Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 20.03.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/67/29267/multi.htm


Nach einer Wachstums- und Blütezeit in den 70er Jahren ist die Kulturpolitik in den 80er und 90er Jahren in die Defensive geraten. Zum Teil sind dafür fiskalische Gründe ausschlaggebend. Immerhin werden die wichtigsten kulturpolitischen Entscheidungen - entgegen der Rede von der Länderhoheit über Kultur - in den Kommunen getroffen. 60 Prozent der Steuermittel zur Förderung von Kunst und Kultur werden von den Kommunen ausgegeben. Gerade dort konkurriert jedoch die Kulturpolitik als eine überwiegend freiwillige kommunale Aufgabe mit anderen Politikfeldern der Städte und Gemeinden. In der unmittelbaren Konkurrenz sozialer oder wirtschaftlicher Ziele auf der einen und kultureller Ziele auf der anderen Seite, gelten letztere oft nur von zweiter Priorität.

Für die über viele Jahre andauernde Defensive der Kulturpolitik können aber nicht nur fiskalische Gründe geltend gemacht werden. Noch wesentlicher, wenn auch verborgener, sind inhaltliche Defizite, die im Projekt einer primär sozial motivierten neuen Kulturpolitik angelegt waren. Diese neue Kulturpolitik war allerdings über die Maßen erfolgreich. Sie hat die kulturelle Partizipation in einem Ausmaß gesteigert, wie es ihre eigenen Protagonisten wohl selbst kaum für möglich gehalten haben.

Dies lässt sich an der Anzahl der Museumsbesuche, der Teilhabe an Maßnahmen der Erwachsenenbildung, der Vielzahl der Kulturevents etc. ablesen. Die kulturelle Leitidee dieser neuen Kulturpolitik war sozial. Es sollte auch ein Beitrag zum sozialen Frieden und zur sozialen Integration von Minderheiten und Benachteiligten geleistet werden. Im Laufe der 80er Jahre wurde diese soziale Legitimationsbasis zunehmend von einer wirtschaftlichen abgelöst. Nun wurden die Standortvorteile kultureller Investitionen und Aktivitäten hervorgehoben. Jetzt geht es darum, eine neue Phase der Kulturpolitik einzuleiten, die sich an der kulturellen Prägung der Lebenswelt orientiert und dementsprechend die kulturelle Praxis, die Kunst und die ästhetische Erfahrung in ihrem Eigenwert anerkennt.

Ein Ende der kulturpolitischen Defensive verlangt beides: Neue Handlungsspielräume und ihre Wahrnehmung einerseits und eine inhaltliche Neubestimmung ihrer Legitimation andererseits. Kulturpolitik gestaltet. Das gilt auch für eine Kulturpolitik, die sich lediglich als Ermöglicherin versteht. Ehrlicher und zielführender ist es, diesen Gestaltungsanspruch zusammen mit seinen inhaltlichen Bestimmungsgründen offenzulegen. Eine inhaltliche Bestimmung, die sich nicht von rasch wechselnden Moden und Stimmungen der öffentlichen Meinung sondern von Gründen leiten lässt, ist wertorientiert. Eine Kulturpolitik, die Gründe anführt, muss von ihrer Intention her den partikularen Standpunkt verlassen. Strategische Interessen ( seien sie parteipolitisch oder persönlich motiviert ) , sind für sich genommen ungeeignet, um gute Gründe zu bestimmen. Wer genuine Gründe benennt, legt sich auf Werturteile fest und vertritt diese gegenüber kritischen Einwänden. Diese Einwände werden nicht dadurch richtig, dass sie Mehrheiten gewinnen, und sie werden nicht dadurch falsch, dass sie sich in der politischen Meinungsbildung nicht behaupten. Die Demokratie bietet ein Verfahren der Entscheidungsfindung im Rahmen der Verfassung, der Gesetze und der Institutionen an, das bei Meinungsverschiedenheiten Handeln erlaubt und den zivilen Frieden bewahrt. Abstimmungen entscheiden jedoch keine Wahrheitsfragen.

Eine wertorientierte Kulturpolitik steht im Spannungsverhältnis von objektivem Begründungsanspruch einerseits und pragmatischer Entscheidungsfindung unter den Bedingungen einer kommunalen Demokratie andererseits. Ohne den begleitenden öffentlichen kulturpolitischen Diskurs, ohne eine informierte und um begründete Urteile bemühte Kulturjournalistik und ohne die Bereitschaft der zuständigen Politikerinnen und Politiker, in den Gremien, Räten und Parlamenten, sich auf das Sachargument auch dann einzulassen, wenn es den persönlichen oder Parteiinteressen zuwiderläuft, würde dieses Spannungsverhältnis unerträglich werden. Ohne das Ethos der Begründung und des Respekts zerbricht das normative Fundament einer demokratischen und zivilen Kulturgesellschaft.

Unsere je individuellen Lebensformen sind kulturell verfasst. Sie bringen Wertorientierungen und Überzeugungen zum Ausdruck. Eine gelebte Lebensform repräsentiert das, was der Person wertvoll erscheint. Die Stadtgesellschaft beruht auf einem Netz der Kooperation. Die Kommunalpolitik schafft die Strukturen, innerhalb derer Kooperationen ermöglicht und stabilisiert werden. Diese müssen vereinbar sein mit einer Vielfalt unterschiedlicher Wertorientierungen und den sie repräsentierenden Lebensformen. Von daher ergibt sich die Aufgabenstellung einer kulturverträglichen Stadtentwicklung.

Die vier wesentlichsten Wertorientierungen ergeben sich aus der Forderung nach Umweltverträglichkeit, Kulturverträglichkeit, Sozialverträglichkeit und Wirtschaftsverträglichkeit. Diese vier Kategorien stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, wobei die Reihenfolge der Nennung ein konzentrisches Verhältnis markiert: Die Kulturentwicklung muss umweltverträglich sein, die Sozialentwicklung muss kulturverträglich sein und die Wirtschaftsentwicklung muss sozialverträglich sein. Von daher ist es ein fundamentaler und folgenreicher Irrtum, anzunehmen, dass sich das Kulturelle erst sozial oder wirtschaftlich zu legitimieren hat. Die kulturelle Verfasstheit der Stadtgesellschaft bietet den Rahmen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung.

In diesem umfassenderen Verständnis von Kulturpolitik kann das Ressort "Kultur" einer Stadt nur ein begrenztes Aufgabenfeld wahrnehmen. Kulturpolitik ist in diesem Verständnis eine genuine Querschnittsaufgabe, die alle Ressorts mit ihren jeweiligen Handlungsmöglichkeiten betrifft. Das Aufgabenfeld des Kulturressorts selbst gliedert sich in drei Bereiche:

1. Kulturelle Infrastruktur,

2. Kulturelle Bildung,

3. Kunst.

Eine Stadt lebt von Orten der Begegnung, Orten der ästhetischen Erfahrung und der kulturellen Verständigung. Ein Teil dieser Orte entsteht ohne kulturpolitische Intervention. Andere bedürfen der Moderation oder auch der dauerhaften finanziellen Förderung. Die kulturelle Verfasstheit einer Stadt oder eines Viertels ist ein öffentliches Gut.

Grundsätzlich ist ihre Förderung aus Steuergeldern daher legitim. Überall dort jedoch, wo Orte der Begegnung durch den eigenen Antrieb der einzelnen Bürgerinnen und Bürger entstehen und bewahrt werden, kann sich die Stadt heraushalten. Erst dann, wenn der Markt individueller und differrierender Interessen mit den Ansprüchen an die kulturelle Verfasstheit der Stadt kollidiert, ist kulturpolitisches Handeln gefragt. In einer möglichst engen Bezugnahme auf die je artikulierten Interessen der Bürgerinnen und Bürger sorgt die kommunale Kulturpolitik für eine kulturverträgliche Stadtentwicklung. In München liegt der Akzent dabei auf den kleinen kulturellen Zentren, die vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger vor Ort getragen sind.

Die städtischen Maßnahmen sind subsidiär: Sie schließen an schon vorhandene kulturelle Aktivitäten der Bürgerschaft an und unterstützen diese, sie ersetzen diese nicht. Für die Zukunft wird dabei das Konzept eines, die kulturellen Aktivitäten des Stadtviertels bündelnden Bürgerhauses nur in seltenen Ausnahmefällen angestrebt. Die Investitionen für kulturelle Einrichtungen dieser Art und die Folgelasten sind sehr groß und sie stehen oft in Konkurrenz zu einer dezentralen Entwicklung der kulturellen Infrastruktur.

Stattdessen haben die Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt, dass eine Teilprofessionalisierung auch aufgrund veränderten Bürgerverhaltens auch bei kleineren kulturellen Einrichtungen unverzichtbar ist. Diese Teilprofessionalisierung soll das bürgerschaftliche kulturelle Engagement stabilisieren. Neue Impulse ergeben sich für die kulturellen Zentren in den Stadtvierteln aus einer stärkeren Einbeziehung zeitgenössischer Kunst. Die Reintegration zeitgenössischer Kunst in die kulturelle Lebenswelt der Bürgerschaft hat dort einen Ort.

Die kulturelle Bildung nimmt ihren Ausgang bei der Vielfalt von Lebensformen und den durch sie repräsentierten Wertorientierungen. Sie ist auf kulturelle Verständigung ausgerichtet, die ohne einen Grundbestand gemeinsamer Erfahrungen, Werte und Überzeugungen nicht möglich ist. Kulturelle Differenzen und Konflikte sind Essenz einer urbanen Kultur. Damit diese jedoch nicht zur Ausgrenzung und Marginalisierung, schließlich zum Zerfall der Stadtgemeinschaft führen, müssen sie in einen normativen Grundkonsens der Anerkennung, der Anteilnahme und des Respekts eingebettet bleiben. Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, die Kenntnis der Geschichte des eigenen Landes und der eigenen Stadt, die Offenheit für fremde Sprachen und ihre Erfahrungshorizonte, die Auseinandersetzung mit den Künsten und die eigene ästhetische Praxis spielen dabei eine wesentliche Rolle.

Die urbane Lebenswelt ist durch die Erfahrung alltäglicher Kommunikation und Kooperation geprägt. Die Kunst agiert an den Grenzen dieser Lebenswelt. Sie erlaubt Verständigung auch dort, wo die Alltagssprache versagt und erschließt Erfahrungen, die nur über das Medium der Kunst zugänglich sind. Die Kunst ermöglicht eine bestimmte Form der Transzendenz - die Überschreitung des begrenzten Horizontes unserer Lebenswelt.

Während dies für die Kunst aller Zeiten Gültigkeit hat, ist es ein Spezifikum der Kunst des 20. Jahrhunderts, dass sie sich weitgehend aus der Lebenswelt zurückgezogen hat. Sie hat eigene Orte besetzt wie die des Museums, der Galerie, des Konzertsaals, des Opernhauses, des Theaters etc. , die sich aus dem lebensweltlichen Kontext ablösen und Distanz schaffen. Die Autonomie der Kunst, der Rückzug in die "Artworld" ist in den vergangenen Dekaden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Marginalisierung der Kunst in der Lebenswelt einhergegangen. Die Phase der neuen Kulturpolitik in den 70er Jahren hat es erfolgreich unternommen, die entstandenen Institutionen der "Artworld" für ein breiteres Publikum zu öffnen.

Jetzt geht es um den zweiten Schritt: Die Marginalisierung der Kunst in der Lebenswelt rückgängig zu machen, d. h. die zeitgenössische Kunstentwicklung in die urbane Lebenswelt zu integrieren. Der Phase der Öffnung der Institutionen muss eine Phase des Eingangs der Kunst in die Lebenswelt folgen. Hier setzt die Initiative zur Kunst im öffentlichen Raum an. Wohl wissend, dass es die zeitgenössische Kunst außerhalb des Schutzraums der "Artworld" schwer hat, sich gegen die Konkurrenz des Kommerzes und der mobilen Unruhe zu behaupten. Kunst als Teil der urbanen Lebenswelt kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass das Wesentliche der Stadt, ihre urbane Öffentlichkeit, gewahrt bleibt.

Kunst in der Lebenswelt ist keine Konkurrenz zur Kunst in der "Artworld". Der Schutz, die Konzentration und die Distanz, den die "Artworld" bietet, bleibt unverzichtbar. Die Förderung und der Ausbau der Kunstinstitute wie die der Kammerspiele, der Philharmoniker oder der Lenbachgalerie bleiben daher ein Schwerpunkt der kulturpolitischen Aktivitäten.

In der kommunalen Kulturpolitik gilt es, drei Balancen zu wahren:

1. Zwischen Repertoire und Innovation,

2. zwischen Sinnlichkeit und Reflexion und

3. zwischen Lebenswelt und "Artworld".

Die Kulturgeschichte zeigt, dass die Rezeption in vergangenen Jahrhunderten überwiegend auf zeitnahe Kunst gerichtet war. Erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts regrediert die Rezeption gegenüber der Produktion. Das Repertoire dominiert gegenüber der Innovation. Die Wahrnehmung der Künste verlagert ihren Schwerpunkt zu den "Klassikern" in Literatur, Musik und Bildender Kunst. Der Kunstmarkt spiegelt diese Reggression getreulich wider.

Aufgrund dieser Besonderheit der Kulturentwicklung muss ein Schwerpunkt der kommunalen Kulturpolitik darauf gelegt werden, der Innovation auch dort Raum zu geben, wo sie sich auf dem Markt der Interessen nicht behaupten kann. Dies heißt Künstlerförderung in unterschiedlichen Formen ( vom Stipendium, der Ausstellung, dem Ankauf bis zu den Festivals zeitgenössischen Tanzes, Theaters und Musiktheaters ) oder der Realisierung von Projekten zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum der Stadt.

Aber auch die großen Kunstinstitute sind gehalten, ihr Privileg überwiegend mit Steuermitteln finanziert zu sein, zu nutzen, um der zeitgenössischen Kunst Raum zu geben. Die Kulturentwicklung alleine dem Markt überlassen, hieße, der Reggression einerseits und der Banalisierung andererseits das Feld zu überlassen. Das Unbequeme zu fördern, ist notwendig, um die Kunstentwicklung nicht abreißen zu lassen. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass überkommene Unterscheidungen zwischen Hochkultur und Breitenkultur in die Irre führen. Die Klassikinterpretationen internationaler Spitzenorchester haben ihren Markt und ihre Bewunderer in weiten Teilen der Bevölkerung. Video-Clips der Techno-Musik sind oft von hoher künstlerischer Qualität. Die ästhetische Sensibilität jüngerer, durch Pop, Rock, Hip-Hop, Techno etc. geprägter Bevölkerungsgruppen ist beachtlich und es wäre wünschenswert, wenn diese Sensibilität in höherem Maße als dies bisher geschieht, für den etablierten Kunstbetrieb genutzt würde: Offenheit gegenüber den besonderen ästhetischen Erfahrungen der jüngeren Generationen.

Zur Innovation gehört das künstlerische Potential von Frauen. Überall dort, wo kulturelle Differenzen wahrgenommen werden, bildet sich ein besonderes Ferment künstlerischer Sensibilität. Dies gilt für die griechische Klassik ebenso wie für das 20. Jahrhundert. Erst im 20. Jahrhundert aber sind die kulturellen Differenzen der Geschlechter für die Kunst fruchtbar geworden. Das künstlerische Potential von Frauen zu fördern, kommt daher der Kunstentwicklung insgesamt zugute. Es gehört zu den zentralen Aufgaben der kulturellen Bildung, die Sprachen der Kunst zu vermitteln und dabei ein besonderes Augenmerk auf ihre zeitgenössische Fortentwicklung zu legen. Viele Menschen haben das Bedürfnis, an den Grenzen ihrer Lebenswelt Zugang zu der besonderen ästhetischen Erfahrung der Kunst zu gewinnen. Der zeitgenössischen Kunst ist dabei ein besonderes Augenmerk zu geben.

Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Reflexion ist ein anderes, je nach Epoche und Kulturregion: Katholisch geprägte Kulturregionen sind sinnlicher, protestantische reflektiver. In der zeitgenössischen Kunst ist der Diskurs zunehmend integraler Bestandteil geworden. Manche befürchten eine Auflösung objekthafter Kunst in bloße Reflexion. Das reflektive Moment tritt gegenüber dem sinnlichen schon im Eigenbild der Stadt München in den Hintergrund - im Fremdbild ist dieses Phänomen noch ausgeprägter. Damit besteht die Gefahr einer nicht-diskursiven Kulturpolitik, eines Desinteresses am begründenden Argument und dem engagierten Gedankenaustausch.

Der Zugang zu einem weiten Spektrum zeitgenössischer, auf Kommunikation, Diskurs und Reflektion angelegte Kunst ist erschwert. Auch hier gilt es, eine Balance herzustellen, und das heißt für München, dem öffentlichen Diskus und der reflektiven Auseinandersetzung mit Kunst einen größeren Stellenwert im kulturellen Leben der Stadt zu geben. Ein verstärkter Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst, die Einbeziehung wissenschaftlicher Analytik in den kulturellen Prozess, dient dieser Balance.

Die Wissenschaft ist eben nicht nur die letzte Phase eines Bildungsweges oder die Grundlage beachtlicher Forschungsaktivitäten an den Münchner Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, sondern auch zentraler Bestandteil der Stadtkultur. Die Wissenschaft muss stärker in die Öffentlichkeit treten. Das in den angelsächsischen Ländern schon weithin praktizierte Modell der "public science" weist die Richtung. Öffentliche Wissenschaft ist ebenso wie der kulturpolitische Diskurs darauf angewiesen, dass ein anspruchsvoller, sich auf komplexere Sachfragen einlassender Wissenschafts- und Kulturjournalismus eine Mittlerfunktion übernimmt. Ohne diesen Sickereffekt von schwer zugänglicher Forschung und Kunst über die Medien zur Aufmerksamkeit der Vielen ist eine gute Balance zwischen Sinnlichkeit und Reflexion nicht herzustellen.

Kunst operiert an den Grenzen der Lebenswelt, sie ist von dieser abhängig und wirkt doch mit einer - im Rückblick oft erstaunlichen - Prägekraft auf die Lebenswelt zurück. Die Künste sind in der Lage, Wahrnehmungsweisen zu verändern, neue Formen der Kommunikation zu initiieren, Utopien eines anderen Lebens wachzuhalten. Die Institute der Kunst sind als Schutzraum zu ihrer Entfaltung unverzichtbar. Hier kann die notwendige Konzentration sichergestellt werden. Kurzfristige Verwertungsinteressen treten zurück. Dem kontemplativen Raum steht der Aktionsraum der Kunst gegenüber. Ihr performativer Charakter verlangt nach Einmischung und Interaktion. Die Kunst irritiert nur dort, wo sie mit lebensweltlichen Erwartungen konfrontiert ist. In der Lebenswelt geht die Kunst Verbindungen jenseits eines verbreiteten Autonomieverständnisses ein: Mit Werbung, mit Kommerz, mit Event, mit Pop, mit Vergnügen, mit Politik, mit Technik. Die Kunst wird zum Ferment einer unruhigen Gesellschaft, sie entfaltet ihr innovatives Potential, sie stellt Wahrnehmungsweisen und Alltagsgewohnheiten in Frage, sie animiert und irritiert, sie beeinflusst Mode und Design, Wortwahl und Sinngebung. Kunstentwicklung und Gesellschaftsentwicklung bleiben aufeinander bezogen in einem komplexen kulturellen Prozess. Die Kulturpolitik muss dem gerecht werden mit Gestaltungsanspruch, Wertorientierung, Gelassenheit und Urteilskraft.

Quelle: Ergänzung zu einer Beschlußvorlage im Stadtrat München zur Bekanntgabe in der Vollversammlung, München im März 2000