Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 31.01.2006

Untertitel: Bürokratieabbaurückt die Bundesregierung in denMittelpunktder nationalen und europäischen Politik. Dies kündigte Kanzleramtsminister Thomas de Maizière beim Auftaktkongress zum IHK-Jahresthema 2006 "Mehr Wissen, Wettbewerb, Wohlstand - Unternehmen Europa" an.
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/01/2006-01-31-rede-chef-des-bundeskanzleramts-thomas-de-maizi_C3_A8re-beim-auftaktkongress-zum-ihk-jahresthema-20,layoutVariant=Druckansicht.html


ich bedanke mich für die Einladung und freue mich, die Bundeskanzlerin heute hier vertreten zu können! Initiativen wie die heutige brauchen wir, um Europa auf kluge und realistische Weise wieder nach vorn zu bringen: Zivilgesellschaftliche Akteure, die mit Engagement deutlich machen, dass wir alle große Vorteile durch den europäischen Integrationsprozess haben, jedenfalls mehr Vorteile als Nachteile.

Sicher, mit dem Argument, dass der europäische Integrationsprozess dazu geführt hat, dass ein Krieg zwischen den EU-Mitgliedstaaten praktisch unmöglich geworden ist, können wir insbesondere die Jugend nicht mehr für Europa begeistern. Zu selbstverständlich ist dieser Zustand des Friedens und, lassen Sie mich dies ergänzen, auch des Wohlstands für die bisherigen EU-Bürgerinnen und Bürger geworden.

Dabei wissen wir natürlich: Frieden und Wohlstand sind uns nicht für immer in den Schoß gefallen. Die europäische Einigung ist und bleibt ein unentbehrlicher Garant für Frieden in Freiheit und für breiten Wohlstand. Daran zu erinnern ist notwendig, aber nicht ausreichend. Wir brauchen neue Erklärungen und eine zusätzliche Zustimmungsmotivation für das europäische Projekt.

Meine Damen und Herren,

ich halte es für völlig legitim, ein Projekt immer wieder zu hinterfragen, das längst kein internationales oder zwischenstaatliches mehr ist, sondern bis weit in unsere Innenpolitik hineinreicht.

Aber oft genug ist die Kritik an "Brüssel" auch ungerechtfertigt. Nicht selten muss die EU als "Sündenbock" herhalten, wenn sich Regierungen, aber auch andere Akteure scheuen, Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen zu übernehmen. Oft versuchen Interessengruppen aus Deutschland, über Brüssel ihre eigenen Interessen durchzusetzen, weil es in Deutschland dafür keine Mehrheit oder keine Zustimmung gibt. Hinterher über Brüssel zu schimpfen, ist unglaubwürdig. Und häufig ist mangelnde Information eine Ursache für ungerechtfertigte Beschwerden über Europa.

Gleichwohl: Das Unbehagen vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber einer undurchsichtig erscheinenden europäischen Architektur aus mehreren Ebenen, vielen Akteuren und komplizierten Entscheidungsstrukturen kann und darf die Politik nicht kalt lassen: Wir müssen uns gemeinsam darum bemühen, Europa wieder verständlicher, nachvollziehbarer, sprich: bürgernäher zu gestalten. Dazu gehört auch, den ganz praktischen Mehrwert Europas für das Alltagsleben eines jeden Einzelnen wieder deutlicher zu machen.

In diesem Sinne verstehe ich das Jahresthema der Industrie- und Handelskammern "Mehr Wissen, Wettbewerb, Wohlstand - Unternehmen Europa". Und genau dies war ja auch der Ausgangspunkt für die Entscheidung des Europäischen Rates im Juni vergangenen Jahres, nach den gescheiterten Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden eine Phase der Reflexion,

des Nachdenkens zu vereinbaren.

Wir verstehen diese Phase nicht in dem Sinne, dass alle still und tiefschürfend für sich alleine nachdenken sollen, was denn nun schief gelaufen ist. Wir wollen ein aktives, die Bürgerinnen und Bürger, die Parlamentarier, gesellschaftliche Gruppen und natürlich auch die Wirtschaft einbeziehendes, aufklärendes und konstruktives Nachdenken.

Aber beim Nachdenken darf es nicht bleiben. Konkrete Fortschritte in den Bereichen, in denen die Bürgerinnen und Bürger "mehr Europa" wollen, weil sie sich davon einen für sie spürbaren Mehrwert erhoffen, sind die beste Werbung für das europäische Projekt. Denn eines ist klar: Europa muss Probleme lösen und nicht schaffen.

Dass Europa dazu nach wie vor in der Lage ist, haben die zum Jahresende erzielten Einigungen in schwierigen Fragen gezeigt, allen voran der Kompromiss zur nächsten Finanziellen Vorausschau. Wichtig waren aber in diesem Sinne auch die Reform der Zuckermarktordnung, die Neuordnung des Chemikalienrechts ( REACH ) und die Einigung über die Speicherung von Telekommunikationsdaten zur Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung. Zudem: Nach jahrelangen schwierigen Verhandlungen ist der erste Galileo-Satellit vom Weltraumbahnhof Baikonour erfolgreich gestartet. Galileo wird Europa in ein neues technologisches Zeitalter führen und dabei als Konjunkturmotor dienen.

Meine Damen und Herren,

diese positiven Impulse müssen wir jetzt nutzen und Europa dort voranbringen, wo es die Bürger erwarten. Dazu brauchen wir auch auf europäischer Ebene gemeinsame Ziele, an denen sich die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ohne Aufgabe nationaler Kompetenzen orientieren soll. Das ist der Grundgedanke der Lissabon-Strategie, auf die sich alle Mitgliedstaaten im letzten Jahr stärker verpflichtet haben.

Diese Bundesregierung will mehr Substanz und mehr Dynamik in diesen Prozess bringen. Dabei muss auf nationaler und europäischer Ebene der Bürokratieabbau in den Mittelpunkt der Politik rücken. Bürokratische Hemmnisse behindern unternehmerische Dynamik und damit letztendlich auch Innovationen. Sie schaden vor allem kleinen und mittleren Unternehmen, die nicht nur in Deutschland den Großteil der Arbeitsplätze stellen.

Die Europäische Kommission hat hier schon erste wichtige Schritte unternommen. Sie hat 68 Legislativvorschläge zurückgezogen, die eher mehr Bürokratie als mehr Wohlfahrt in Europa gebracht hätten. Sie hat ein Programm zur Überprüfung von rund 220 Gemeinschaftsvorschriften auf den Weg gebracht, dass innerhalb von 3 Jahren zum Abschluss gebracht werden soll. Dieser Prozess muss energisch weiter gebracht werden.

Wir begrüßen es daher sehr, dass sich die österreichische Ratspräsidentschaft dieses Themas angenommen hat und erwarten neue Impulse und konkrete Vorschläge von ihrer Konferenz zur "Besseren Rechtssetzung" im April. Wir werden auch die deutsche Ratspräsidentschaft dafür nutzen, den Lissabon-Prozess an dieser Stelle weiter voranzubringen.

Meine Damen und Herren,

auch die Erweiterung der Europäischen Union bereitet vielen Bürgerinnen und Bürgern Unbehagen. Unsere Position lautet: Wir wollen die Tür der EU offen halten - das liegt in unserem Interesse an politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen Nachbarn, und das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit von eingegangenen Verpflichtungen und Versprechungen. Aber genauso klar sagen wir auch: Die Aufnahmefähigkeit der EU darf nicht überfordert werden, und wir müssen auf die strikte Einhaltung der Beitrittskriterien achten. Das liegt auch im Interesse der Beitrittskandidaten, denn nur eine funktionierende EU kann ihnen die Unterstützung geben, die sie erwarten.

Wenn ich sage, dass es Bereiche gibt, in denen die Bürger mehr Europa erwarten, dann denke ich vor allem auch daran, dass wir unsere Zusammenarbeit bei Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung weiter stärken und den Schutz vor unkontrollierter Migration verbessern müssen. Und ich denke daran, dass wir durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auch unsere deutschen Interessen wirksam vertreten können.

Meine Damen und Herren,

wir alle haben ein Interesse daran, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr Vertrauen in die Europäische Union fassen. Dafür ist Aufklärung wichtig - und wir sind dankbar für engagierte Mitstreiter wie die Industrie- und Handelskammern und andere zivilgesellschaftliche Akteure, die es sich zur Aufgabe machen, den Vorteil Europas für uns alle zu erklären.

Neben den Vorteilen, die sich in Euro und Cent ausrechnen lassen, ist es ja vor allem so, dass sich Europa politisch "rechnet" - weil wir nur gemeinsam stark und sicher sind, weil wir nur gemeinsam die Herausforderungen der Globalisierung bewältigen können. Und nicht zuletzt ist Europa eine Wertegemeinschaft, die der Welt als Modell dienen kann. Viele Gründe also, die es lohnt, immer wieder in Erinnerung zu rufen - damit das "Unternehmen Europa" nicht nur weiterhin erfolgreich ist, sondern auch von den Europäern als erfolgreich wahrgenommen wird.

Vielen Dank.