Redner(in): Christina Weiss
Datum: 29.05.2005
Untertitel: Bei einem Mittagessen zu Ehren des Ordens Pour le mérite wünschte sich Staatsministerin Weiss, dass dessen Mitglieder Ihre Weisheit nutzen, um Debatten anzustoßen, um Aufmerksamkeit zu erregen, um über positive Entwicklungen, Stagnationen oder Missstände im geistigen Zustand unserer Gesellschaft aufzuklären.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/16/837616/multi.htm
Eine kleine Laudatio auf den Orden soll heute den Anfang machen: Orden gehören zu den prägenden Institutionen der abendländischen Kultur. Als geistliche Gemeinschaften kultivierten sie die christliche Religion - in den vielfältigen Bedeutungen des Wortes kultivieren. Sie retteten und bewahrten Wissen - das Buchwissen der Antike, aber auch praktisches Wissen und Naturwissen. Sie pflegten Kranke und unterrichteten Kinder. Obendrein vergrößerten sie den Wirkungsbereich der Zivilisation auch, in dem sie ganz handfest Land urbar machten. Die Ritterorden erweiterten die ursprüngliche Idee der geistlichen Orden ins Militärische: Sie wollten für das, wofür die anderen beteten und arbeiteten auch mit dem Schwert in der Hand streiten.
Seit der Neuzeit formten sich nach dem Vorbild dieser religiösen Organisationsformen auch weltliche Orden: Die geheimnisvollsten unter ihnen sind die Freimaurerlogen, die kulturell wirksamsten vielleicht die wohlbekannten sprachpflegerischen Orden der Barockzeit wie der Palmenorden, die Fruchtbringende Gesellschaft oder die Pegnitz-Schäfer. Sie waren Kämpfer für die Autonomie des Denkens: In Zeiten von Krieg, Not und Tod waren sie utopische Geistesrepubliken, die über die düstere Gegenwart der Zeit nach dem 30jährigen Krieg hinaus blickten.
All diese Orden hatten bei aller kulturellen und historischen Verschiedenheit doch eines gemeinsam: Sie waren freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen, die nach festen Regel wirken wollten, um die Welt zu verbessern. Der Orden Pour le mérite treibt dieses Prinzip gewissermaßen auf die Spitze: In ihren Kreis wird erst aufgenommen, wer schon zur Verbesserung der Welt beigetragen hat. Mitglied können nur Männer und Frauen werden, die durch "weitverbreitete Anerkennung ihrer Verdienste" einen "ausgezeichneten Namen erworben haben". Dabei würdigt der Pour le mérite die Verdienste allein durch die Aufnahme in den erlauchten Kreis. Sein Name stammt aus einer Zeit, als der Begriff Verdienst noch nicht beschränkt war auf das, was auf der Gehaltsmitteilung steht. Es schwingt auch etwas mit vom schönen Traum einer Republik des Geistes, man könnte auch sagen: einer echten Meritokratie mit. Dass diese Herrschaftsform in der Realität niemals verwirklicht wurde und dass sie vielleicht auch gar nicht wünschenswert ist, hat kürzlich eines ihrer Mitglieder, Lord Ralf Dahrendorf in einem beachtenswerten Zeitungsartikel erläutert.
Doch der Namen des Ordens "Pour le mérite" ist noch in anderer Hinsicht symbolträchtig: Er wurzelt ja im kosmopolitischen Geist der Aufklärung, bevor das Bewusstsein der Nationen für ihre Einzigartigkeit erst recht geweckt wurde. Dieses Erwachen hat Europa ebensoviel Größe wie Grauen beschert. Und als aus dem Bewusstsein der nationalen Differenzen schließlich die eifersüchtige Raserei des Nationalismus geboren wurde, ging auch dieser Orden beinahe unter. Sein Schicksal spiegelte das Schicksal des Staates, dessen Zierde er war. Friedrich Wilhelm IV. , der die Friedensklasse des Ordens genau 102 Jahre nach dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen stiftete, wollte den Geist, die Toleranz, den Kunstsinn und den weiten Horizont des Alten Fritz noch einmal beschwören. Und es war ein freimütiger Schwabe, Bundespräsident Theodor Heuss, der sich über alle antipreußischen Affekte der Nachkriegszeit hinwegsetzte und den Orden erneuerte und damit das Beste Preußens für die junge Bundesrepublik rettete.
Und heute, meine Damen und Herren Ordensmitglieder: Vielleicht hat dieses Land den Orden noch nie so nötig gehabt wie jetzt. Ich will nicht sagen, dass die Lage noch nie so ernst gewesen sei, aber sie ist zwiespältig und unübersichtlich weil widersprüchlich. Während einerseits in einem vereinten Europa und einer globalisierten Welt das unternehmungslustige Individuum längst wieder nationale Grenzen mit kosmopolitischer Selbstverständlichkeit überwindet wie im 18. Jahrhundert, sind uns doch andererseits wesentliche Voraussetzungen eines solchen Weltbürgertums, das heute mehr als ein ökonomisch-touristisches daherkommt, nicht mehr gegeben. Ich spreche von der kulturellen Prägung unserer Gegenwart. Von Sprachenvielfalt, von kultureller Offenheit, von umfassender Bildung natürlich auch.
Es ist paradox, aber wir leisten uns, jedenfalls in Deutschland, Kultur in einem nie gekannten Umfang. Die Ausgaben der öffentlichen Hände für Kunst und Kultur sind sehr respektabel. Die vergangenen Jahre haben auch bei Kultur und Wissenschaft eine explosive Zunahme beratender Instanzen gesehen. Es gibt Kuratorien, es gibt Räte, es gibt Optimierer und Controller, für jede Sparte der geistigen und materiellen Welt und auch fürs "große Ganze". Und doch gibt es - nicht überraschend - auf viele Fragen keine oder unbefriedigende Antworten. Und es gibt nicht den selbstverständlichen gesellschaftlichen Konsens der Wertschätzung für die Freiheit des experimentierenden Denkens und die Arbeit von Forschern und Künstlern, die sich ja treffen im Maße ihrer Grenzüberschreitung und der darin angelegten Herausforderung der Gesellschaft.
Ulf von Rauchhaupt hat gestern in der FAZ von den Gefahren und Grenzen einer reinen Wissensgesellschaft geschrieben: "Die Wissensgesellschaft produziert nun einmal von selber keine Werte, am wenigsten ist sie ein Wert an sich. Eine Wissensgesellschaft in der nicht auch ihre eigenen Bedingungen thematisiert würden, liefe in der Tat Gefahr, irgendwann zu jener düsteren Welt zu verkümmern, die Zivilisationskritiker immer schon an die Wand malen."
Die Herausforderungen - darin eingeschlossen sind die Chancen und die Risiken - der Wissenschaft müssen in der Gesellschaft reflektiert und diskutiert werden. Die Debatte über die Künste ist notwendig, weil Kunstwerke sich erst dann als Spiegel der Zeitgenossen offenbaren und aus vielfachen Perspektiven tiefe Einsichten in die Probleme des Subjekts und der Gemeinschaft vermitteln.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, meine Damen und Herren. Ich glaube, dass Deutschland jenseits aller ökonomischen Schwierigkeiten Probleme hat, die in tiefere Tiefen reichen. Und ich befürchte, dass die schlechte Laune, der verbreitete Pessimismus und die Verzagtheit, die ja ihre Wurzel nur zum Teil in der ökonomischen Realität haben, nicht weichen werden, bevor wir uns hierüber verständigt haben. Dazu müssen wir uns aber überhaupt erst verständigen können.
Ich möchte jetzt sagen: Aber Deutschland hat den Orden pour le mérite. Deutschland hat diesen Kreis, der die geistige Kraft des Landes repräsentiert. Sie stehen für die kreative Energie des Geistes, für die aufbrechende Wirkung von Wissenschaft und Kunst. Sie stehen auch für das, was man früher "Weisheit" nannte. Heute wird dieser Begriff nur noch - leicht ironisch - mit einer Gruppe von Wirtschaftsfachleuten in Verbindung gebracht, deren "Weisheit" vor allem darin besteht, dass sie die Lage unserer Wirtschaft analysieren und bewerten, darüber aber meist nicht einer Meinung sind. Nein, ich denke an die antike "sapientia", die höchst unpräzise als "Sachverstand" besondere Einsichtsfähigkeit aufzufassen wäre. Sie ist bei Ihren jährlichen Treffen als wissenschaftlicher und künstlerischer Verstand in vielerlei Ausprägungen versammelt.
Verehrte Mitglieder des Ordens Pour le mérite, Ihre Gemeinschaft sollte unserer Gesellschaft mehr Präsenz erlangen. Der Orden pour le mérite, sichtbarer und hörbarer geworden, könnte als geistige Größe unseres Landes Vorbildfunktion erfüllen. Nutzen Sie Ihre Weisheit, um Debatten anzustoßen, um Aufmerksamkeit zu erregen, um uns über positive Entwicklungen, Stagnationen oder Missstände im geistigen Zustand unserer Gesellschaft aufzuklären.
Ich wünsche mir einen "Kulturbericht" anderer Art - von den Berufensten, die wir im In- und Ausland finden können. Kein defensives Erbsenzählen, sondern eine von Weit- und Überblick getragene Analyse, ein "Erkennen der Lage". Ich wünsche mir mehr Öffentlichkeit für ihre Reflexionen und Kommentare, die in prägnanter und vermittelbarer Weise Aussagen zur Lage der Kultur-Nation treffen, die uns aufrütteln, um die tieferen Ursachen der deutschen Befindlichkeiten zu erkennen. Wie das zu erreichen ist, werde ich gerne mit dem Kanzler und den Vizekanzlern beraten.
Meine Damen und Herren, Jacob Burckhardt hat in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" den Ursprung der Kultur einmal so beschrieben: "Bei allem mit selbständigem Eifer, nicht rein knechtisch, betriebenen Tun entbindet sich ein geistiger Überschuß." Er sprach dabei vom bescheidenen Anfang der Kultur im Handwerk und im praktischen Wissensdrang. Um wie viel größer muss dieser geistige Überschuss bei den halbjährlichen Zusammenkünften einer Gemeinschaft wie dem Orden Pour le mérite sein. Meine Damen und Herren, ich erhoffe mir nicht mehr und nicht weniger, als dass sie uns alle noch ein wenig von diesem Überschuss profitieren lassen, der unserer Gesellschaft doch schon von jedem einzelnen von Ihnen in so reicher Weise zuteil geworden ist.
Ich erhebe mein Glas auf den Orden Pour le mérite und seine Mitglieder.