Redner(in): Christina Weiss
Datum: 15.09.2005
Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss führt in die Lesung von Friederike Mayröcker "Und ich schüttelte einen Liebling" im Berliner Ensemble ein
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/78/889278/multi.htm
es ist diese fließende Grenze zwischen Prosa und Poesie, die Friederike Mayröcker so einzigartig macht. Geschichten erzählen liegt ihr fern. Für sie, im Todesjahr Kafkas 1924 in Wien geboren, ist Schreiben "Schreibendrangsalseligkeit". Das ist auch nach über sechzig Büchern nicht anders. Es geht ihr nicht darum, die Sprache als Instrument gradliniger Mitteilung zu verwenden. Es geht ihr eher um das, was sie in einem programmatischen Buchtitel 1985 "Das Herzzerreißende der Dinge" genannt hat.
Die Dinge werden zu Sprache, und die Sprache der Autorin zum herzzerreißenden Liebesobjekt. Schreiben ist für diese Autorin, die zweifellos zu den interessantesten Sprachkünstlern deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zählt, eine Obsession.
Wer Mayröcker ergründen will, hält sich am besten an Peter Weiss, der das Motto zu ihrem jüngsten Buch liefert: "alles was gesagt wird existiert nur im Bereich des Möglichen, aber es könnte ebenso gut anders sein, irgendwie hat es etwas mit einem zu tun, aber es zerfällt, löst sich immer wieder auf und nimmt neue Bedeutung an". So vorangestellt dem neuen Buch "Und ich schüttelte einen Liebling", das sie uns heute Abend präsentiert.
Es ist die schreibende Annäherung an sich selbst. Wieder ist die Grenze zwischen poetischem Sprechen und erzählerischen Momenten fließend. Anders als in den früheren Büchern reißt es Fragmente biographischen Erlebens auf, die als Zwischenbekenntnisse im Text, Geschichten öffnen, die sehr konkrete alltägliche Situationen erfassen, Alltagserlebnisse und Alltagsgespräche aus dem Leben mit Ernst Jandl. Mit der Familie, mit den Freunden, Geschichten, die sich aber sogleich wieder zwischen eingestreuten Fragmenten aus der Lektüre Friederike Mayröckers verlieren, verwischen, dadurch aber durchaus an Intensität gewinnen.
Der Blick auf ihr Leben mit Ernst Jandl und ohne ihn, getränkt vom Schmerz über den Tod des Freundes, wirkt auf den Leser wie eine rasende Reise durch die Erfahrungen, die sich übereinander, nebeneinander in wilder Staffelung offenbaren. Erlebtes, Wahrgenommenes, die gelesenen - immer wieder gelesenen Bücher, die gehörte - immer wieder gehörte - Musik. Die Stimme von Maria Callas begleitet die Lektüre dieser Lebensgeschichte ebenso wie die Texte von Gertrude Stein. Dazwischen die notierte Trauer, Tränen wie Sturzbäche, die Trübung der Augenlinse, die Verzweiflung über das Verlassensein und zugleich die Unfähigkeit, andere Menschen zu ertragen - anders als durch Briefe.
Es ist ein Liebesstück geschrieben mit aufgeregten Nerven und "Gedankenaufregung". Die Schreibende ist gebannt in ihre "Behausung", alles voller Zettel mit Notizen,"aufgenadelt" an den Wänden oder "zappelnd im Schoß" liegend, während sie an der Maschine schreibt. Das Leitmotiv des Buches ist die poetische Umsetzung des Textereignisses, das beim Lesen bannt und in dauernder Rührung, Berührung hält. Eine Lektüre en passant, eine Lektüre ohne Emotion wird nicht zugelassen. Das Leitmotiv, der wiederkehrende Satz: "Dann florte es um mich herum und ich schüttelte einen Liebling", gab dem Band auch den wunderbaren Titel.
Die inhaltliche Ballung um das Wort Flor ist so dicht, dass sich alle emotionalen Elemente dieses Buches darin treffen: Blütenfülle der Wiesen, die Üppigkeit des Wohlstandes, das festliche, zarte Stoffgewebe, das samtige, weiche, auch natürlich der Zettelflor der Notizblättchen im Schoß und die Trauer nicht zu vergessen. Aus üppiger Fülle heraus schüttelt sie die Erinnerungen, den Liebling, den sie aus diesem Satzgewebe heraus sichtbar und erfahrbar werden lässt.
Einen Liebling schütteln heißt aber auch, ihn geschmeidig machen wollen, etwas aus ihm herauszuschütteln, ihm etwas Unbekanntes zu entlocken. Und natürlich die Schrift auf dem Kinderfoto "und ich schüttelte einen Liebling" - die Alltagsvariante.
Und Friederike Mayröcker schüttelt jedes Wort, jeden Satz durch, bis sie sich alles, was von ihm ausgehen kann, einverleibt hat, und bis sie die Geheimnisse der möglichen Bedeutungen und ihre eigenen inneren Beziehungen dazu umkreist und ausgekostet hat.
Fünfzehn Mal zäsiert dieses Leitmotiv den Text auf seinen 140 Seiten. Andere Motive kehren wieder und bieten feste Assoziationsknotenpunkte im immer wechselndem Kontext, der die Poesie dieser Bilder schüttelt und unterschiedlich zum Klingen bringt. Wie etwa die "Lichtmütze" des Freundes, wenn er wie eine Erscheinung aus dem Jenseits auftaucht. Wie seine Flechtschuhe, die sie beide liebten, weil sie das Wort liebten.
Dann stehen die Flechtschuhe verstaubt im Regal, aus den Jacken fliegen Motten auf. Und die Schreibende beteuert in Abständen und häufig und insistierend,"ich schreibe jetzt figural". Sie suggeriert damit Erzählphasen im "Alltagsgefüge", aber jede Geschichte, die sie anklingen lässt, wird durch figurale Wiederholungen und Setzungen in die sich jeweils unterscheidenden Kontexte dennoch im Raum der poetischen Offenheit gelassen. Man erinnert sich an die Textformen von Gertrude Stein, während sich Friederike Mayröcker unablässig mit ihr in Beziehung setzt.
Ernst Jandl, Gertrude Stein, Oskar Pastior, Freundinnen und Freunde, deren Literatur, deren gesprochene Sätze, deren Briefe, begleiten die biographischen Erzählungen und ergänzen sie, indem sie die Stimmungen steuern.
Zum Beispiel: "und dann ruft Nina Retti an und sagt, und Pierre Michon schreibt über die Helligkeit des Schreibens und das macht mich ganz wach und dann äugelt mein Ich aus dem Äther und das sind die schönsten Herz Fragmentationen und Herz Seligkeiten". Über den Äther ist sie auch mit EJ verbunden. Das ist das Zentrum ihres Schreibens. Schreiben verknüpft sie oft mit Schreien - Schreiarbeit - Schreigebet.
Am intensivsten wird dieses Buch des Schmerzes, der Trauer in folgender Passage: " und es schnürt mir den Hals wenn ich das Foto betrachte und ich wische mir das Blut aus den Haaren und ich sinke nieder und ich vertippe mich pausenlos wie ich mich pausenlos verspreche,
weil ich die Gedanken ich meine die Gedanken sind mir durcheinandergeraten, und ich kann sie nicht mehr in Ordnung bringen, weil ich kreise um dich, sage ich zu EJ, ich kreise unaufhörlich um dich und ich weine um dich schon so viele Jahre eine so lange Zeit, also ich entwische immer wieder in einen Stolperweg also ich stolpere pausenlos, auch meine Finger, so das ich mich zurechtweisen muss, zurückführen muss auf den intensiven Pfad meiner Lektüre, nicht wahr, mich selbst an der Hand nehmen und zurückführen, ohne auch nur das kleinste Stückchen Buchstäblichkeit, so Jacques Derrida."
Lesen und Schreiben als magische Handlung, um dem geliebten Menschen nach seinem Tod wieder nahe zu kommen - um sich selbst zu erfahren. Schreiben, das nennt sie an anderer Stelle im Buch auch "Gottessen", im Schreiben liegt die Chance, die alltäglichen Engen aufzubrechen und beflügelt von der Sprache sich in einen Gedankenrausch zu versetzen, sich schreibend, entblößend preiszugeben.
So wie sie aus der Lektüre fremder Texte das Eigene herauszieht, und etwas für sich darauf bildet, so empfiehlt sich diese Lesehaltung auch diesem Text Friederike Mayröckers gegenüber.
Ich danke Ihnen.