Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 12.10.2005

Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Freund, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/34/901734/multi.htm


Ich wünsche allen Gästen Frieden und einen gesegneten Ramadan.

Ich freue mich sehr, dieses Fastenbrechen heute gemeinsam mit Ihnen zu begehen!

Meine Damen und Herren, wir haben soeben ein Stück aus der 9. Sinfonie von Beethoven gehört. Es gibt wohl kaum ein bekannteres und eindrucksvolleres musikalisches Zeugnis für unsere kulturelle Verbundenheit als der hörbare Einfluss türkischer Musik in dieser europäischen Hymne.

Die Türkei und die Europäische Union verhandeln seit der vergangenen Woche über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Ziel dieser Verhandlungen ist die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Nichts anderes, meine Damen und Herren.

Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen ist ein großer Erfolg für alle Beteiligten - für die Türkei, die durch ihre Reformen den Beitrittsprozess erst möglich gemacht hat, und auch für die Europäische Union, die ihre seit 1963 gegebenen Versprechen und Zusagen nun einhält. Ministerpräsident Erdogan, den ich als meinen Freund bezeichnen darf, hat daran einen großen politischen und persönlichen Anteil.

Meine Damen und Herren, ich denke, wir wissen alle, dass es in der Geschichte Gelegenheiten gibt, die nicht so schnell wiederkommen. Am ersten Oktober-Wochenende war ein solch historischer Moment. Wir haben diesen Moment genutzt und damit unsere historische Chance ergriffen.

Europa ist nicht die Addition aus geographischen und historischen Daten, auch nicht das Produkt von Vorurteilen und Vorbehalten, sondern ein politisches Projekt für eine gemeinsame Zukunft in Frieden und Demokratie, in wirtschaftlichem Wohlergehen und sozialer Teilhabe, in kultureller und religiöser Vielfalt.

Walter Hallstein, einer der großen deutschen Europäer und erster Präsident der EWG-Kommission, hat bereits 1963 gesagt: "Die Türkei gehört zu Europa. Das ist ( ... ) die Bestätigung einer Wahrheit, die mehr ist als ein abgekürzter Ausdruck einer geographischen Aussage oder einer geschichtlichen Feststellung".

Heute können wir uns daran machen, dies zu verwirklichen. Grundlage dafür ist der tief greifende Reformweg, auf den sich Ihr Land unter beeindruckender Führung von Ministerpräsident Erdogan begeben hat. Ein Reformweg, den die Menschen in Ihrem Land wollen und den sie mitgehen. Sie gehen diesen Weg mit, weil er im Interesse nicht nur der heutigen Generation, sondern auch künftiger Generationen liegt.

Wir wissen, dass der Weg der Reformen kein einfacher Weg ist. Er ist lang und steinig. Ich weiß das selbst sehr gut. Damit er gelingt und damit die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei erfolgreich sein werden, müssen wir auf diesem Weg weitergehen. Die Türkei, indem sie ihren Reformweg konsequent weitergeht; die Europäische Union, indem sie sich fähig macht für die Aufnahme weiterer Mitglieder.

Wir haben uns durch den Beschluss vom 3. Oktober den Weg zu einer gemeinsamen Zukunft geöffnet. Diese Zukunft will und muss gestaltet werden. Hierzu haben wir uns einen gemeinsamen Rahmen gesteckt. Diesen Rahmen müssen wir einhalten und ausfüllen, und zwar nicht nur als Grundlage für unsere Verhandlungen, sondern auch, um Vorbehalte und Zweifel auszuräumen, die heute manche Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben. Wir müssen diese Zweifel ernst nehmen, denn sie spiegeln eine der großen aktuellen Herausforderungen wider, vor denen die Europäische Union heute steht:

Europa muss nicht nur einen Ausweg aus seiner Verfassungs- und Finanzkrise finden und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Europa muss vor allem von seinen Bürgerinnen und Bürgern als ein Ort des sozialen Zusammenhalts erlebt werden. Wir müssen das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Wissen um unsere europäische Identität stärken.

Die Europäische Union hat noch stets bewiesen, dass sie Herausforderungen annehmen kann und aus ihnen gestärkt hervorgeht. Ich bin ganz sicher, das wird auch diesmal so sein. Die Europäische Union ist gegründet worden als mutige Antwort auf Jahrhunderte europäischer Kriege und Bürgerkriege. Sie hat die europäische Teilung überwunden und ist Garant für wirtschaftliches Wohlergehen und soziale Teilhabe in ganz Europa. Sie ist - ganz gewiss nicht zuletzt - ein politisches Projekt auf der Grundlage gemeinsamer Werte.

Demokratie und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz von Minderheiten sind das gemeinsame Fundament. Das sind keine abstrakten, philosophischen Merksätze, sondern rechtlich verbindliche Normen, denen unser aller Handeln verpflichtet ist. Nur weil uns diese Werte verpflichten, können sie auch ihre Anziehungs- und Strahlkraft gegenüber anderen Gesellschaften und Regionen entfalten.

Die Abschaffung der Todesstrafe, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Schutz der religiösen Überzeugungen - individuell und in Gemeinschaft - waren auch in manchen heutigen Mitgliedsstaaten keineswegs überall und von Anfang an gegeben. Die Türkei hat sich ganz bewusst für den europäischen Weg entschieden. Deutschland wird die Türkei dabei auch weiterhin nach allen Kräften unterstützen.

Vergessen wir aber neben der normativen nicht die kulturelle Dimension unserer Grundwerte. Der Wahlspruch der Europäischen Union lautet: "In Vielfalt geeint". Das ist das Gegenteil von kulturellem Imperialismus. Die Einheit in der kulturellen Vielfalt ist eine historische Leistung.

Noch im 19. Jahrhundert haben sich die Menschen eher als Hannoveraner oder Mecklenburger, als Lombarde oder Neapolitaner verstanden denn als Deutscher oder auch als Italiener. Im Laufe der Zeit ist dann eine Art doppelte Identität als Bürger einer Stadt oder einer Region und zugleich einer Nation entstanden. Wir erleben heute einen ganz ähnlichen Prozess: Die kulturelle Identität der Menschen erweitert sich um eine europäische Dimension. Die Türkei ist Teil dieser Entwicklung.

Der Bericht von Martti Ahtissari, Kurt Biedenkopf und Mitgliedern der Unabhängigen Türkei-Kommission hat dies überzeugend und eindrucksvoll dargestellt. Er hat auch gezeigt: Die europäische Dimension ist keine Bedrohung unserer nationalen Identität - weder für die Türkei noch für die gegenwärtigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Meine Damen und Herren, unsere kulturelle Identität gebietet den Respekt vor unserer Geschichte und sie schafft Vertrauen in unsere gemeinsame Zukunft. Verantwortung vor und aus der eigenen Geschichte bedeutet auch eine kritische Auseinandersetzung mit eben dieser Geschichte. Viel zu lange wurde die europäische Geschichte durch die Kämpfe der europäischen Völker gegeneinander geprägt. Schlachtfelder und Friedhöfe künden in ganz Europa davon.

Die europäische Einigung ist eine Lehre aus dieser Geschichte. Sie wurde auch möglich durch eine Geschichtsschreibung, die sich offen und selbstkritisch mit dem eigenen Bild auseinander setzt. Das ist mit großen gesellschaftlichen, persönlichen und politischen Herausforderungen verbunden. Gerade wir Deutschen wissen das aus unserer Geschichte sehr gut.

Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich den von Ministerpräsident Erdogan eingeschlagenen Weg der Normalisierung der Beziehungen mit Armenien. Wir alle können erwarten, dass die andere Seite auf diese positive Initiative eingeht.

Die europäische Hymne von Beethoven habe ich eingangs bereits als Beispiel für den Dialog und die gegenseitige Durchdringung der Kulturen genannt. Die Bewahrung des römisches Rechts durch muslimische Gelehrte und die enge Verbindung des heutigen türkischen Rechts mit Deutschland, der Schweiz und auch Italien sind weitere Beispiele.

Ohne die Türkei, die im Mittelalter die spanischen Juden aufgenommen hat, ohne die besonderen Verdienste, die sich die Türkei bei der Aufnahme deutscher Flüchtlinge während der Nazi-Zeit erworben hat, wäre ein wichtiger Teil europäischer Traditionen für immer verloren. Gerade als Sozialdemokrat möchte ich hier in Istanbul stellvertretend für viele Ernst Reuter hervorheben, der hier Zuflucht gefunden hat.

Schließlich: Das Miteinander unserer Bürgerinnen und Bürger zeigt sich auch daran, dass viele Türken und Türkinnen in Westeuropa leben. Allein in Deutschland sind es 2,5 Mio. Bürgerinnen und Bürger türkischer Herkunft. Ich weiß, dass sie heute mit ihren Familien und Freunden, muslimischen und auch immer häufiger nicht-muslimischen Glaubens, Iftar feiern. Sie haben mich heute eingeladen. Ich bin mir dieser Ehre bewusst. Dieses gemeinsame Feiern scheint mir geradezu beispielhaft für den europäischen Weg zu sein.

Was Europa auszeichnet, das ist eine geistige Entwicklungsgeschichte, die über das mittelalterlich-klerikale Denken hinausführt. Wir verdanken dies insbesondere der Reformation und der Aufklärung. Kern dieser Entwicklung ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Trennung von Religion und Staat einerseits und die Unterscheidung und Akzeptanz der individuellen Religionsfreiheit und der Freiheit zur Entfaltung und Glaubensausübung religiöser Gemeinschaften andererseits.

Meine Damen und Herren, der Weg zu einer modernen europäischen Gesellschaft war und ist nicht immer gradlinig. Er ist auch keine historische Notwendigkeit. Er ist ein Prozess, so wie die europäische Identität ein Prozess des Bewahrens und Erneuerns ist. Ein Prozess, der auch die Rolle des Nationalstaates verändert, denn die Europäische Union des 21. Jahrhunderts ist unsere Antwort auf die Globalisierung der Wirtschaft und auch auf die weltweite Bedrohung durch den Terrorismus. Auch deshalb hat die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union eine Bedeutung weit über den europäischen Kontext hinaus.

Eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union wird Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der arabisch-islamischen Welt haben. Eine Türkei, die eine Synthese herstellt aus den Werten westlicher Demokratien und eines aufgeklärten Islam, kann zu einem bedeutenden Scharnier zwischen Orient und Okzident werden.

Meine Damen und Herren, Istanbul, Madrid und London teilen die schreckliche Erfahrung der Al Quaida-Anschläge. Auch in diesen abscheulichen Attentaten zeigt sich: wir gehören als Europäer zusammen. Wir können den Kampf gegen den Terrorismus nur gewinnen, wenn wir noch enger zusammenarbeiten. Dazu braucht es mehr als internationale Kooperation. Dazu braucht es vor allem ein starkes und handlungsfähiges Europa.

Dies gilt in ganz ähnlicher Weise für die Herausforderungen, vor die uns die globalisierte Wirtschaft stellt. Die Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf europäische Institutionen erlaubt es uns, bessere und erfolgreiche Antworten da zu geben, wo jeder für sich allein sicher scheitern würde.

Meine Damen und Herren, ich denke, dass von diesem gemeinsamen Fest heute ein neuer Impuls ausgeht. Es zeigt: Kultur endet nicht an der Landesgrenze. Geschichte, Traditionen, Religionen, Kunst und Kultur erstrecken sich weit darüber hinaus. Aus der Kenntnis der Vielfalt der Kulturen, der Sprachen und Religionen unserer Partner und Nachbarn erwachsen Wertschätzung, Respekt und Toleranz.

Meine Damen und Herren, wir haben in der vergangenen Woche ein neues Kapitel in unseren Beziehungen aufgeschlagen. Wenn wir dieses Kapitel schließen, wird es nicht mehr heißen die Türkei und die Europäische Union, sondern die Türkei in der Europäischen Union. Bis dahin ist es noch ein weiter und mühsamer Weg. Doch diese Mühe lohnt, weil sie eine gemeinsame Zukunft möglich macht. Und unsere Zukunft kann nur eine gemeinsame sein, mit einer starken Türkei in einer starken Europäischen Union.

Ich danke Ihnen sehr für die Aufmerksamkeit!