Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 12.10.2005

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich des 3. Ordentlichen Gewerkschaftskongresses der IG BCE am 12. Oktober 2005 in Hannover.
Anrede: Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/79/901879/multi.htm


liebe Freundinnen und Freunde!

Das ist nicht ganz einfach für mich. Ich bin euch sehr dankbar für diesen Empfang. Ich werde der nächsten Bundesregierung definitiv nicht angehören, aber euer Empfang hat mir eines deutlich gemacht: Ich möchte gern unter euch bleiben. Ich weiß, wo ich herkomme, und deswegen weiß ich auch, wo ich hingehöre.

Vielen Dank. Aber natürlich bin ich auch gekommen, um dir, lieber Hubertus, zu deiner Wiederwahl an die Spitze dieser großartigen Gewerkschaft zu gratulieren. Das ist schon ein Wahlergebnis - so viel habe ich nie gewollt. Das war auch nicht zu erwarten - so oder so nicht.

Ich denke, dass das Wahlergebnis für dich, lieber Hubertus, für Sie, lieber Vorsitzender, ausdrückt, dass die IG BCE sehr genau weiß, was sie an dir hat, an deiner klaren, verlässlichen und geradlinigen Art, die Interessen deiner Kolleginnen und Kollegen wirksam zu vertreten. Das gilt unter allen Bedingungen: Ich glaube, das ist eine der ganz großen Leistungen eines Gewerkschaftsvorsitzenden. Ich bin sicher, dass du auch in den kommenden Jahren das Vertrauen, das die Freunde dir so übermäßig gegeben haben, rechtfertigen wirst, und zwar unter allen gesellschaftlichen Bedingungen. Ich habe dich als jemanden kennen gelernt, der seine politische Position, seine Grundüberzeugung, seine Wertorientierung an der alten Arbeiterbewegung nie vergessen hat, aber der sehr genau weiß, wie diese unter den Bedingungen, unter denen wir heute zu leben und zu arbeiten haben, umzusetzen ist.

Ich will den Mitgliedern des geschäftsführenden Hauptvorstandes den gleichen Glückwunsch aussprechen; und ich will mich nicht nur bei Hubertus, sondern bei allen für die gelegentlich sehr kritische, aber immer faire Zusammenarbeit bedanken, die ich habe erfahren können - gerade in eurer Gewerkschaft. Ich denke, so schlecht waren die Jahre nicht, dass wir nicht gemeinsam mit einem gewissen Stolz darauf zurückblicken könnten.

Liebe Freunde, Hubertus hat über das Ergebnis der Bundestagswahl geredet und darüber, was das denn bedeutet. Ich finde, dass dieses Ergebnis gezeigt hat - und ich empfinde davor großen Respekt - , dass die Menschen in unserem Land nach langen, schwierigen, kontroversen Diskussionen, ja Demonstrationen letztlich doch bereit sind zu akzeptieren, dass unsere Gesellschaft, unser Land erneuert werden muss, wenn wir Wohlstand und Wohlergehen für die, auf die es euch und mir ankommt, erhalten wollen.

Es ist gezeigt worden, dass wir in diesem Land veränderungsbereit sind, aber bitte ohne den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft aufzugeben. Die Parteien der Extreme sind hoffnungslos in der Minderheit. Die erweiterte und umbenannte PDS der Illusionen und der praktizierten Verantwortungslosigkeit ist ebenso in die Minderheit verwiesen worden wie die Westerwelle-Partei, also die Partei des brutalen Sozialabbaus. Und das ist gut.

Es gilt festzuhalten: Gegen diese extremen Positionen haben fast 80 % der Menschen in Deutschland uns allen und sich selber eine sehr deutliche Botschaft gegeben, nämlich dass sie Veränderungen wollen, weil diese notwendig sind - aber sie wollen sie mit Augenmaß und in sozialer Ausgewogenheit. Sie wollen Reformen, die zugleich die Wachstumskräfte stärken, aber eben auch unser gemeinsames Prinzip der Sozialstaatlichkeit erhalten.

Lasst uns zusammen dafür kämpfen. Wer wäre wichtiger, um solche Prinzipien durchzusetzen, indem man sie den Menschen erklärt - all denen, die ihr jeden Tag in den Betrieben und den Verwaltungen erreichen könnt - als ihr?

Die Menschen in Deutschland haben sich mit anderen Worten für genau jene Politik ausgesprochen - nicht in jedem Detail, ich habe ja auch die Kritik von Hubertus gehört - , die meine Bundesregierung mit der Agenda 2010 eingeleitet hat. Und ich sage euch noch einmal: Über jede Einzelheit können und müssen wir streiten. Sicherlich sind Fehler gemacht worden; ihr habt euch ja auch immer wieder zu Wort gemeldet. Aber ich glaube, dass das Prinzip "Veränderung ja, aber sozialen Zusammenhalt nicht aufgeben" bestätigt worden ist, dass das der Welt zeigt, dass das, ganz falsch ist, was uns gelegentlich nachgesagt worden ist, nämlich dass wir nicht in der Lage seien, etwas zu verändern. Und wisst ihr was? Ich finde es beschämend, wenn die Verbände auf eurer anderen Seite durch die Welt laufen und das Land schlecht reden, schlechter, als es wirklich ist.

Die Menschen haben am 18. September also gesagt: Wir wollen, dass der Reformprozess so fortgesetzt wird, wie er initiiert worden ist, ohne den sozialen Zusammenhalt aufzugeben. Und es gibt Signale aus der anderen Volkspartei, vor allem aus dem bayrischen Teil, dass die das kapiert haben.

Übringes ist noch etwas ganz Grundlegendens dabei herausgekommen, was für die Gewerkschaften nicht ohne Bedeutung ist: Die Menschen wollen nicht - jedenfalls nicht in Deutschland, und ich füge hinzu, auch nicht in Europa - die totale Entstaatlichung. Das sage ich meinem britischen Freund, der ist ja auch noch mit anderen befreundet. Sie wollen nicht die Privatisierung der Lebensrisiken, sondern sie wollen einen Staat, der nicht vor ihrer Nase, aber der an ihrer Seite ist. Einen solchen Staat wollt ihr, wollen wir. Daran werden wir uns auch in der deutschen und europäischen Politik orientieren.

Die Auffassung, dass man auf Staatlichkeit verzichten könnte und dass ein solcher Verzicht positive Folgen hätte, ist in einigen Beispielen gründlich widerlegt worden - nicht zuletzt dort, wo die Entstaatlichung auf die Spitze getrieben worden ist. Ich will keine Beispiele von Katastrophen nennen, bei denen man sehen kann, was passiert, wenn keine organisierte Staatlichkeit vorhanden ist. Ich könnte ja Länder nennen, aber das Amt, das ich noch innehabe, verbietet das - aber jeder weiß, wen ich meine.

Nicht zuletzt ihr wisst, wie wichtig es ist, eine effiziente Wirtschaft zu haben. Aber die Frage, die uns miteinander beschäftigt, ist: Was macht denn Wirtschaft effizient? Ein paar Dinge hat Hubertus genannt. Wir können davon ausgehen, dass effiziente Wirtschaft eigentlich nur möglich ist, wenn die Menschen beteiligt werden, an den Erfolgen des Wirtschaftens, aber auch an den Entscheidungen in der Wirtschaft.

Und da bin ich bei der Mitbestimmung. Ich gehöre zu denjenigen, die immer gesagt haben - übrigens die ganze Zeit über: Die Mitbestimmung in Deutschland hat uns nicht schwach, sondern stark gemacht.

Ich will euch sagen, warum das so ist. Wenn die Gesellschaft und die Wirtschaft der Zukunft mehr und mehr auf dem Wissen von Menschen beruhen, auf deren Fähigkeit, mit diesem Wissen umzugehen, daraus Produkte zu entwickeln, dann kann man sich nicht vorstellen, dass man den Menschen, die man dazu braucht, die ja immer besser ausgebildet und immer höher qualifiziert sein müssen, zumuten kann, zu funktionieren wie Maschinen. Nein, man muss sie in den Betrieben und oberhalb der Betriebe in den Unternehmen beteiligen. Das macht die Mitbestimmung. Über die Formen, wie wir das europäisch organisieren, kann man ja reden. Hubertus hat angeregt, dass darüber geredet wird; ich hoffe, die neue Regierung wird das fortsetzen. Aber das Prinzip, dass die Menschen teilhaben - nicht nur durch das Haben, sondern auch am Sagen - , dürfen wir miteinander nicht aufgeben. Dieses Prinzip ist nicht nur gerecht, es ist in einem höheren Sinne auch vernünftig. Das ist der Kern dessen, worum es bei der Mitbestimmung geht.

Liebe Freundinnen und Freunde, man muss sich einmal anschauen, was in den Betrieben an Flexibilität wirklich geleistet wird und wer dafür gerade steht, dass die notwendige Flexibilität gewährleistet wird. Mehr als in irgendeinem anderen Land existieren in Deutschland die flexibelsten Arbeitszeiten, die flexibelsten Möglichkeiten zu produzieren. Das ist nicht zuletzt eurer Tarifpolitik geschuldet. Das sollte man endlich einmal zur Kenntnis nehmen und aussprechen. Darum haben wir ja auch in der Vorbereitung zu den Koalitionsgesprächen dafür gesorgt, dass das klargestellt wird. Die Tarifautonomie in Deutschland hat dafür gesorgt, dass dieses Maß an Flexibilität gewährleistet ist. All denen, die in der angelsächsischen Presse versuchen, das zu bekämpfen, sage ich: Schaut euch doch einmal die Verhältnisse an, die sind doch weit besser als bei euch.

Wenn in Gesprächen zwischen der neuen Regierung und den Tarifparteien etwas neu zu regeln wäre - wir haben ja das Prinzip festgehalten - , dann geht das nur im Rahmen der Tarifautonomie, sonst passiert gar nichts. Und darauf könnt ihr euch auch verlassen.

Wenn etwas geregelt werden muss, dann empfehle ich allen, die Tarifverträge der IG BCE zu nehmen und diese zur Richtlinie der Gespräche zu machen.

Ich sage euch auch, liebe Freundinnen und Freunde, warum das so ist. In diesen Tarifverträgen steht, dass nicht nur dann gehandelt wird, wenn der Laden am Ende ist, sondern dass gehandelt werden kann, damit es gar nicht erst zum Ende kommt. Das ist der fundamentale Unterschied, der in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig wahrgenommen wird, über den natürlich auch nicht geschrieben wird. Aber ich würde allen, die in den Wirtschaftsteilen über Tarifautonomie und über Bündnisse für Arbeit schreiben, raten, sich genau diese Tarifverträge einmal anzuschauen. Sie sind zukunftsgerecht und fortschrittlich, und zwar weil man, wenn man in Schwierigkeiten ist, handeln kann, bevor die Schwierigkeiten überhand genommen haben. Ich kann denen, die dafür verantwortlich sind, nur raten, sich bei dem, worum es zukünftig geht, an dieser Leitlinie zu orientieren. Ich jedenfalls - ich werde ja an den Koalitionsgesprächen beteiligt sein - werde mich an dieser Richtlinie orientieren.

Dritter Punkt: Wir haben deutlich gemacht, dass die Steuerfreiheit für die Zuschläge bei Nachtarbeit, Feiertagsarbeit, Sonntagsarbeit nicht abgeschafft wird.

Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir das auch nach außen ganz selbstbewusst vertreten müssen. Es wird ja eine Debatte darüber geben, dass das wieder einer der Kompromisse sei, die man hätte machen müssen, und dass das eigentlich steuersystematisch völlig falsch sei. Ja, steuersystematisch ist vieles falsch, z. B. auch, dass es noch viel zu viele gibt, die ihr Geld ins Ausland schaffen, anstatt es in Deutschland zu versteuern - das ist steuersystematisch auch nicht in Ordnung.

Aber worum geht es denn dabei? Kluge Leute aus der IG BCE haben Folgendes ausgerechnet: Jemand, der bei der BASF in Ludwigshafen als Chemiefacharbeiter durchschnittlich verdient, würde bei der Abschaffung dieser Steuervorteile bis zu 17 % und etwas mehr seines Einkommens verlieren - das ist richtig Geld. Das sind monatlich weit mehr als 300 Euro, exakt 324 Euro. Jetzt haben die anderen gesagt: Das kann er sich ja von den Arbeitgebern wiederholen. Das haben ja auch diese Wissenschaftler gesagt, auch der aus Heidelberg.

Das hat nicht nur er gesagt, sondern das ist auch von bestimmten Kräften, mit denen wir jetzt zusammenzuarbeiten haben, unterstützt worden. Das kann man ja auch nicht bestreiten. Diese muss man doch jetzt fragen: Wie stellt ihr euch das eigentlich vor? Auf der einen Seite seid ihr die extremen Vertreter einer äußerst moderaten Lohnpolitik - am besten unterhalb des Inflationsausgleichs. Gleichzeitig sagen sie aber zu euch: Holt euch doch wieder, was euch der Staat wegnimmt. Wie soll das gehen? Gerade in den mittelständischen Unternehmen würde doch der Versuch einer Gewerkschaft - selbst wenn er nur in Stufen gelänge, sehr schnell 17,5 % wiederzuholen - viele Unternehmen in extreme Schwierigkeiten bringen. Das kann man doch nicht ernsthaft bestreiten.

Deswegen sage ich: Das, was die vorgeschlagen haben, war nicht nur ungerecht, sondern auch ökonomisch total unvernünftig. Ich bitte wirklich um eines: Nicht der Mär nachzulaufen, dass die anderen am meisten von Ökonomie verständen, das stimmt nicht. Ihr habt die Einsicht in die Zusammenhänge, ihr wisst darüber Bescheid.

Die neue Regierung soll und muss Erfolg haben. Und ich will sie wirklich mit allen Kräften unterstützen, die ich habe, und das ist nicht als Drohung gemeint, sondern das meine ich ernst. Sie soll bei dem Versuch Erfolg haben, die Modernisierung von Staat und Gesellschaft mit sozialer Sicherheit zu vereinbaren. Ihr müsst auf der richtigen Seite mithelfen, dass das gelingt. Und die richtige Seite, das ist ja klar, ist unsere. Das ist überhaupt nicht zweifelhaft.

Lasst mich ein Wort sagen zu einer Frage, die hier besonders interessiert. Ich glaube, dass wir eine Chance haben - und ich hoffe, dass wichtige Landesregierungen diese nicht konterkarieren - , eine vernünftige Energiepolitik weiterzuführen. Was heißt denn vernünftige Energiepolitik? Ich bin nach wie vor dagegen, dass wir eine Rolle rückwärts in die Kernenergie machen. Ich bin wirklich dagegen. Ich habe den Vertrag mit der Industrie nicht ohne Grund gemacht. Nach längeren Zeiträumen - vielleicht werden es insbesondere unsere Kinder wertschätzen - wird sich erweisen, dass dieser Punkt richtig war. Jenseits dessen glaube ich, dass Deutschland eine große Chance hat, darauf zu setzen, dass es ein festes gesellschaftliches Bündnis braucht bezüglich der Verwendung herkömmlicher Primärenergieträger. Ich rede dabei bewusst von Steinkohle und Braunkohle.

Wir müssen durchsetzen - ich kann das übrigens nicht nur meiner Partei, sondern auch der anderen großen Volkspartei nur empfehlen - , dass das, was wir in diese Richtung in Gang gesetzt haben, auch eingehalten wird. Weil das auch in sich vernünftig ist, diesen Mix von Stein- und Braunkohle sowie Gas auf der einen Seite und von erneuerbaren Energien auf der anderen Seite zu machen. Das wird sich als ein richtiger Weg erweisen.

Ich habe gegenüber erneuerbaren Energien, gegenüber Sonne und Wind, die gleiche Skepsis gehabt wie ihr auch. Aber ich habe mich bei der Durchdringung dieser Probleme - Details kann man immer ändern, aber Prinzipien soll man nicht ändern - überzeugen lassen, dass dieser Weg der richtige Weg in die Zukunft ist. Auch da habe ich die Bitte, dass ihr diesen unterstützt. Ich bitte übrigens auch darum, dass ihr, wenn euch das möglich ist, den Weg unterstützt, den mein Freund Werner Müller gewählt hat. Ich glaube, dass er den richtigen Weg beschreitet, wenn er sagt: Lasst uns aus der RAG ein modernes Unternehmen machen, das am Markt wirklich Erfolg haben kann, lasst es uns aus den Bindungen herauslösen. Vielleicht könnt ihr mithelfen, dass daraus ein großer Player in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus wird, der sich am Kapitalmarkt die notwendigen finanziellen Mittel besorgen kann. Ich jedenfalls habe das immer für richtig gehalten und halte das weiter für richtig. Ich hoffe, dass ihr in der Lage seid, mitzuhelfen.

Der nächste Punkt ist: Was haben wir eigentlich über die wirtschaftlichen Dinge hinaus, über die Frage "sozialer Zusammenhalt Ja oder Nein" hinaus festzuhalten, bei dem, was jetzt auf uns zukommt? Ich glaube, es sind zwei Dinge. Wir brauchen eine wichtige und richtige europäische Politik. Wir dürfen keine Angst vor der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten haben. Dadurch ist Europa zusammengekommen. Ich weiß doch um die Schwierigkeiten. Wir werden das lösen. Wir werden die Dienstleistungsrichtlinie so einlösen. Ich denke jedenfalls, dass das auch die neue Regierung machen wird, dass bezüglich der Frage, zu welchen Bedingungen in Deutschland jemand Dienstleistungen anbieten kann, völlig klar ist, dass das zu unseren Lohnbedingungen, zu unseren Arbeitsschutzbedingungen und zu unseren ökologischen Bedingungen geschehen muss und nicht zu anderen. Das ist doch selbstverständlich, liebe Freunde.

Darum werden wir miteinander zu kämpfen haben. Das ist doch völlig klar. Dieser Kampf wird auch schwierig sein, denn andere wollen etwas anderes. Das angelsächsische Modell wird in Europa keine Chance haben, davon bin ich fest überzeugt - und zwar jenseits der Parteigrenzen.

In diesem Zusammenhang ist das deutsch-französische Verhältnis - egal, wer in Frankreich regiert - zentral für die Verteidigung des europäischen Sozialmodells. Das ist nicht nur eine Sache, die die Politik im außen- oder sicherheitspolitischen Bereich betrifft. Nein, die Franzosen haben ein eigenes Verhältnis dazu, was Sozialstaat für sie bedeutet. Das gilt für die Linke wie für die Rechte gleichermaßen. Deswegen heißt es: Wer das europäische Sozialmodell verteidigen will, der muss darauf achten, dass das deutsch-französische Verhältnis intakt bleibt, dass es gut ist und immer besser wird. Das ist einer der Punkte, auf die ich Wert legen will und werde.

Jenseits dessen müssen wir dafür sorgen - anders, als andere das wollen - , dass Europa eben nicht nur ein Markt wird, sondern auch ein Ort, wo sozialer und kultureller Zusammenhalt deutlich wird. Das unterscheidet uns doch von anderen Weltgegenden. Das müssen wir doch miteinander festhalten. Das wird die Aufgabe derer sein, die auf eurer wie auf der politischen Seite Zukunft gestalten wollen. Das ist eine Aufgabe für unsere Kinder und für deren Kinder.

Dann muss eines ganz klar sein: Diese Europäische Union hat eines geleistet und muss eines für alle Zeiten weiterhin leisten, dass das, was wir im letzten Jahrhundert erlebt haben, nämlich blutige Kriege unter den Europäern, nie wieder passiert, liebe Freundinnen und Freunde. Das ist die Bestimmung von Europa.

Es ist die Bestimmung der Europäischen Union, dafür zu sorgen, dass dieses alte gute Europa ein Ort dauerhaften Friedens und damit dauerhaften Wohlergehens aller Menschen ist, dass es jedenfalls die Chance dazu birgt. Damit hängt zusammen, dass wir miteinander dafür sorgen, dass das erhalten bleibt, was wir in den letzten sieben Jahren haben erreichen können, nämlich dass Deutschland ein geachteter Partner in der Welt ist. Wir treten massiv dafür ein: Der Ort, an dem internationale Entscheidungen getroffen werden, ist nicht eine einzelne Hauptstadt, egal, wo sie liegt, sondern sind die Vereinten Nationen. Wir haben zweitens klargemacht, dass wir nie werden ausschließen können, dass es zur Lösung schwierigster Konflikte - gegen Terrorismus, gegen Menschen, die die Menschenrechte zertrampeln - auch notwendig ist, materielle Gewalt anzuwenden. Aber eines muss immer klar sein: Das ist wirklich die letzte denkbare Lösung. Das hat uns bestimmt, als wir "Ja" dazu gesagt haben mitzuhelfen, die Terroristen in Afghanistan zu bekämpfen. Das hat uns aber auch bestimmt - und das muss bleiben, auch in diesen Koalitionsverhandlungen - als wir gesagt haben: Nein, wir wollen keine deutschen Soldaten im Irak sehen.

Das, was wir jetzt vor uns haben, mag dem einen oder anderen nicht gefallen. Ich betrachte es als die Aufgabe meiner Partei, dafür zu sorgen, dass diese Koalition Erfolg hat, dass sie den Weg der Erneuerung, den wir eingeschlagen haben, ohne sozialen Zusammenhalt aufzugeben, entschieden weitergeht. Und dass sie das gewonnene Ansehen in der Welt, was die friedliche Lösung von Konflikten und Deutschlands eigenständige, nicht abgeleitete Rolle angeht, bewahrt und fortführt und wo immer möglich entwickelt. Und dass sie zudem das, was wir bei allen Veränderungsnotwendigkeiten an sozialer Sensibilität bewahrt haben, im Auge behält. Im Übrigen erwarte ich von meiner Partei auch, dass sie gegenüber anderen klarmacht, dass das Erbe der Regierung im ökologischen Bereich bei den Sozialdemokraten am besten aufgehoben ist und zwar in einer Weise, dass ökonomische Effizienz, Wachstum der Wirtschaft und vernünftiger Umweltschutz sich eben doch nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen.

Das sind, glaube ich, die Punkte, auf die es in der nächsten Zeit ankommt. Ich bin sicher, liebe Freundinnen und Freunde, dass besonders eure Gewerkschaft mithelfen wird: Auf euch, die ihr in diesen Fragen immer besser ward als andere, kommt es in besonderer Weise an, auf euren Vorsitzenden, auf euren Hauptvorstand zumal.

Der Vorsitzende hat gesagt, ich könnte zwei Stunden hier bleiben. Das geht nicht, ich muss jetzt weiter, ich muss in die Türkei. Das ist nicht ganz unwichtig, dort vollzieht sich gegenwärtig etwas, das für Europa, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten, von ungeheuer Bedeutung ist. Es vollzieht sich nämlich der Versuch, einen nicht-fundamentalistischen Islam zusammenzubringen mit den Werten westlicher Aufklärung, mit unseren Werten. Wenn das in den nächsten, wahrscheinlich langen Jahren gelingt, dann ist das ein so enormer Sicherheitszuwachs für Europa und damit für Deutschland, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. In einer Region, die ja nun - zurückhaltend formuliert - wahrlich von Schwierigkeiten gekennzeichnet ist, wäre ein solcher gelungener Versuch von einer ungeheuren Bedeutung für die Sicherheit und die Friedensmöglichkeiten gerade unseres Kontinentes - damit nicht nur für unsere Lebensbedingungen, sondern auch für die unserer Kinder.

Ich bitte also um Verständnis dafür, dass ich aufbrechen muss. Ich möchte aber noch sagen: Euer freundlicher Empfang hat mich schon sehr berührt. Ich hoffe, wir können es so einrichten, dass wir zusammenbleiben. In diesem Sinne, herzlichen Dank!