Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 24.05.2005
Anrede: Sehr geehrter Herr Direktor Simon, sehr geehrte Frau Oleksy, sehr geehrte Frau Friedman Morris, sehr geehrte Frau Koscielniak, sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrter Herr Direktor Boberg, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/79/834779/multi.htm
Wir werden, das ist bereits angeklungen, heute 140 sehr persönliche Zeugnisse aus einer Welt des Terrors und der Unfreiheit kennen lernen, 140 Kunstwerke von dem Ort der Vernichtung der europäischen Juden."Kunst in Auschwitz" - dieser zunächst unerhörte Gedanke geht mit unserem Erschrecken vor Auschwitz, vor dem Fanal millionenfacher systematischer Vernichtung einfach nicht zusammen. Ist Kunst in Auschwitz überhaupt denkbar? Diese ungewöhnliche Ausstellung ist eine Annäherung, ebenso behutsam wie mutig, ein "schmaler Grat" wie die Initiatoren des Centrum Judaicum und des Museumspädagogischen Dienstes Berlin es selbst genannt haben und wie es wohl auch richtig bezeichnet worden ist. Sie wurde möglich dank der großen Unterstützung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau und dank sensibler Forschungsarbeit zu eben diesem Thema. Die Stiftung Neue Synagoge Berlin setzt hiermit nach genau zehn Jahren erfolgreicher Arbeit ein besonderes Zeichen.
Meine Damen und Herren, es gab deshalb Kunst in Auschwitz in den Jahren 1940 bis 1945, weil eine große Zahl von Künstlern von den Nazis verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde, vornehmlich Künstler aus Polen, aber auch aus Ungarn und der Tschechoslowakei, deportierte jüdische Künstler aus vielen europäischen Ländern. Die Biografien der in Auschwitz eingesperrten Kunstschaffenden erfüllen jeden von uns mit tiefer Scham, unter ihnen international hoch angesehene Künstler, Bildhauer, Professoren und Absolventen der Akademie der Schönen Künste in Krakau, aber nicht nur dort, unter ihnen Maler wie Koscielniak, der wegen seines Engagements im polnischen Widerstand inhaftiert war, oder David Friedman, Schüler von Lovis Corinth, der nach den Pogromen 1938 aus Berlin nach Prag flieht. Er wird in das Ghetto Lodz und von dort nach Auschwitz deportiert. Beide überleben Auschwitz, David Friedman als einer der ganz wenigen Juden.
Es gab aber auch, das zeigen die Bilder, Autodidakten, Gefangene, die in der Situation der Unfreiheit die Malerei als Ausdrucksmittel entdeckten. Bronislaw Czech war ein polnisches Sportidol, sechzehnfacher polnischer Meister im Skiabfahrtslauf, dreifacher Olympia-Teilnehmer, übrigens zuletzt 1936 in Garmisch-Partenkirchen. Czech malt die Hohe Tatra, seine Heimat, die Landschaft, mit der er so fest verwurzelt war. Es sind Bilder voller Sehnsucht, Bilder des unbändigen Wunsches nach Freiheit. Wie so unzählige andere erlangte Czech die Freiheit nie wieder. Er stirbt 1944 auf der Krankenstation des Konzentrationslagers. Der Künstler Jazwiecki - von ihm sind über 100 Portraits von Mitgefangenen erhalten - schreibt in sein Lagertagebuch: "Um eine Weile Glück zu erringen, vor allem, um zu vergessen, zeichnete ich. Diese im Verborgenen gemachten Portraits ließen mich vergessen, führten mich in eine andere Welt, in meine Welt der Kunst."
Sie alle zeichneten und malten in Auschwitz, die meisten heimlich, im Verborgenen, in ständiger Angst vor der Entdeckung und der damit verbundenen drakonischen Strafe. Auf Zeichnen - man muss sich das immer wieder vorstellen - stand die Todesstrafe, mindestens aber Folter, Lagerarrest oder Strafkompanie - Bedingungen, die kaum jemand überlebt hat. Trotzdem riskierten die Häftlinge, mit einfachen Mitteln, mit Papier und Bleistift, zu zeichnen, zu portraitieren, in ständiger Gefahr, dass ihre Arbeiten und damit sie selbst entdeckt würden.
Die Kunstwerke - ich habe den Katalog vorher sehen können - , die sie schufen, sind Erinnerungsbilder ganz eigener Art. Viele Bildnisse sind geprägt von der Einsamkeit der Gefangenen, dem allgegenwärtigen Hunger, den psychischen und den physischen Leiden. Daneben gibt es Portraits von ganz und gar unerwarteter Ästhetik, Bildnisse schöner Gestalten jenseits des Lageralltags, auch in modischer Kleidung und mit ebensolcher Frisur. Diese Werke sind nicht Dokumentation, sondern individuelles Erinnern der Künstler an ein anderes Leben, das man, denke ich, allein Leben nennen konnte. Sie bringen Menschen "in Erinnerung", ganz so wie sie aus Sicht des Malers sind. Sie sind auch Gegenbild zum Schrecken des Lagers, zu Angst und zu Trostlosigkeit.
Die Ausstellung fordert zum Perspektivwechsel heraus. Sie öffnet den Blick auf Persönlichkeiten und auch auf individuelle Schicksale. Sie gibt - das macht sie so wichtig - dem Schrecken Gesicht und Namen. Wir erfahren von Personen, die mit diesen Bildnissen verbunden sind, wie etwa beim Portrait der zwölfjährigen Bäckerstochter Krystina. Sie haben das Werk sicher alle gesehen. Es ist auf der Einladungskarte abgedruckt. Krystina steckt dem Häftling Jacques Markiel, der unter SS-Bewachung regelmäßig im Laden Brot holt, Lebensmittel zu. Zum Dank malt er sie und schenkt ihr das Aquarell - Kunstwerke als Dank, aber auch als Lebenszeichen für die Familien, in der Hoffnung, dass es gelingt, die Werke aus dem Lager zu schmuggeln. Hatten die Häftlinge keinen Kontakt zur Außenwelt, so blieb ihnen nur, die Arbeiten zu verstecken.
Viele Werke wurden von der SS entdeckt und vernichtet, andere gingen bei der Evakuierung verloren. Und doch - selbst nach 60 Jahren - werden auch heute noch künstlerische Arbeiten auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers gefunden. Es sind bleibende Andenken an Menschen, die den Mut hatten, in Unfreiheit und unter Terror künstlerisch tätig zu sein. Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau bewahrt den größten Teil dieser Werke. Bereits 1947 wurden sie in einer Ausstellung öffentlich ausgestellt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf einen weiteren bislang kaum bekannten Aspekt hinweisen, der mit dieser Ausstellung beleuchtet wird: Es gab im Konzentrationslager Auschwitz ein "Lagermuseum". Wurde hier zunächst geraubter Besitz ermordeter Juden zu Propagandazwecken ausgestellt, so gefiel es den Nazi-Machthabern mehr und mehr, Schlachtszenen, Gemälde vom Bau des Lagers Auschwitz und vielfältige Auftragsarbeiten zu befehlen. Für einige der Künstler bot dieses ganz und gar unwirkliche "Museum" einen Schutz, einen Rückzugsraum - natürlich nur relativ - vor ansonsten ständig präsenter Willkür. Zugleich aber blieb die Ungewissheit, wie der Auftraggeber reagieren würde, wenn er etwa mit einem Portrait oder einer Arbeit nicht zufrieden war.
Meine Damen und Herren, diese Ausstellung ermöglicht einen sehr persönlichen Blick auf eine Facette des Vernichtungslagers Auschwitz. Sie fordert den Betrachter heraus durch die Gleichzeitigkeit und die räumliche Nähe von menschenverachtender Vernichtung auf der einen Seite und Kunst auf der anderen Seite. Ich wünsche mir wie sicher Sie alle hier auch, dass viele Besucher, Schüler und Familien diese ungewöhnliche Ausstellung hier in Berlin oder später in dem mir sehr gut bekannten Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück sehen werden. Zum Jahresende wird sie dann auch in Polen gezeigt werden - im Museum der polnischen Unabhängigkeit in Lodz.
In diesen Maiwochen 2005, in denen wir des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, der Befreiung der Konzentrationslager, der Befreiung Europas, aber eben auch der Opfer der Shoa gedenken, ist es gut, bei den unfassbaren Verbrechen der Nazi-Schreckensherrschaft nie zu vergessen, dass es auch Widerstand gegeben hat - sehr unterschiedlich, vielfach nicht bekannt, aber für jeden Einzelnen, der daran beteiligt war, eine existentielle Gewissensentscheidung. Diese Ausstellung umfasst bewegende Zeugnisse des Widerstands von Künstlern und von namentlich fast immer unbekannten Menschen im Lager und außerhalb, die Solidarität bewiesen, Malutensilien oder Kunstwerke schmuggelten, schwache und kranke Häftlinge in die Krankenstation verlegten, Kleidung oder Brot organisierten. Viele der Bilder sind ein Ausweg aus einer schrecklichen Alltagsrealität.
Kunst ist Flucht aus der Unfreiheit, aus der irrealen Welt des Lagers, der Appelle, der Willkür und Gewalt hinaus in die eigene Welt der Bilder und der Kreativität, der ungebrochenen Würde. Aber sie ist auch persönliche Dokumentation, subjektives Erinnern. Allen Künstlern, so unterschiedlich ihre Motive, ihre Ausdrucksformen und Techniken sind, war eines gemeinsam: ihr Wille zu Überleben und ihr Wunsch nach Freiheit!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Künstler von Auschwitz haben sich leiten lassen von "ihrer Welt der Kunst". Sie haben sich in der Unfreiheit einen Rest persönlicher Freiheit bewahren können. Es sind Werke, die jenseits aller verstrichenen Zeit jeden Betrachter zutiefst berühren müssen. Dies ist das Entscheidende, was wir bei der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und bei Trauer und Respekt für die Opfer bewahren müssen. Die Freiheit jedes Einzelnen, die Freiheit des Gewissens, der Kunst und der Wissenschaft, des Glaubens und der Weltanschauung ein für alle Mal zu garantieren, das ist eine der wichtigsten historischen Lehren aus dieser Katastrophe. Diese Lehren zählen heute zum unverbrüchlichen Fundament der Völkergemeinschaft und zur Basis der Werteordnung eines vereinigten Europas. Europa - so scheint es jedenfalls, und jeder von uns wünscht sich, dass es ewig so bleibt - hat aus der blutgetränkten Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt.
Mit dieser Ausstellung würdigen wir Künstler, die ihren ganz festen Anteil haben an unserer heutigen Ordnung des Friedens und der Freiheit. Dies bleibt ihr Verdienst - über alle Zeiten hinweg. Ich danke Ihnen.