Redner(in): Christina Weiss
Datum: 23.06.2005
Untertitel: Zur Eröffnung des 3. Kulturpolitischen Bundeskongresses "publikum.macht.kultur" am 23. Juni 2005 in Berlin äußerte Kulturstaatsministerin ihre Besorgnis über die Abschaffung selbständiger Kulturressorts in einigen Bundesländern.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/80/849580/multi.htm
einen kulturpolitischen Bundeskongress zu eröffnen - das hat in diesen Tagen etwas von einer Trotzgeste. Denn in Schleswig-Holstein ist gerade das eigenständige Kulturministerium abgeschafft worden und in Nordrhein-Westfalen sieht es auch nicht besser aus. Schon jetzt sparen sich viele Städte den früher selbstverständlichen Kulturdezernenten. Und wenn das Verschwinden der autonomen Kulturressorts auch noch so geschickt mit rhetorischen Taschenspielertricks als Effizienzsteigerung und Aufwertung verkauft wird, so bleibt es doch das falsche Signal. Denn schon immer wurde der Kulturpolitik von den Fachvertretern der "harten" politischen Genres ihr vermeintlicher Orchideencharakter unter die Nase gerieben. Meistens heißt es doch in den Regierungssitzungen landauf landab: "Zuletzt Kultur".
Dabei ist die Abschaffung selbständiger Kulturressorts auch aus Gründen der Effizienz kompletter Unfug. Denn solche Maßnahmen ignorieren den Zeitfaktor. Nirgendwo kann man durch bloßes Werben und Überzeugen so viel bewirken wie in der Kulturpolitik. Man muss reden, reden, reden - das weiß ich aus eigener vielfältiger Erfahrung. Und das können Sie, liebe Kongressteilnehmer, gewiss bestätigen. Aber das Reden kostet Zeit, Hinwendung und Begreifen. Woher soll ein Nebenerwerbskulturpolitiker aus einer bürokratischen Hierarchie diese Zeit nehmen? Und erst recht stellt sich die Frage: Woher bezieht der Autoritätslose seine Autorität?
Es gibt ja den vielzitierten Satz, Wirtschaft sei zu fünfzig Prozent Psychologie. Um wie viel mehr gilt das erst für die Kultur. Geld ist wichtig. Aber genauso wichtig ist für Künstlerinnen und Künstler, aber auch für Kulturvermittler das Gefühl, von einem Ansprechpartner ernst genommen zu werden, einem Ansprechpartner, der die gleiche Sprache spricht, einem Ansprechpartner, der auch über ein wirkungsmächtiges Amt verfügt.
Die Auseinandersetzung um eigenständige Ressorts ist nur ein Schauplatz in dem allgemeinen Ringen um Kulturpolitik, das wir zur Zeit erleben. Unter dem spürbaren Kostendruck sind wir Kulturpolitiker zu Defensivkünstlern geworden. Trotzdem: All die mutigen Reformen von Kulturinstitutionen in den vergangenen Jahren brachten potentielle Angriffsflächen vor den Sparbataillonen in Sicherheit. Im Aufspüren der sprichwörtlichen Synergieeffekte haben wir alle eine große Virtuosität entwickelt. Es bleibt eine der begrüßenswerten Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, dass sich immer mehr öffentliche Kultureinrichtungen aus den kameralistischen Fesseln befreit haben. Dabei allerdings ist nichts schlimmer als Halbherzigkeit: Eine GmbH oder eine Stiftung öffentlichen Rechts können nur wirksam im Sinne der Kunst werden, wenn der unternehmerische Part in klarer Verantwortung bei den Geschäftsführungen der Häuser liegt, wenn sich die Politik auf verlässliche Budgetvereinbarungen festlegt und sich die Aufsichtsgremien auf die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit beschränken.
Die Effizienzsteigerungen, die sich in der Kultur durch den Wechsel zur GmbH-Form ergaben, müssen andere öffentliche Betriebe erst einmal nachmachen.
Aber über solch hohe Strukturkunst sind die inhaltlichen Fragen manchmal in Vergessenheit geraten. Unendlich fern scheinen uns die Zeiten als Hilmar Hoffmann sein Manifest "Kultur für alle" schrieb. Und bloß noch müde gelächelt wird heute über den Begriff "Soziokultur". Dabei verbargen sich hinter solchen Schlagworten immerhin noch Konzepte, die für eine autonome Sinngebung der Kulturpolitik standen.
In den neunziger Jahren wurde die Kultur dann stattdessen zum weichen "Standortfaktor" gestempelt. Von diesem Nützlichkeitsdiktat hat sich die Kulturpolitik bis heute nicht erholt, denn Kunst ist nicht darauf reduzierbar. Die Künste brauchen die Spielräume zum Entfalten ihrer visionären Kraft. Ich verhehle nicht, dass das Verhältnis zwischen der kulturellen Lebendigkeit eines Ortes und der wirtschaftlichen Attraktivität überaus spannend sein kann.
Ein Zurück zur optimistischen Forderung "Kultur für alle" wird es aber wohl nicht geben. Denn diese Formulierung ging ja davon aus, dass die öffentliche Hand großzügig an die bisher zu kurz Gekommenen etwas verteilen könnte - damals war es die Kultur.
Und gleichzeitig war sie ein Reflex auf die rückblickend unfassbar hohen Hürden, die lange den Zugang zur Kultur hemmten. Noch vor zwanzig Jahren war der Kauf einer Theater- oder Konzertkarte oft ein komplizierter Vorgang. Man brauchte dafür viel Zeit und gute Nerven. Die Schwellen sind weitgehend verschwunden. Gerade deshalb wird das Festliche, das Rituelle des Kulturgenusses, das man einst als Einschüchterung empfand, heute wieder geschätzt. Kultur für alle ", das hieß: Mehr Kultur wagen. Denn die Teilnahme an der Demokratie und an der Kultur sind ähnliche Phänomene. Beides sind keine voraussetzungslosen Selbstverständlichkeiten. Dem Menschen muss ein Weg zur Partizipation gebahnt werden.
Das Beste, was von den Auf- und Ausbrüchen der siebziger Jahre geblieben ist, sind interessante Verbindungen zwischen alten und neuen Traditionen: Als die Theater damals anfingen, für ihre Aufführungen gelegentlich die klassischen Bühnenräume zu verlassen, war das oft gedacht als Versuch, Schwellenängste abzubauen. Wenn man heute in Abendgarderobe ein Konzert in einer Industrieruine besucht, ist das ein ganz normaler, mit keinerlei ideologischer Hoffnung mehr befrachteter Vorgang. Kultur für alle " ist Realität. Die finanziellen und rituellen Zugangshürden zu den Stätten der klassischen Kultur sind geschleift. Aber warum kommen dann trotzdem nicht alle?
Es hat natürlich viel mit gewandelten Bildungsvoraussetzungen zu tun. Trotz aller Befreiungen suchen heute weniger Menschen als früher ihre Freiheit in der Kunst. Ich spreche hier bewusst ganz emphatisch von Freiheit. Denn zu den Versprechen der Kunst gehört doch, dass sie - wie übrigens auch der Religion - den Zugang zu einer Welt eröffnet, in der die ökonomischen Zwänge des Alltags uns nicht gefangen halten. Vielleicht muss dieses Versprechen gerade heute wieder etwas deutlicher wiederholt werden. Künstlerinnen und Künstler und die Leiter der kulturellen Institutionen müssen viel selbstbewusster sagen, dass sie Hoffnung, Orientierung und Utopien im Angebot haben - dass die spielerische Energie der Künste ein lustvolles Instrument zur Ausbildung der Subjektivität ist - dass ein mündiges Subjekt aus Verstand und Gefühl besteht - dass die kreative Phantasie eine Voraussetzung für Handlungsfähigkeit ist. Der Bildungswandel betrifft keineswegs nur die heute so genannten "bildungsfernen Schichten", sondern auch die bildungsnahen, die noch mehr oder weniger selbstverständlich kulturelle Angebote nutzen.
Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht: Auch die, die "ihre Klassiker wiedererkennen" wollen, begegnen ihnen im Theater oft genug zum ersten Mal. Das gilt es bei der Kulturvermittlung noch stärker zu berücksichtigen: Die Institutionen müssen sich noch stärker als Partnerschaftsanbahnungsinstitute verstehen, die ihre Klientel dezent miteinander bekannt macht, ohne dass peinliche Situationen entstehen. Museen, Theater und Konzertveranstalter sollten mehr denn je Gelegenheiten schaffen, Bildungslücken aufzufüllen, ohne dass der Lückenbesitzer sich ertappt fühlen muss. Mit großer Freude beobachte ich deshalb seit einiger Zeit in den Programmheften der Theater einen Trend zur leserfreundlichen Aufklärung. Die Zeiten, als Dramaturgen auf dem Boden eines verbindlichen Bildungskonsens geistige Turnübungen veranstalten konnten, sind vorbei.
Die Kunst braucht ihr Publikum. Das Publikum braucht Brücken zur Kunst: Darin liegt der Vermittlungsauftrag der Institutionen. Es gilt, neue Strategien zu nutzen, Phantasie ist dabei reichlich gefragt: Elektronische Textflächen im Foyer, die die ungestellten Fragen zum Kunstwerk und seinem Schöpfer, dem Besucher schon vorab im Vorübergehen beantworten, wären eine begrüßenswerte Errungenschaft. Auch die Möglichkeiten des Internets können noch viel stärker genutzt werden. Warum gibt es in diesem Medium nicht mehr Angebote, mit denen man sich knapp und bündig vorab informieren kann?
Das Wissen ist nicht geringer geworden, nur wissen die Menschen heute eben oft ganz andere Dinge als früher. Wir haben eine Explosion der Kulturbegriffe erlebt. Heute ist zwar nicht alles Kultur, aber doch manches, was vor Jahrzehnten noch als Unkultur galt. Und viele sind in ihren Spezialkulturen absolut zufrieden: Die Liebe, die Neugier, die Arbeit und die Leidenschaft die mancher Fan seinem speziellen Segment der Cyberwelten, der Fantasy oder des Pop angedeihen lässt, steht dem Engagement klassischer Bildungsbürger alten Typs nicht nach.
Ich bin dennoch der Meinung, dass es immer noch eine Kulturtradition für alle gibt. Diese ist keine Zwangsjacke, sondern ihre Kenntnis macht uns erst recht frei, denn sie hilft uns, zu verstehen, wer wir sind, wie wir wurden, was wir sind, und was aus uns werden könnte. Die Sehnsucht nach einer solch verbindenden kulturellen Kernkompetenz hat auch mit dem Gespräch über die Notwendigkeit von Werten tun. Sie drückt sich in manchmal etwas unscharf gebrauchten Begriffen wie "Leitkultur" oder "Kulturnation" aus.
Museen und Theater werden heute sogar wieder wichtiger als Orte der Selbstverständigung, der Selbstvergewisserung, der Selbstpreisgabe. Der bloße Wirtschaftspatriotismus hat sich als Chimäre erwiesen.
Gerade in Krisenzeiten, wenn die Definition des Bürgertums als Verdienstgemeinschaft im rein pekuniären Verständnis gefährdet ist, erlangen sinnstiftende Faktoren stärkere Bedeutung. Vor allem in den kleineren und mittleren Städten, die von den politischen und ökonomischen Umwälzungen der letzten fünfzehn Jahre besonders stark getroffen wurden, sind die Kulturinstitutionen überlebensnotwendig. Sie sind wahre Kristallisationspunkte von Aufklärung und Subjektivitätsentwicklung.
Aber auch bei denen, die weit von solchen Kristallisationspunkten entfernt sind, ist die Sehnsucht nach einer gemeinsamen kulturellen Grundlage offenbar noch nicht abgestorben.
Sonst könnte man bestimmt nicht richtig Geld verdienen, indem man einen Kanon des Wissens oder der Künste aufstellt. Das ist Marcel Reich-Ranicki ebenso geglückt wie Dietrich Schwanitz, aber es gilt auch für die Editionen von Büchern, klassischer Musik oder Kinofilmen, mit denen die "Süddeutsche Zeitung" sich fast saniert hat. Kanondebatten und -abstimmungen sind gar zum Volksvergnügen geworden.
Nicht immer sind diese Kanons allerdings unumstritten. Sie grenzen aber auch aus und beschränken die Neugier auf eigene Entdeckungen. Die desaströs hohen Platzierungen zweitrangiger Unterhaltungskasper unter den "100 wichtigsten Deutschen" sollten uns allerdings nicht die Freude darüber trüben, dass es offenbar noch immer Einigkeit über einen kulturellen Kern gibt: Auf den ersten Plätzen war in Deutschland niemand, dessen Wahl skurril erschien - im Gegensatz zu ähnlichen Abstimmungen in England oder Frankreich. Und dabei sind dies doch Nationen, denen wir Deutschen gemeinhin ein viel gefestigteres Selbstbild unterstellen.
Was ist aber nötig, um diesem Bedürfnis nach kultureller Gemeinsamkeit entgegenzukommen? Das Schlagwort für die Zukunft heißt: Kultur durch alle. Wir brauchen eine neue Welle bürgerlichen Engagements. So etwas kann von den Institutionen ausgehen, indem diese Kinder und die Kunst zusammenbringen, wie es etwa Frank Baumbauer im Theater oder Sir Simon Rattle in der Musik getan haben. Ich würde mir wünschen, dass Kunstaktive noch viel stärker mit ihren Angeboten an die Schulen herantreten. Es gilt da künftig, auch die Chancen der Ganztagsschulen zu nutzen.
Doch bürgerlicher Einsatz für eine Kultur durch alle muss vor allem von Enthusiasten kommen. Kunstvermittlung bei Jugendlichen war allzu lange eine Aufgabe, die man ausschließlich den Lehrern überlassen hat. Heute können oft überalterte Kollegien, von denen gleichzeitig immer mehr Arbeit verlangt wird, nicht mehr wie früher zusätzlichen Einsatz zeigen. Für das, was nicht mehr von den Lehrern geleistet werden kann, müssen sich Freiwillige engagieren. Die können aus der Elternschaft kommen oder allgemein aus der Gesellschaft. Hier läge vielleicht eine neue Aufgabe für die Besucherorganisationen. Das setzt allerdings bei den Schulen einen Sprung über das institutionelle Abgrenzungsdenken voraus.
Solch ein Aufbruch in eine neue breite und werbende Kultur des bürgerlichen Engagements könnte zuletzt auch der Kulturpolitik den Weg aus der Defensive und der Verzagtheit der letzten Jahre weisen. Denn, meine Damen und Herren, ich verstehe das Motto dieses Kongresses "publikum. macht. kultur" so, dass das Publikum die Macht der Kultur ist. Es gilt, diese Machtbasis zu verbreitern. Aber es genügt manchmal, diese schlummernde Macht nur zu wecken. Als wir in Hamburg die "Lange Nacht der Museen" veranstalteten, bekam ich als Kultursenatorin ein paar Tage später von einer begeisterten Frau zu hören: "Ich habe jetzt zum ersten Mal begriffen: Das gehört ja alles uns." Das ist ein Schlüsselsatz. Dieses Wissen, dass den Bürgern all die Kultureinrichtungen gehören, muss man wecken und wach halten. Denn dann lassen sie sich ihren Besitz auch nicht so schnell wegnehmen.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei Kulturmarketing. Das wissen natürlich alle. Aber sie machen sich wenig Gedanken darüber, wie fundamental sich Kulturmarketing von Marketing anderswo unterscheidet. Es geht hierbei eben nicht darum, ein Produkt zu verkaufen. Es geht darum, die Bürger aufzufordern, etwas in Besitz zu nehmen, das ihnen schon längst gehört. Ziel des alltäglichen Marketings ist es, Konsum zu erzeugen. Ziel des Kulturmarketings muss es sein, Aktivität und Neugier zu wecken.
Meine Damen und Herren, im Nachhall der Pisa-Studie ist der Ruf nach einer geistigen Rute laut geworden. Man stellt sich die Kulturnation als eine Art Umerziehungslager für Schulversager vor. So funktioniert es aber nicht. Den so genannten "bildungsfernen Schichten" und auch den bloß trägen Kulturverweigerern aus den mittleren Bildungslagen kommt man nicht mit Zwang und Drohkulissen bei. Die Antwort ist ganz einfach und kompliziert zugleich: Wir müssen ein bisschen trickreicher locken, vermitteln und verführen, ohne zu gängeln.
Meine Damen und Herren, es ist uns kürzlich das Heraufdämmern einer "neuen Gründerzeit" in der Kultur prophezeit worden. Ich weiß nicht, ob das so erstrebenswert ist. Die historische Gründerzeit war bekanntlich ein mit fremdem Geld finanzierte Spekulationsblase, die sehr rasch wieder platzte und außer ein paar schönen Altbauwohnungen wenig Kultur hinterließ. Jenseits solcher ausgerufenen Epochen bleibt die Aufgabe der Kulturpolitik eigentlich immer gewaltig: Wir müssen Utopien ermöglichen, Freiheit gewährleisten und Hoffnung ermöglichen. Auf die Frage, wie dieses große Ziel im Alltag erreicht werden kann, wird dieser Kongress hoffentlich ein paar neue Antworten finden. Dafür gibt es immer einen Grund, auch wenn gerade keine Gründerzeit ist.
Ich wünsche dem Kongress einen erfolgreichen Verlauf und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.