Redner(in): Christina Weiss
Datum: 27.04.2005

Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss hat am 27. April 2005 im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Ausstellung zum 60. Jahrestag des Kriegsendes eröffnet.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/18/822818/multi.htm


Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg - doch der Tag des Kriegsendes war nicht der Tag, an dem auch der Frieden begann. So war für die meisten Menschen der Krieg schon vorbei, als die alliierten Truppen ihre Dörfer und Städte befreiten: Paris etwa war schon am 25. August 1944 und Warschau am 17. Januar 1945 frei - also lange vor dem 8. Mai. Gleiches gilt für die Gefangenen der Konzentrations- und Vernichtungslager, die Überlebenden der Todesmärsche und der Folterkeller, für die die Ankunft der Alliierten das Ende der Vernichtung bedeutete.

Für viele andere dagegen verbindet sich der 8. Mai 1945 nicht mit dem Beginn des Friedens, weil die letzten Konsequenzen aus diesem Krieg noch nicht gezogen waren: Soldaten der Wehrmacht gingen in Kriegsgefangenschaft, Flucht und Vertreibungen dauerten noch Monate und Jahre an. Es gab schwere Hungerwinter, in denen die Versorgung der Bevölkerung nach Kriegsende nicht mehr gewährleistet war. Es gab Rache und Abrechnung, Gewalt und Trauer, Aufarbeitung und Verdrängung.

So wenig wie den Beginn des Friedens markierte der 8. Mai 1945 in manchen Regionen Europas aber auch das Ende des Krieges, denn es blieb eine Zeitlang ungeklärt, ob sich der Krieg nicht doch in Bürgerkriege auflösen würde. Zwischen den Anhängern des Vichy Regimes und de Gaulles in Frankreich gab es lange keinen Konsens. Keine Brücke gab es zwischen der polnischen Heimatarmee und den polnischen Kommunisten. In Griechenland ging der Zweite Weltkrieg nahtlos in einen Bürgerkrieg über.

Die Erfahrungen und Erinnerungen, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbinden, sind also sehr unterschiedlich. Aus der Perspektive von 2005 haben wir den Eindruck, dass der Krieg am 8. Mai zuende war: Die Kapitulation war unterzeichnet, die Waffen schwiegen. Doch der 8. Mai 1945 beschreibt vielmehr einen Übergang, eine Passage für einen verstörten, zerrissenen Kontinent, der nach zwei Weltkriegen eine ungeahnte Selbstzerstörung bewältigen musste. Neben den blinden Nationalismen lag auch der Weltmachtanspruch Europas in Trümmern, den das 19. Jahrhundert formuliert hatte. - Die Nachkriegsordnung bestimmten von nun an zwei neue Blöcke - die USA und die Sowjetunion.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

seit dem 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg eine europäische Konstante, eine Größe, ein Schlüssel zum Verständnis unseres Kontinents. Auf ihm fußte der "Eiserne Vorhang" und die Grundlage jener Geschichtskonstruktionen, die hüben wie drüben zur Stabilisierung der Verhältnisse beitrugen. In allen Ländern wurden nach Kriegsende Teile der eigenen Geschichte beschwiegen und andere hervorgehoben. Die Probleme von Kollaboration und Mitläufertum wurden nach anfänglicher Abrechnung zugunsten der Idee verdrängt, das ganze Volk habe Widerstand geleistet. Fast überall wurde der Mythos von der widerständigen Nation positiver Bestandteil der Erinnerung.

Natürlich wurde auch im geteilten Deutschland die Geschichte neu geschrieben. Bevor die große Aufarbeitungsarbeit der siebziger, achtziger und neunziger Jahre begann, sahen sich die meisten Westdeutschen über lange Jahre hinweg lediglich als Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft. Eine nationalsozialistische korrupte Elite habe weite Teile der Bevölkerung irregeführt, hieß es, und die Filme der Nachkriegszeit zeigten deshalb zumeist auch nur den guten Soldaten, der sinnlosen Befehlen folgen musste.

Die DDR dagegen setzte alles daran, sich als Neugründung zu inszenieren, und der Gründungsmythos dieses Staates hieß Antifaschismus. Bis 1989 trug hier die Aufarbeitung ideologische Fesseln, und bis heute fehlt im öffentlichen Bewusstsein der neuen Bundesländer oft die Vorstellung davon, dass auch Nazis, Täter und Verbrecher, die an Vernichtungskrieg und Völkermord beteiligt waren, in den Familien gelebt haben. Die DDR sah sich nicht in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs und verweigerte bis zu ihrem Ende die Anerkennung irgendeiner Schuld. Wie in allen osteuropäischen Staaten galt auch in der DDR das sowjetische Geschichtsbild, das behauptete, die Länder des Warschauer Pakts seien von der Roten Armee und den einheimischen kommunistischen Antifaschisten befreit worden. Doch während sich seit den 80-er Jahren immer mehr Polen und Balten nicht mehr mit dieser Geschichtserzählung identifizieren wollten, sich als Besetzte statt Befreite definierten, ging dieser Wechsel in der DDR anders vonstatten. Zwar führte der gesellschaftliche Wandel auch hier nach dem Fall der Mauer zu einer Neudefinition des eigenen Verhältnisses zur Sowjetunion. Mit der Wiedervereinigung übernahm man jedoch die Aufarbeitungstradition des Westens und verdrängte damit erneut die Auseinandersetzung der eigenen NS-Vergangenheit. Im Focus behauptete sich die Aufarbeitung des SED-Unrechts. Und so glauben wir, uns gerade in Deutschland ein besonders homogenes Geschichtsbild erarbeitet zu haben, während uns Rechtspopulisten, Antisemiten und Neonazis zur selben Zeit beweisen, wie viel Aufarbeitungsarbeit in Wirklichkeit noch vor uns liegt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der 8. Mai 1945 wirft lange Schatten. Der Kampf um die Geschichte, der zum Zerfall der Sowjetunion, Jugoslawiens oder der Tschechoslowakei beigetragen hat, ist in vielen Ländern noch lebendig. Im Baltikum, in der Ukraine oder Ungarn gibt es zum Beispiel noch immer eine scharfe Auseinandersetzung um die Frage der Kollaboration mit den Nationalsozialisten, die sich in der Behauptung zuspitzt, die Kollaboration dürfe auch als nationale Verteidigung gegen die sowjetische Okkupation gelten. Um die politische Kontroverse über sowjetische und nationalsozialistische Verbrechen zu entschärfen, haben zum Beispiel Litauen und Polen internationale Kommissionen zur Bewertung der Geschichte eingesetzt, mit dem Auftrag, tendenziöse und selektive Geschichtsschreibung zu überprüfen sowie Kollaboration und Verstrickung in die Verbrechen des nationalsozialistischen und des sowjetischen Regimes aufzuarbeiten. An diesen Auseinandersetzungen wird vor allem in den baltischen Staaten deutlich, dass die Erfahrungen von Okkupationen und Deportationen vor Ort kaum mehr in das Schema passt, das der Westen auf diese Gesellschaften projiziert. Nach der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft kommt es daher nun darauf an, dass auch wir im Westen unsere Sichtweisen überprüfen und die unterschiedlichen Koordinaten der Erinnerung gemeinsam diskutieren. Der Blick auf die Geschichte darf sich auf keiner Seite national verengen, weder methodisch noch inhaltlich, sonst werden wir dem monströsen 20. Jahrhundert nicht gerecht, das sich mit seinen Kriegen und Völkermorden, mit seinen Lagern und Deportationen, mit seinen Flüchtlingen, Opfern und Tätern auf ewig von allem abhebt, was die Menschheit kennt.

Meine Damen und Herren,

60 Jahre nach dem Ende des Krieges steht das Gedenken im Mittelpunkt der Veranstaltungen in der Bundesrepublik Deutschland. 1985 hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40sten Jahrestag davon gesprochen, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen sei. Er setzte damit die Bundesrepublik Deutschland in die Reihe der Nationen, die vom Nationalsozialismus befreit worden sind. Er hat dies getan, ohne die Schuld der Deutschen zu verneinen. Heute, weitere 20 Jahre später, hat dieser Satz seine Gültigkeit nicht verloren. Dennoch hat der Begriff der Befreiung für unsere östlichen Nachbarn einen ganz anderen Inhalt. Für sie ist er schiere Ideologie, denn was dort 40 Jahre wiederkehrend als Befreiung gefeiert werden musste, war nichts anderes als Okkupation. Der Versuch dieser Völker, ein Selbstbestimmungsrecht zu erlangen, wurde von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei. Der 8. Mai 1945 brachte Europa zwar den Frieden - die Freiheit blieb einem halben Kontinent allerdings mehr als vier Jahrzehnte versagt.

Daran müssen wir im Westen denken, wenn wir warmherzig von der Völkerfamilie Europa reden! Erst wenn wir die Geschichte von Schuld und Widerstand, von Unterdrückung und Befreiung in ihrer ganzen Komplexität erfassen, haben wir die Chance, ein friedvolles und zukunftsträchtiges europäisches Haus zu bauen.

Vielen Dank.