Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 01.02.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/11692/multi.htm


Anrede!

Ich freue mich, heute beim Weltwirtschafts-Forum zu Ihnen sprechen zu können.

Seit vielen Jahren ist dieses Weltwirtschaftsforum ein bedeutender Ort der Begegnung und des Meinungsaustausches zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur über die drängenden internationalen Probleme.

Ich freue mich darüber auch deshalb ganz besonders, weil hier im Auditorium nicht nur viele alte und neue Freunde sitzen, sondern auch viele Neugierige und sicher auch manche Skeptiker.

Daß eine neue deutsche Regierung bei den Nachbarn und in der Welt Fragen aufwirft, versteht sich von selbst. Fragen nach einem neuen Kurs oder danach, wie dieses neue Deutschland sich wohl herausbildet, das doch zumindest von einer neuen Generation regiert wird.

Und vor kurzem habe ich in einer amerikanischen Zeitung sogar von "Befürchtungen" gelesen, daß angesichts der Fülle der Aufgaben, die die Bundesregierung in diesem Jahr zu bewältigen hat - ich nenne hier nur die Ratspräsidentschaft in der EU oder den Vorsitz in der WEU und der G7 / G8 -Gruppe - die nächsten Monate für unsere Partner in der Welt "nervenaufreibend" werden könnten.

Diese Sorgen kann ich hoffentlich zerstreuen, wenn ich auch hier in aller Deutlichkeit sage: Deutschland bleibt ein verläßlicher Partner in Europa, in der atlantischen Allianz und in der Weltwirtschaft. Ein Partner, der sich seiner nationalen und globalen Verantwortung für unsere gemeinsame Sicherheit und für eine Wirtschaftsentwicklung, die den Menschen dient, voll bewußt ist.

Ich kann die besorgten Fragen durchaus verstehen - schließlich hat man sich 16 Jahre lang an eine bestimmte deutsche Regierung nahezu gewöhnt. Aber mit dem Gewohnten ist das so eine Sache:

Einerseits hat es etwas Beruhigendes.

Andererseits kann man sich auch so sehr an das Gewohnte gewöhnen, daß das Beruhigende einschläfernd wirkt.

Und daß wir uns in einer sich rasant verändernden Welt nichts so wenig leisten können wie verschlafen zu sein, muß ich Ihnen, die Sie in Politik, Wirtschaft und Kultur international Verantwortung tragen, nicht groß erklären.

Meine Regierung hat den festen Willen, sich den neuen Herausforderungen auch mit neuen, modernen Lösungsansätzen zu stellen - ohne dabei das wirklich Bewährte zu vernachlässigen.

Um es an einem Beispiel zu sagen: Wir alle sind uns bewußt, daß vor allem wegen der drängenden demographischen und finanziellen Probleme die Neugestaltung des Sozialstaats und der Systeme der sozialen Sicherung unumgänglich sein wird. Deshalb müssen die herkömmlichen Systeme des Sozialstaats auf den Prüfstand.

Wir wollen uns bei dieser Reformaufgabe auch durchaus moderner betriebswirtschaftlicher Verfahren bedienen - zum Beispiel des benchmarking, des Maßnehmens am Besseren. Wir wollen die Erfahrungen anderer Länder auswerten und die erfolgreichsten, die besten Lösungen für unser Land und auch für Europa anwendbar machen.

Aber wir werden dabei nicht so töricht sein, das jahrelang in unserer sozialen Marktwirtschaft bewährte Prinzip der Partizipation auszuhöhlen.

Die Menschen, die den wirtschaftlichen Wohlstand erarbeiten, sollen weiterhin - und, wo es geht, noch mehr als bisher - teilhaben am Haben und Sagen in der Gesellschaft.

Nur am Rande, und ich will darauf auch nicht weiter eingehen, Sie haben wahrscheinlich davon gehört oder gelesen, ist das auch ein wesentlicher Grund, warum wir das Staatsbürgerschaftsrecht in Deutschland endlich modernisieren werden: Um denen, die bei uns arbeiten und leben, die volle Teilnahme zu gewähren an Rechten und Pflichten in unserer Gesellschaft.

Sie sehen: Bewahren und Modernisieren schließen einander nicht aus. Sie sollen sich sinnvoll ergänzen. Verläßlichkeit und Modernisierung sind die Eckpfeiler unserer Politik.

Verläßlichkeit, das gilt natürlich vor allem auch für die Friedenssicherung. Ich denke, die Bundesregierung und auch die neue Bundestagsmehrheit haben wiederholt deutlich gemacht, daß Deutschland seine Verantwortung in der Staatengemeinschaft in vollem Umfang zu tragen bereit ist.

Ich sage das hier ganz bewußt auch mit Blick auf die weiterhin gefährliche Entwicklung der Krise im Kosovo.

Wir sind fest entschlossen, im Kosovo einen Massenmord wie in Bosnien zu verhindern. Dafür arbeiten wir in der Kontaktgruppe, der OSZE und den Vereinten Nationen.

Sollten diese politischen Initiativen aber nicht zum Ziel führen, können wir auch ein militärisches Vorgehen nicht mehr ausschließen.

Es ist unser erklärtes Ziel, aus dem geeinten Europa nicht nur unsere Waren und unsere Wirtschaftskraft, sondern auch unsere politische Stabilität zu exportieren.

Das liegt im übrigen auch in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. Denn es ist allemal humaner, aber auch günstiger, Krisen vorzubeugen, als Krisen, notfalls militärisch, bewältigen zu müssen.

Verläßlichkeit und Modernisierung, das gilt natürlich auch für die Wirtschaftspolitik. Und weil die Sache in den vergangenen Wochen einige Wogen geschlagen hat, will ich hier gleich ein paar Sätze sagen zum Thema Energiepolitik.

Da hat es ja, auch in der internationalen Presse, einige Mißtöne gegeben, als handele es sich bei unserem Willen, eine moderne Energiepolitik zu betreiben, eher um ein politisches Hobby rot-grüner Ideologen.

Dabei wird gleich mehrerlei übersehen.

Erstens hat die Staatengemeinschaft sich auf mehreren Konferenzen zu weitreichenden Zielvorgaben für den Klimaschutz verpflichtet.

Zweitens wissen wir um die Endlichkeit fossiler Brennstoffreserven.

In diesem Zusammenhang müssen wir feststellen, daß die Kernenergie weder betriebs- noch volkswirtschaftlich auf Dauer eine Alternative ist.

Volkswirtschaftlich nicht, weil es der Kernenergienutzung an gesellschaftlicher Akzeptanz fehlt, die aber für eine Schlüsselindustrie wie die Energieversorgung unverzichtbar ist.

Und volkswirtschaftlich muß auch eingerechnet werden, daß die Kernenergie ein gewaltiges Entsorgungsproblem vor sich herschiebt, das wir schon heute in beängstigendem Maße künftigen Generationen aufgebürdet haben.

Betriebswirtschaftlich ist die Kernenergie unter anderem deswegen keine Alternative mehr, weil sie auf lange Zeit sehr hohe Investitionssummen bindet, die heute niemand mehr aufbringen will.

Deshalb liegen ja - nicht nur bei uns, sondern zum Beispiel auch in den USA - schon seit geraumer Zeit keine Genehmigungsanträge für neue Kernkraftwerke mehr vor.

Ich will damit nur verdeutlichen, daß es meiner Regierung nicht um einen Ausstieg aus der Kernenergie geht, sondern um einen Einstieg in eine moderne Energieversorgung, die zukunftstauglich, umweltverträglich und wettbewerbsfähig ist. Eine Energieversorgung, die sicher ist und uns auch unsere Ziele beim Klimaschutz erreichen läßt.

Dabei geht es um neue Technologien, um Einsparpotentiale und natürlich auch um die Nutzung regenerativer Energieträger.

Ich glaube, ich greife nicht zu weit, wenn ich behaupte, daß eine solche, moderne Energieversorgung ein weltweites Anliegen ist.

Ein solches Ziel ist nur im Konsens zu erreichen - im Konsens mit den Energieunternehmen, mit der Bevölkerung, aber natürlich auch mit unseren Partnern im Ausland.

Schon die ersten ernsthaften Verhandlungsgespräche haben mich in der Überzeugung bestärkt, daß wir zu einer solchen Entwicklung im Konsens kommen werden.

Und wenn im Zuge dieser Diskussion auch in manchen Nachbarländern kommentiert wird, nun habe auch dort die Debatte über die Energieversorgung neuen Schub erhalten, kann man das ja nicht bedauern.

Es geht mir dabei keineswegs nur darum, Wege zur Lösung des deutschen oder europäischen Energieproblems zu beschreiben. Die Energieversorgung von morgen ist ein weltweites Anliegen. Aber nicht nur das:

Der Versuch, gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme im Konsens mit den wirtschaftlichen Akteuren und den Bevölkerungen zu erreichen, scheint mir auch ein vielversprechender Ansatz, die komplexen Aufgaben in einer globalisierten Wirtschaft gemeinsam zu bewältigen.

Mit geht es nicht um einen Kompromiß über den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner. Sondern um gemeinsame Problemanalyse mit dem Ziel, einen Konsens über die beste Lösung zu erreichen

Anrede!

Einem so sachkundigen Publikum wie Ihnen die Weltwirtschaft zu erklären, will ich mir gar nicht anmaßen. Sie alle kennen die Chancen und die Risiken einer sich immer schneller globalisierenden Wirtschaft, der Digitalisierung der Produktion, des Übergangs in eine Informations- und Wissensgesellschaft. Und wir alle wissen, wie weit die Auswirkungen dieses Wandels in das tägliche Leben der Menschen und die Organisation der Arbeitswelt hineinreichen.

Ich will Ihnen deshalb nur kurz skizzieren, was sich meine Regierung national, in Europa und international vorgenommen hat, um diese Chancen zu nutzen und den unumgänglichen Modernisierungsprozeß zu gestalten.

National, und das gilt nicht für Deutschland allein, sind wir einem gewaltigen Veränderungsdruck ausgesetzt. Seit Jahren erfahren wir das Phänomen eines Wirtschaftswachstums, das nicht ausreichend neue Arbeitsplätze schafft.

Deutschland als eine der reichsten Nationen der Welt leidet unter einer bedrückend hohen Massenarbeitslosigkeit. Die Ursachen dafür sind nur zum Teil, höchstens zu einem Viertel, konjunkturell, sie sind überwiegend, also mindestens zu drei Vierteln, strukturell. Einige Indikatoren lassen sich nennen: zu hohe Arbeitskosten, - mangelnde Flexibilität bei den Arbeitszeiten und in den Erwerbsbiographien überhaupt, eine unzureichend entwickelte Dienstleistungs-Industrie, zu hohe Regulierungsdichte durch den Staat und die Bürokratie, ein Steuerrecht, dem es an Transparenz fehlt und das Unternehmen und Haushalte über Gebühr belastet, zu geringe Innovationsgeschwindigkeiten und zu lange Transferzeiten zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Umsetzung in der Produktion.

Aus all diesen Gründen liegt die Beschäftigungsschwelle bei uns unerträglich hoch. Während etwa in den USA bereits bei einem Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent neue Beschäftigung entsteht, ist in Deutschland dafür eine Wachstumsrate von etwa zweieinhalb Prozent nötig. Auch deshalb duldet die Lösung der angesprochenen Probleme keinen Aufschub.

Wenn ich diese Probleme gleich an den Anfang meiner Situationsbeschreibung stelle, will ich damit dennoch nicht schwarz malen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein starker Wirtschaftsraum mit überdurchschnittlich leistungsfähigen und sehr gut ausgebildeten Menschen.

Der Wille, verkrustete Strukturen zu modernisieren, ist unverkennbar und bindet innovationsfreudige Unternehmer, große Teile der Arbeitnehmerschaft und die Regierungsparteien aneinander. Es ist zu lange zugewartet worden. Aber inzwischen werden die Aufgaben geschultert.

Deswegen haben wir den Schritt getan, uns in einem "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" zusammenzutun, in dem sämtliche strukturellen Fragen ergebnisorietiert diskutiert werden, mit dem Ziel, für mehr Beschäftigung zu sorgen.

Die Bundesregierung hat als eine erste Maßnahme für eine Steuerentlastung durchschnittlich verdienender Familien gesorgt; eine Entlastung bei den Arbeitskosten durch eine - wohlgemerkt: aufkommensneutrale - ökologische Steuerreform beginnt in wenigen Wochen; die Unternehmenssteuern wollen wir bereits im Jahr 2000 auf einen einheitlichen Satz von 35 Prozent senken.

Damit wird Deutschland als Wirtschaftsraum auch für ausländische Investoren wieder zunehmend attraktiver.

Sie nehmen es mir sicher nicht übel, wenn ich Sie auch von hier aus herzlich einlade, bei uns in Deutschland zu investieren und sich bei der Gestaltung der Zukunft in unserem Lande zu engagieren.

Neue Arbeit entsteht vor allem durch neue Produkte, neue Techniken und die Erschließung neuer Märkte. Deshalb steht die Förderung der Innovation im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik.

Und deshalb halten wir es auch für richtig, selbst in Zeiten strengster Haushaltsdisziplin die Mittel für Forschung und Bildung kräftig aufzustocken.

Gleichzeitig nehmen wir die Aufgabe in Angriff, nicht nur die Systeme der sozialen Sicherung, sondern die gesamte staatliche Verwaltung umfassend zu modernisieren. Die Innovation darf nicht vor den Institutionen halt machen.

Wir wollen den Staat entwickeln zu einem aktivierenden Gemeinwesen, zu einem Staat, der die Menschen ermutigt, selber Verantwortung zu übernehmen, und der ihnen dabei zur Seite steht.

Es geht uns dabei weder um eine angebots- noch um eine nachfrage-orientierte Wirtschaftspolitik. Dieser Schein-Widerspruch, lassen Sie mich das so klar sagen, ist von gestern.

Heute geht es um eine moderne Wirtschaftspolitik, die in Zusammenhängen denkt, die die volkswirtschaftlichen Akteure einbindet und die gerade in den Zeiten einer neuen Unübersichtlichkeit auch wieder ein klares Ziel hat:

Eine "ökologische und soziale Marktwirtschaft" nicht nur zu behaupten, sondern überhaupt erst zu schaffen.

Vielleicht werden Sie sich fragen, wie wir diese Aufgaben bewältigen wollen angesichts der ökonomischen Hypothek, welche die deutsche Einheit uns noch immer auflastet. Ich möchte darauf mit nur zwei Sätzen antworten: Die deutsche Einheit erfüllt die Sehnsucht unserer Bevölkerung; die unblutige Revolution, in der die Menschen in Ostdeutschland ein diktatorisches Regime abgeschüttelt haben, ist eine Zier in unserer mit unvergeßlichen Verbrechen belasteten Geschichte. Die ökonomische und ökologische Modernisierung, die wir in den ostdeutschen Bundesländern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorantreiben, wird, auch mit Hilfe zahlreicher internationaler Investoren, im Herzen Europas einen Zukunftsraum entstehen lassen. Ein Zukunftsraum, der so europäisch ist wie deutsch, weltgewandt und weltoffen, und der ein Gesellenstück werden könnte für die Welt, die wir alle miteinander bauen wollen.

Ich kann alle hier Anwesenden nur herzlich einladen, sich selbst ein Bild zu machen und zum Beispiel Weimar zu besuchen, die Kulturhauptstadt Europas in diesem Jahr 1999. Anrede!

In der eingangs schon erwähnten amerikanischen Zeitung habe ich auch gelesen, ich zitiere: "Die historische Einweihung des Euro allein hätte schon gereicht, eine ganze EU-Präsidentschaft zu beschäftigen."

Aber bekanntlich fallen in die Amtszeit der deutschen Ratspräsidentschaft so gewichtige Entscheidungen wie die über die Reform der gemeinsamen Struktur- , Finanz- und Agrarpolitik, kurz "Agenda 2000" genannt, über die Erweiterung der Union nach Mittel- und Osteuropa oder über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

Ich will mich über diese Aufgabenfülle nicht beklagen. Der Euro, die neue europäische Währung, ist auf den Finanzmärkten glänzend gestartet.

Die unabhängige Europäische Zentralbank sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt sind Garanten dafür, daß der Euro auch auf Dauer ein Erfolg wird.

Natürlich bleiben auch Risiken. Und zwar vor allem dann, wenn wir dem kühnen Schritt hin zu einer gemeinsamen Währung nicht weitere kühne Schritte hin zur politischen Integration folgen lassen.

Dabei war ja schon die Einführung der gemeinsamen Währung keineswegs ein bloß ökonomischer Akt. Mit dem Bekenntnis zum Euro haben die Staaten der Währungsunion ihre gemeinsame finanzielle Souveränität erklärt und dafür natürlich nationale Hoheitsansprüche abgetreten.

Das ist eine immens politische Aktion. Aber nicht nur das: Gemeinsame Währungspolitik geht nicht ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik - schon aus dem einleuchtenden Grund, daß die gemeinsame Währung zur völligen Vergleichbarkeit von Kosten, Leistungen und Preisen im gemeinsamen Währungsraum führt.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Steuerkoordinierung und gemeinsamen Mindeststandards, nicht nur in der Steuerpolitik.. Anders können wir Umwelt- und Sozialdumping nicht verhindern, und ich bin froh, sagen zu können, daß wir darüber in Europa heute weitgehende Einigkeit erzielt haben.

Aus dem Wesen der europäischen Integration ergibt sich aber, daß sie auf Gesamteuropa zielen muß. Die künstliche, durch Schüsse an der Mauer aufrechterhaltene Trennung Europas ist nicht schon dadurch überwunden, daß der Eiserne Vorhang gefallen ist.

Die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa folgt nicht nur deutschem Dank und deutschen Interessen:

Natürlich werden gerade wir Deutschen den Ungarn, Polen und Tschechen nicht vergessen, welch unschätzbaren Beitrag sie zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands geleistet haben. Auch deshalb sehen wir uns als Anwalt der Beitrittskandidaten.

Nur, ein Anwalt - das weiß ich aus Berufserfahrung - muß seinen Mandanten nicht nur vertreten, sondern auch schützen. Und das heißt in diesem Fall: schützen vor dem Beitritt in eine Union, die für diesen Beitritt noch nicht gerüstet ist.

Das betrifft zunächst einmal die Agenda 2000. Ein Europa, das seine Finanz- und Agrarpolitik nicht geordnet hat, wird diese Staaten mit ihren starken landwirtschaftlichen Orientierungen nicht wirklich integrieren können.

Es betrifft aber auch die europäische Beschäftigungspolitik: Wir wissen heute, daß jeder weitere europäische Integrationsschritt der Überzeugung und der Akzeptanz der Menschen bedarf.

Und wie wollen Sie der Bevölkerung in Europa klar machen, daß die Integration unserer Nachbarn nötig und sinnvoll ist, wenn diese Nachbarn große Beschäftigungsprobleme haben, und die Europäische Union über keine wirksame Beschäftigungspolitik verfügt?

Das heißt in jeder Hinsicht - und vor allem, ohne die Beitrittskandidaten vertrösten zu wollen: Vor der Erweiterung muß also eine Vertiefung der Union stehen. Das bedeutet zunächst eine zügige Einigung über die Agenda 2000. Aber zur Vertiefung gehört dann auch eine deutliche demokratische Öffnung mit größeren politischen Mitspracherechten der Bürger und ihrer gewählten Europa-Abgeordneten; eine echte Handlungsfähigkeit Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik; eine gemeinsame Sozial- , Umwelt- und Beschäftigungspolitik und nicht zuletzt auch eine gemeinsame Verteidigungsidentität.

Wir werden das alles nicht auf einmal lösen können und müssen, bevor die, ich betone es noch einmal, notwendige EU-Erweiterung Wirklichkeit werden kann.

Aber auf all diesen Feldern müssen wir erkennbare Ansätze, die wir dann entwickeln, gemeinsam mit den neuen Mitgliedern zu einer europäischen Politik machen können.

Wir können es uns nicht leisten, daß Europa in der Welt mit mehreren Stimmen spricht. Aber genauso wenig kann es sich die Welt leisten, daß Europa auf seine Rolle in der Weltpolitik verzichtet.

Anrede!

Die eine Welt mit ihren zwei Wirklichkeiten - hier die Reichen, da die Armen - gibt es nicht mehr. Die Globalisierung sorgt dafür, daß heute nacht in Indien Software für die amerikanischen Computerprogramme von morgen früh geschrieben wird. Sie sorgt auch dafür, daß die Weltfinanzmärkte ins Taumeln geraten, wenn die brasilianische Währung unter Druck steht.

In dieser Verzahnung funktioniert auch der alte Dualismus nicht mehr: Hier die "entwickelten" Industrienationen, dort die "Entwicklungsländer", dazwischen vielleicht noch die sogenannten "sich entwickelnden" oder "Schwellenländer". Weltwirtschaft ist heute eine einzige allumspannende Aufgabe.

Der Begriff der "nachhaltigen" Entwicklung hat sich in der Diskussion inzwischen durchgesetzt. Einer Entwicklung also, die Ressourcen schont, zur Selbständigkeit verhilft und auf Dauer angelegt ist.

Eine solche nachhaltige Entwicklung kann es nicht geben ohne den ungehinderten Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Nur ein Weltwirtschaftssystem, das die schöpferischen Kräfte der Menschen fördert und das sozialen und ökologischen Zielen verpflichtet ist, kann eine Grundlage schaffen für nachhaltigen Wohlstand.

Dies ist zugleich der beste Beitrag, den die Industrienationen für den wirtschaftlichen Aufholprozeß der ärmeren Länder leisten können. Deren Produkte müssen auf den Weltmärkten eine faire Chance haben.

Hier appelliere ich bewußt an die eigene Adresse, an die Industrieländer: Wer die Produkte der Entwicklungsländer von den eigenen Märkten ausschließt, verschärft die Probleme dieser Länder und legt Feuer an die Lunte weltweiter Sozialkonflikte.

Tatsache ist aber auch: Ein nachhaltiger Entwicklungs- und Kooperationsprozeß wird heute unter anderem dadurch empfindlich gestört, daß spekulative Kapitalbewegungen an den Finanzmärkten nationale und internationale Börsenplätze, ja, ganze Volkswirtschaften an den Rand des Ruins treiben und weltweit zu gefährlichen Instabilitäten führen.

Dabei geht es nicht nur um nackte Zahlen. Sondern um die Schicksale tausender und abertausender Menschen, die ihrer Lebensgrundlagen beraubt und ihren Hoffnungen bitter enttäuscht wurden. Und damit geht es natürlich auch um die Interessen der Industrieländer, um unsere Möglichkeiten auf diesen Märkten.

Wenn schon George Soros - ein Mann, der es wissen muß, weil er selbst mit solchen Spekulationen Milliarden verdient hat - uns ins Stammbuch schreibt, daß wir für ordnende Faktoren der Gerechtigkeit sorgen sollten, dann ist es höchste Zeit, daß wir ernst machen mit verbindlichen Absprachen über eine internationale Finanzarchitektur.

Dieses Projekt ist ja auch auf dieser Tagung schon zur Sprache gekommen, und ganz gleich, wie weit die einzelnen Lösungsvorschläge noch auseinander sind, so zeigt sich daran, daß eine solche Problemlösung aller Anstrengungen wert ist und auch gemeinsam gewollt wird.

Als Gastgeber des G 7 / G 8-Gipfels in Köln im Juni 1999 hat Deutschland eine Initiative unternommen, die vor allem den überschuldeten ärmsten Nationen einen Weg zurück in die Weltwirtschaft ebnen soll.

Wir plädieren für einen umfassenden Schuldenerlaß gegenüber diesen Staaten, aber wir appellieren auch an die betreffenden Staaten, die notwendigen Schritte zur Anpassung an einen freien Handel und an eine Gemeinschaft freier Menschen zu vollziehen. Wir wollen gewiß niemanden missionieren.

Aber eine Soziale Marktwirtschaft und die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte sind in der Geschichte schon oft die besten Wegmarken für eine gedeihliche Entwicklung gewesen.

Wir wollen und wir dürfen es nicht länger hinnehmen, daß die Chancen für Wohlstand und Glück der Menschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch immer inakzeptabel ungleich verteilt sind.

Insofern stehen wir alle gemeinsam in der Pflicht, uns für eine freie, friedliche und gerechte Welt einzusetzen.

Auf Deutschland können Sie sich dabei verlassen.