Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.10.2005

Anrede: Sehr geehrter Herr Guarguaglini, sehr geehrter Herr Dr. Enders, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/60/899460/multi.htm


Vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Zu kommen, war für mich selbstverständlich. Es ist schön, hier zu sein. Ich bin aber auch gerne gekommen aus Respekt vor dem, was Sie tun, auch vor denen, die in Ihren Unternehmen beschäftigt sind. In der Öffentlichkeit wird gelegentlich zu wenig wahrgenommen, dass rund 600.000 Menschen in einer der wichtigsten Branchen Europas arbeiten.

Im Übrigen - auch das wird gelegentlich übersehen - weist die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie etwas auf, was nicht sehr bekannt ist: Sie ist am stärksten und auch am fortgeschrittensten integriert, was die europäische Zusammenarbeit angeht. Das kann noch besser werden - das ist auf Ihrem Kongress auch deutlich geworden - , und es muss auch besser werden. Aber die Öffentlichkeit in Europa, in Deutschland zumal, darf ruhig zur Kenntnis nehmen, dass eine weit fortgeschrittene europäische Integration vorhanden ist, die für andere Industriezweige durchaus beispielhaft sein kann.

Was Forschung und Entwicklung angeht, investiert die Branche 15 % ihres Umsatzes und erzielt mit ihren Produkten weltweit sehr beachtliche Erfolge. Ich denke, das sollte uns alle etwas stolz machen.

Es gibt also viele Gründe dafür, dass die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie optimistisch, in jedem Falle aber selbstbewusst in die Zukunft schaut."Selbstbewusst" heißt ja nicht "selbstzufrieden".

Wir müssen weiter mit großem Einsatz daran arbeiten, die Innovationskraft der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie zu sichern und, wo immer es uns allen möglich ist, sie noch weiter auszubauen. Die weltweite Konkurrenz, vor allem jene mit den Vereinigten Staaten von Amerika, ist hart. Daran besteht gar kein Zweifel. Bei den zivilen Flugzeugen hat sich Airbus allerdings einen knappen, aber immerhin einen Vorsprung vor Boeing erarbeitet. Man stelle sich einmal vor, das hätte jemand vor 20 oder auch noch vor 10 Jahren prophezeit. Er wäre als Phantast abgetan worden. Aber es ist dieser Branche gelungen. Ich finde, das ist schon ein Grund für Selbstbewusstsein. Dieser Vorsprung muss gehalten und, wo immer möglich, ausgebaut werden. Das ist nur mit neuen Produkten, mit Innovationen möglich.

Auch in der Verteidigungsindustrie sind europäische Produkte weltweit sehr erfolgreich. Hier können und wollen wir die Rahmenbedingungen noch weiter verbessern. Ich füge hinzu: Es sollte auch niemand Scheu haben, deutlich zu machen, dass auch die europäische Politik im Wettbewerb zu anderen die Anstrengungen der Industrie unterstützt.

Die europäische Raumfahrtindustrie ist weltweit in vielen Bereichen führend. Wir müssen uns aber anstrengen, um ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern und die starke unabhängige Position der europäischen Raumfahrt auszubauen. Dies ist eine gemeinsame Herausforderung für die Industrie und für die Regierungen in Europa, eine Herausforderung, die dahin geht, in diesen Bereichen eng zusammenzuarbeiten, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu wahren.

Meine Damen und Herren, diese Herausforderung möchte ich gerne an einigen Beispielen konkretisieren.

Erstens. Bei den zivilen Flugzeugen hat sich Airbus wirklich als "Champion" etabliert. Airbus ist Weltmarktführer und Entwickler des größten Zivilflugzeugs, des A 380. Das heißt aber auch, die lange Zeit gebundenen Kräfte setzt auf neue, ebenfalls zukunftsfähige Projekte auszurichten. Ich will auch sagen: Ich bin sicher, dass Herr Humbert der richtige Mann ist, diese strategische Positionierung vorzunehmen.

Klar muss aber auch sein - dies muss man in Richtung der anderen Seite des Atlantiks sagen: Wir brauchen auf beiden Seiten ausgewogene Wettbewerbsbedingungen. Es kann nicht sein, dass die amerikanische Regierung die Entwicklungskredite europäischer Regierungen an Airbus brandmarkt, gleichzeitig aber Boeing mit üppigen Finanzhilfen von verschiedenen Seiten und mit Militäraufträgen massiv unterstützt und damit Wettbewerbsverzerrung betreibt. Das muss man in aller Freundschaft, aber auch in aller Deutlichkeit sagen. Hier muss ein ausgewogenes Verhältnis herrschen.

Ich füge hinzu: Das ist auch die Aufforderung an Europa, einseitige Wettbewerbsnachteile nicht hinzunehmen. Dies ist nicht nur eine Sache der nationalen Regierungen, sondern auch Angelegenheit der europäischen Institutionen. Ich denke, wir können mit gutem Willen auf beiden Seiten das einzig sinnvolle Ziel, das nämlich, was man "level playing field" nennt, auch erreichen.

Zweitens. Im militärischen Bereich hat Europa in den vergangenen Jahren verstärkt auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit gesetzt. Ich möchte hier insbesondere den Eurofighter und den A 400 M als die vielleicht prominentesten multinationalen Projekte hervorheben.

Was den Export angeht, können wir verzeichnen, dass die Hubschraubersparte in jüngster Zeit beachtliche Ausschreibungserfolge erzielt hat, dies übrigens nicht zuletzt deshalb, weil auch hier die Wirtschaft und die Politik international gemeinsam auftreten.

Solche Kooperationen weisen uns den strategischen Weg in die Zukunft der europäischen Verteidigungsindustrie. Wir jedenfalls setzen darauf, dass auf diesem Weg die europäische Verteidigungsagentur eine wichtige Rolle spielen kann - und spielen muss. Es geht darum, die Ressourcen in Europa noch umfassender und effizienter zu bündeln und auf diese Weise Synergiepotenziale unserer nationalen Industrien auf diesem Sektor gemeinsam zu nutzen.

Aus diesem Grunde habe ich im vergangenen Jahr vorgeschlagen, unsere Anstrengungen in Richtung eines europäischen Rüstungsbinnenmarktes zu verstärken. Wir werden die dazu in Brüssel aufgenommenen Aktivitäten auch weiterhin entschieden unterstützen.

Drittens. Mit Galileo haben wir ein gesamteuropäisches Projekt auf den Weg gebracht, das den technologischen und industriellen Führungsanspruch Europas in der Raumfahrt unterstreicht. Nach Einschätzung aller Experten wird Galileo eine große industrielle Zukunft haben.

Wir können also die erheblichen Chancen des Projekts nutzen, wenn wir als europäische Partner fair zusammenarbeiten und ein gemeinsames Ziel verfolgen. Daher wünsche ich mir, dass alle Beteiligten gleichermaßen den Fortschritt des Projekts im Auge behalten. Dann würden wir beim Aufbau von Galileo besser und vor allen Dingen schneller vorankommen. Man muss davor warnen, kurzsichtige Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen und mit überzogenen Forderungen das gesamte Projekt zu gefährden.

Deswegen sage ich sehr nachdrücklich: In der laufenden Entwicklungsphase leistet jedes der beteiligten Länder seinen Anteil. Galileo wird aber nur zu einem gemeinsamen europäischen Projekt, wenn auch der Nutzen gleichgewichtig und gleichwertig verteilt wird. Dafür sind Regeln vereinbart worden. An diese Regeln wird sich Deutschland halten. Dies müssen wir aber auch von allen anderen Partnern erwarten. Sonst kann das nicht funktionieren.

Bei den Verhandlungen über Aufbau und Betrieb von Galileo ist die Industrie aufgefordert, ihre Verantwortung wahrzunehmen, damit eine erfolgreiche europäische Kooperation gelingt. Die Beteiligten müssen sich auf ein faires Konzept einigen. Die noch offenen Fragen müssen in partnerschaftlichem Geist, aber vor allen Dingen schnell und konstruktiv geklärt werden. Klar ist dabei: Die Regierungen können dies konstruktiv flankieren, aber wir können der Industrie die Entscheidungen nicht abnehmen und wollen das auch nicht. Nur in einem fairen Miteinander kann die Zukunftsfähigkeit von Galileo gesichert und auf diese Weise auch der europäische Innovationsvorsprung bei der Satellitennavigation gehalten werden.

Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz darauf eingehen, mit welchen Mitteln die Bundesregierung die Luft- und Raumfahrt industriepolitisch flankiert.

Ein hochrangiger Koordinator der Bundesregierung begleitet ressortübergreifend die Belange der deutschen Luft- und Raumfahrt. Mit außenwirtschaftlichen Instrumenten und politischer Unterstützung flankieren wir wichtige Exportaktivitäten. Ich bin daran - gelegentlich jedenfalls - selbst beteiligt. Mit attraktiven Rahmenbedingungen schaffen wir günstige Voraussetzungen für Investitionen, insbesondere am Luft- und Raumfahrtstandort Ostdeutschland. Und mit der verlässlichen Förderung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten tragen wir maßgeblich zu wegweisenden Innovationen der Luft- und Raumfahrt bei. Diesen Kurs werden wir in Zukunft fortsetzen.

Auch bei der anstehenden ESA-Ministerratskonferenz werden wir trotz der auch Ihnen bekannten Haushaltszwänge unserer Verantwortung für die deutsche und europäische Raumfahrtindustrie gerecht werden.

Eines will ich in diesem Zusammenhang betonen: Es wird immer wichtiger, mit Hilfe der Industrie die bestehenden Fördermittel noch effizienter auf Wachstum und Beschäftigung schaffende Programme und auf entsprechende Projekte auszurichten. Dies betrifft gewiss die nationale Ebene, aber vor allen Dingen auch die europäische Ebene. Im neuen Forschungsrahmenprogramm muss die angemessene Förderung der Raumfahrt sichergestellt werden. Das setzt aber die Verabschiedung des neuen EU-Finanzrahmens voraus.

Wir standen bereits unter der Präsidentschaft des luxemburgischen Ministerpräsidenten Juncker kurz vor einer politischen Einigung, die dann aber am Veto eines oder mehrerer Länder gescheitert ist. Das bedeutet, dass jetzt auf die britische Präsidentschaft eine sehr große Verantwortung zukommt. Sie muss nämlich alles tun, damit es im Interesse der Planungssicherheit gerade in den Bereichen, die Innovation und Zukunftsfähigkeit für Europa bedeuten, unter ihrer Präsidentschaft wirklich zu einer Einigung über die finanzielle Vorausschau kommt.

Man kann die üblichen Haushalte der Europäischen Union sozusagen auf Sicht fahren, aber nicht jene, um die es uns geht und die mit Forschungsförderung und mit neuen Aufgaben, die sich stellen, zu tun haben. Deshalb brauchen wir diese Initiative und diese Einigung. Ich gehe fest davon aus, dass eine Einigung nur möglich ist, wenn man sich weitgehend an dem Kompromissvorschlag des luxemburgischen Ministerpräsident orientiert. Ich sehe nicht, dass es wirklich andere durchgreifende, substanzielle Möglichkeiten gibt.

Meine Damen und Herren, die europäische Industrie des 21. Jahrhunderts ist ohne eine starke Luft- und Raumfahrtindustrie nicht denkbar. Das bedeutet, dass die nationalen Regierungen, dass die europäischen Institutionen dafür Verantwortung tragen. Aber insbesondere geht es natürlich um Sie und um Ihre Bereitschaft, Innovationen zu entwickeln und auf den internationalen Märkten besser zu sein als die Wettbewerber.

Im Interesse der Zukunftsfähigkeit der europäischen Luft- und Raumfahrt wünsche ich Ihrer Jahreskonferenz einen erfolgreichen Verlauf und entschuldige mich dafür, dass ich nicht länger bleiben kann.

Vielleicht sollte ich noch eines sagen. Ich bin auf dem Weg nach Russland. Ich glaube, dass dieses Land mit all seinen Möglichkeiten, auch was die Luft- und Raumfahrtindustrie angeht, ein wirklich wichtiger Partner für die europäische Branche ist, für die deutsche sicherlich auch, aber ich denke, das gilt für alle anderen in gleichem Maße. Man sollte sich aus vielerlei Gründen noch mehr und noch entschiedener für wichtige und richtige Kooperationen strategischer Art zwischen Europa und Russland einsetzen, nicht nur auf dem Energiesektor, sondern auch auf diesem Sektor. Ich glaube, das bekommt uns industriepolitisch.

Dies ist ein Riesenmarkt, ohne jeden Zweifel, einer, der aufgrund der ansonsten zu kritisierenden Situation bei den Energiepreisen in jedem Fall die Möglichkeit hat, zu wachsen und das Wachstum auch zu bezahlen, einer im Übrigen, der auch im wohlverstandenen politischen Interesse Europas ist.

Es wird keinen dauerhaften Frieden und keine dauerhafte Entwicklung hin zum Wohlstand für alle geben, wenn es nicht gelingt, Russland und Europa in eine Verbindung zu bringen, die man "strategische Partnerschaft" nennt, die jedenfalls gekennzeichnet ist durch Verständnis und Dauerhaftigkeit. Ich denke, das ist über alle Wettbewerbsinteressen hinaus ein gemeinsames Ziel. Gerade diese Branche kann angesichts vieler kultureller Gleichartigkeiten, auch was Geschäftskulturen angeht, einen wichtigen Beitrag zu dieser strategischen Partnerschaft leisten. Ich würde es mir jedenfalls wünschen, und ich glaube, viele Menschen in Europa wünschen sich dies auch. Sie können es nach Kräften unterstützen. Vielleicht ist das ein Aspekt, der auch in Ihren Diskussionen verstärkt eine Rolle spielen kann.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und nochmals viel Erfolg für Ihre Konferenz.