.

Meine Damen und Herren, es ist schon deutlich geworden: Deutschland ist für Russland Wirtschaftspartner Nummer 1. Umgekehrt wird Russland für die deutsche Wirtschaft ein immer wichtigerer Handelspartner. Auf das Volumen, nämlich 31 Milliarden Euro im vergangenen Jahr - ein Rekordergebnis - , wurde hingewiesen. Ich stimme dem Herrn Präsidenten ausdrücklich zu, dass das noch entwicklungsfähig und erweiterbar ist. Ich sage in diesem Zusammenhang: Da müssen Wirtschaft und Politik an einem Strang ziehen, was die Möglichkeiten erweiterter Zusammenarbeit angeht.

Deutschland ist einer der wichtigsten Investoren in Russland, und das ist heute mehr denn je gut begründet. Schließlich gehört Russland zu den besonders wachstumsstarken Wirtschaftsnationen der Welt. Präsident Putin hat in den vergangenen Jahren die Investitionsbedingungen in Russland deutlich verbessert - sei es in der Steuerpolitik, beim Zollverfahren oder im Rechtswesen. Hier ist deutlich geworden, dass der Weg noch nicht zu Ende gegangen ist und noch nicht zu Ende gegangen werden konnte. Mir, meine Damen und Herren, liegt daran, dass wir diesen Bereich des Austausches, diesen Bereich der Diskussion über das neue Russland, das uns ein wichtiger Partner ist, auch in der deutschen Öffentlichkeit mindestens so intensiv wie andere Themen führen, deren Bedeutung ich gar nicht relativieren will. Aber dieses Thema, was wir miteinander tun können, um mehr Wohlstand und mehr friedliche Entwicklung für unsere beide Völker zu erreichen, ist allemal wichtig genug.

Mehr Rechtssicherheit, mehr Handel und mehr Transparenz - wie heute vom Präsidenten angekündigt - werden der heimischen Wirtschaft ebenso zugute kommen wie uns, und das wird gleichermaßen die internationale Wettbewerbsfähigkeit Russlands deutlich verbessern. Für die erfolgreiche Fortsetzung des Transformationsprozesses und für die Teilhabe möglichst vieler Menschen am wachsenden Wohlstand können wir alle einen Beitrag leisten und damit zugleich für eine günstigere Entwicklung bei uns. Wir wissen, dass wirtschaftlicher Erfolg und offene Märkte einander bedingen. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren Ländern, wie sie sich in den vergangenen Jahren entwickelt haben, sind ein Beleg dafür, dass diese Offenheit nutzt.

Es ist schon angeklungen: Mehr als 3.500 deutsche Unternehmen engagieren sich mittlerweile in Russland, und sie tun das auch, um Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Pioniere für Investitionen in Russland waren übrigens gerade mittelständische Unternehmen. Sie haben - oft unter hohem persönlichen Einsatz - den russischen Markt erschlossen. Ich will daran erinnern - gerade Sie wissen das, Herr Präsident - , als es Ende der 80er-Jahre einmal nicht so gut lief, waren es die Deutschen, die geblieben sind, und sie wussten warum. Sie setzen auf eine langfristig angelegte Partnerschaft, die das schafft, was man eine "win-win" -Situation nennt. Ich denke da zum Beispiel an die Firma Knauf, deren Baustoffwerke heute über ganz Russland verteilt sind oder an die Veka AG, die vor allem mit der Produktion von Fensterrahmen in Russland außerordentlich erfolgreich ist und als eines der ersten deutschen Unternehmen den Schritt über den Ural hinweg gewagt hat. Ein aktuelles Beispiel ist die Produktion von Mähdreschern des mittelständischen Unternehmens Claas im südrussischen Krasnodar.

Um unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen auf ein noch breiteres Fundament zu stellen, begrüße ich es sehr, dass nun die Gründung einer Deutsch-Russischen Handelskammer in Moskau in Angriff genommen werden soll. Das, verehrter Herr Präsident, sollten wir uns beide vornehmen. Es kann wirklich erfolgreich sein, weil auf diese Weise Rat für deutsche Unternehmen in Russland und umgekehrt leichter möglich ist und damit Zusammenarbeit noch besser organisiert werden kann.

Bei der Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen spielt ohne Frage der Energiebereich eine besondere Rolle. Russland ist Deutschlands wichtigster Energielieferant. In unruhigen Zeiten in einer Welt, in der die deutsche Wirtschaft - wie alle Wirtschaften - auf zuverlässige Energielieferungen angewiesen ist, aber Unruhe leider in vielen energieproduzierenden Regionen zu beobachten ist, kann man gar nicht wichtig genug einschätzen: Russland ist und bleibt ein außerordentlich zuverlässiger und berechenbarer Partner. Rund ein Drittel unserer Öl- und Gaslieferungen beziehen wir aus Russland. Schon aus diesem Grund kommt der künftigen Zusammenarbeit im Energiebereich große Bedeutung zu. Mich freut besonders - was im Übrigen auch zeigt, dass alle Äußerungen dahingehend, dass Russland ausländischem Kapital gegenüber nicht aufgeschlossen wäre, wirklich Gerede ist - , dass diese Partnerschaft im Energiebereich nicht nur eine reine Lieferbeziehung sein soll, sondern sie über Lieferbeziehungen hinaus auf eine breitere Basis gestellt werden wird, beispielsweise über Beteiligungen deutscher Firmen an der Erdgasförderung oder auch durch den Bau einer Gaspipeline durch die Ostsee.

Verehrter Herr Präsident Putin, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass wir beide ein Interesse daran haben - ich habe das dem neu gewählten ukrainischen Präsidenten auch gesagt - , dass das fortgesetzt werden muss, was wir angefangen haben, nämlich die Modernisierung der Leitungen in der Ukraine. Die deutschen Unternehmen, die daran beteiligt sind, haben die Bereitschaft erklärt, daran weiter zu arbeiten, vielleicht auch mit neuer Energie. Ich denke, ihre Erklärung in diesem Zusammenhang ist von großer Bedeutung.

Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen indessen müssen nach meiner festen Überzeugung weit über den Energiesektor hinausgehen. Konkret bedeutet dies mehr Zusammenarbeit in Zukunftssektoren wie der Hochtechnologie. Auch hier gilt: Niemand in den Unternehmen bei Ihnen, auch in den strategisch bedeutsamen Unternehmen, muss irgendwelche Ängste haben, die deutschen Partner hätten Dominanzgelüste und wüssten nicht zu würdigen, dass es sensible Bereiche gibt, die auch sensibel behandelt werden müssen. In diesem Zusammenhang würde ich es außerordentlich begrüßen, wenn auch im Bereich des Kraftwerkbaus die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland enger werden könnte. Auch hier hat Russland aufgrund seiner bedeutenden Forschungslandschaft übrigens nicht nur etwas zu nehmen, sondern auch sehr viel zu geben.

Mir liegt sehr daran, dass deutlich wird, wenn wir über wirtschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Innovation reden, dass es ein Geben und Nehmen von beiden Seiten ist und keineswegs ein einseitiger Prozess. Unser Ziel ist deshalb die Förderung einer praxisorientierten und unternehmensbezogenen Technologiekooperation. Dazu gehört beispielsweise der Rahmenvertrag zwischen Siemens und einem russischen Investorenkonsortium über den Bau von Hochgeschwindigkeitszügen, der morgen unterzeichnet wird.

Meine Damen und Herren, vor 40 Jahren war die damalige Sowjetunion erstmals auf der Hannover Messe vertreten - mit zwei Ausstellern. Heute sind es rund 150 russische Aussteller, die hier in Hannover die Innovations- und Leistungsstärke ihrer Industrie zeigen. Das ist die größte Leistungsschau der russischen Industrie außerhalb des eigenen Landes. Die Hannover Messe mit rund 6.000 Ausstellern aus 61 Nationen bietet, glaube ich, für diese Leistungsschau ein sehr gutes Forum. Gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen ist sie attraktives Schaufenster und Marktplatz zugleich. Zudem werden wir - wie in jedem Jahr - auch in Hannover wichtige Konjunktursignale erleben, und zwar Positive.

Verehrter Herr Präsident Thumann, ich will mich dafür bedanken, dass Sie die Anstrengungen gewürdigt haben, die mit der Durchsetzung der "Agenda 2010" verbunden waren und - ich weiß, worüber ich rede - noch verbunden sind. Ich kann nachvollziehen, dass Sie gesagt haben, das ist ein richtiger Weg, der aber entschieden weiter gegangen werden muss - und das wird er auch. Ich habe in einer Regierungserklärung im März deutlich gemacht, welches die nächsten Schritte sind, und Sie haben sie selber genannt. Es geht darum, die Körperschaftssteuer in Europa wettbewerbsfähig zu gestalten. Wir werden das tun. Es geht darum, für diejenigen, die Betriebe übergeben, vernünftige Erbschaftssteuerbedingungen zu schaffen, bessere als in der Vergangenheit. Es geht darum, für die Personengesellschaften - das sind die meisten in Deutschland - die Gewerbesteuer besser als in der Vergangenheit anrechenbar zu machen. Diese Anrechenbarkeit haben übrigens wir geschaffen und niemand anders.

Wir können und wir wollen das in der nächsten Zeit durchsetzen. Die Entscheidungen im Deutschen Bundestag werden in Kürze zu treffen sein. Wir setzen sehr darauf, dass man an diesem Punkt mit der Mehrheit im Deutschen Bundesrat, der zweiten Kammer, in fairer und offener Zusammenarbeit zurecht kommt. Wenn das der Fall ist, dann wird es so sein, dass die notwendigen Beschlüsse früh in diesem Jahr getroffen werden können, damit sie am 1. Januar 2006 in Kraft treten können und sich diejenigen, die in den Unternehmen planen müssen und planen wollen, auch darauf einstellen können. An uns, an mir, soll es nicht liegen, verehrter Herr Präsident. Ich bin ganz sicher, dass Sie mit denjenigen, mit denen Sie noch enger befreundet sind als mit mir, in diesem Sinne wichtige Gespräche vor sich haben.

Meine Damen und Herren! Jenseits dessen bin ich sicher, dass sich der optimistische Schwung des vergangenen Jahres bei der diesjährigen Messe noch verstärken wird. Die Voraussetzungen in Deutschland sind dafür gut, und die weltwirtschaftlichen Voraussetzungen werden weiterhin günstig bleiben. Vielleicht sind sie nicht ganz so günstig wie im letzten Jahr; aber zum Pessimismus gibt es überhaupt keinen Anlass. Weil das so ist, wünsche ich allen Ausstellern und allen Besuchern einen erfolgreichen Verlauf der kommenden Messetage. In diesem Sinne erkläre ich die Hannover Messe gern für eröffnet.