Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 02.03.2006
Untertitel: Der Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister Thomas de Maizière, hat an der London School of Economics and Political Science in London eine Rede gehalten.
Anrede: Sehr geehrter Herr Davies, sehr geehrter Herr Professor Featherstone, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/03/2006-03-02-deutschland-ist-im-begriff-seine-wachstumshemmnisse-zu-ueberwinden,layoutVariant=Druckansicht.html
Sperrfrist: Redebeginn
Verfolgte man in den vergangenen Monaten die Presseberichterstattung über die wirtschaftliche Situation Deutschlands, so konnte man den Eindruck gewinnen, es wird von zwei unterschiedlichen Ländern berichtet.
Auf der einen Seite ist von einem Land zu lesen, dessen Unternehmen zu den wettbewerbsfähigsten und erfolgreichsten der Welt gehören. Dieses Land ist 2005 zum dritten Mal in Folge Exportweltmeister geworden.
Das Wohlstandsniveau seiner Bevölkerung ist nach wie vor ausgesprochen hoch. Dieses Land nimmt Spitzenpositionen bei den weltweit erteilten Patenten ein. Seine Unternehmen gehören zu den treibenden Kräften bei internationalen Unternehmenszusammenschlüssen.
Seine Sportler errangen bei der Winterolympiade in Turin die meisten Medaillen. Und ganz bestimmt wird dieses Land 2006 Fußball-Weltmeister. Das Magazin "Economist" schrieb in diesem Zusammenhang im vergangenen Jahr von den "superwettbewerbsfähigen Deutschen".
Auf der anderen Seite wird von Deutschland berichtet als einem Land, dessen beste Jahre vorbei seien. Es sei wirtschaftlich stark nur noch in der "old economy".
Seine Sozialsysteme ließen sich angesichts des demografischen Wandels nicht mehr finanzieren. Dieses Land breche regelmäßig den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Seine Unternehmen seien allenfalls noch Übernahmeziele finanzkräftiger Investmentgesellschaften. Der "Economist" schrieb in diesem Jahr von in Deutschland drohenden "amerikanischen Verhältnissen", falls die notwendigen Strukturreformen ausbleiben sollten. Die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland wird von solchen Berichten stark geprägt.
Doch welches dieser beiden Deutschland-Bilder ist zutreffend, obwohl sie sich auszuschließen scheinen? Die Antwort lautet meiner Ansicht nach: beide und keines.
Alle geschilderten Einzelfakten sind richtig. Und dennoch: Die Realität ist differenzierter als schwarz oder weiß. Deutschland ist weder unheilbar krank noch in Europa automatisch die Nummer 1. Tatsächlich ist Deutschland nach wie vor ein wirtschaftlich sehr erfolgreiches Land, das mit denselben Problemen zu kämpfen hat wie die meisten entwickelten Volkswirtschaften:
Die alternde Gesellschaft stellt die Sozialsysteme, die von den Zahlungen der aktiven berufstätigen Menschen leben, vor große Herausforderungen.
Deutschland betrifft dies besonders, da sich die deutsche Geburtenrate am Ende der westeuropäischen Skala befindet. In Ostdeutschland haben sich die Geburten seit der Wende 1990 halbiert. In anderen europäischen Ländern ist diese Entwicklung durch höhere Geburtenraten der Migranten ( noch ) verschleiert.
Hinzu kommt die durch die Globalisierung verschärfte internationale Konkurrenz. Mit den aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens und Lateinamerikas sind neue Wettbewerber auf den Plan getreten. In Polen und Tschechien, vor der deutschen Haustür, werden Löhne von rundeinem Dritteldes deutschen Niveaus gezahlt.
Deutschland ist aber andererseits mit der Globalisierung vergleichsweise gut zurecht gekommen. Als einziges Land der G7 konnte Deutschland seine globalen Marktanteile trotz der großen Anteilsgewinne Chinas und Indiens ausbauen.
Meine Damen und Herren,
die Globalisierung ist allerdings alles andere als eine neue Entwicklung.
Jede Generation meint doch von sich selbst, sie lebe in Zeiten epochaler Umbrüche. Mit etwas Abstand betrachtet trifft dies jedoch nur für die wenigsten Generationen tatsächlich zu. So betrachtet kennen wir seit Jahrhunderten Globalisierungsprozesse mit gewaltigen Veränderungen. Was war die Entdeckung Amerikas anderes als Globalisierung?
Der Handel findet von je her grenzüberschreitend statt. Das British Empire und der Commonwealth of Nations sind Beispiele dafür.
Auch die Hanse war ein globales Handelsnetzwerk. Und bereits in der Antike im Römischen Reich wurden raumgreifende Handelsbeziehungen gepflegt. Uralte Handelswege für Salz, Gewürze und Tuche sind Elemente von Globalisierung.
Geändert hat sich vielleicht lediglich das Tempo, mit dem die Globalisierung voran schreitet. Und die Wahrnehmung von allen gleichzeitig auf der ganzen Welt ist neu.
Von 1975 bis 2000, also in nur 25 Jahren, stiegen das weltweite Sozialprodukt um den Faktor 2,4, der Welthandel um den Faktor 4 und die Welt-Kapitalanlagen um den Faktor 30. Der Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa, die Digitalisierung der Medien und die Verbreitung kostengünstiger und leistungsfähiger IT-Infrastruktur sowie die Liberalisierung des Welthandels haben diese Entwicklung ermöglicht.
Die Globalisierung ist also an sich nichts Neues. Im Gegenteil: Sie bedeutet eher eine Rückkehr zur Normalität.
Ein Ausnahmezustand ist vielleicht vielmehr die relativ kurze Zeit dominant wirkender Nationalstaaten und dass relativ wenige Industrieländer nach dem Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaft weitgehend dominiert haben.
In Deutschland war dieser Eindruck einer stationären, gleichsam geschlossenen Weltwirtschaft mit einem starken Wirtschaftswunderland Westdeutschland besonders verbreitet.
Durch den Kalten Krieg konnte Deutschland zu vielen Ländern in seiner direkten Nachbarschaft nur sehr begrenzt wirtschaftliche Beziehungen unterhalten. Die Mobilität von Menschen, Gedanken und Gütern zwischen beiden deutschen Staaten war streng reglementiert.
So entwickelten sich Ost- und Westdeutschland weitgehend isoliert voneinander, und eben nicht nur mit unterschiedlichem Tempo, sondern teilweise auch in entgegengesetzte Richtungen.
Der Fall des Eisernen Vorhangs stieß ganz Deutschland - und mit besonderer Härte nicht nur die neuen Bundesländer - mit einem Mal in die internationale weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, übrigens auch politisch und sicherheitspolitisch.
Die ostdeutsche Wirtschaft hatte plötzlich nicht nur mit der gewachsenen Konkurrenz auf den Weltmärkten, sondern auch mit dem Wegbrechen ihrer traditionellen Absatzmärkte im Osten Europas zu kämpfen.
Die daraus folgende Massenarbeitslosigkeit führte zu einer starken Abwanderung insbesondere von gut ausgebildeten Menschen in den Westen. Umgekehrt gingen viele Leistungsträger in den Osten.
Entwicklungen, die sich normalerweise über Jahrzehnte hingezogen hätten - der Strukturwandel, die Migration, die volle Einbeziehung in die Welt - vollzogen sich in Deutschland so in wenigen Monaten und Jahren.
Mit diesem historischen Bruch lassen sich die heute bestehenden deutschen Probleme zu einem bedeutenden Teil erklären. Objektive Veränderungen und mehr noch die subjektive Wahrnehmung dieser epochalen Veränderungen führten zu Verdrängung, falschem Optimismus wie voreiligem Pessimismus. Der Wind der Veränderung war kälter als erwartet.
Die Europäische Kommission zum Beispielführt zwei Drittel des deutschen Wachstumsrückstandes gegenüber dem europäischen Durchschnitt auf noch nicht bewältigte Folgen der Wiedervereinigung zurück. Das mag übertrieben sein. Aber richtig ist:
Gelingt es uns, die Folgen der Wiedervereinigung und die hohe Arbeitslosigkeit zu meistern, können auch manche - nicht alle - strukturellen Wachstumsbremsen gelöst werden.
Ein Stück britischer Pragmatismus würde uns Deutschen dabei sicherlich gut tun.
Meine Damen und Herren,
deswegen ist es vielleicht kein Zufall und eine List der Geschichte, dass jetzt eine ostdeutsche Frau Bundeskanzlerin geworden ist. Sie steht für die Chancen, die in Veränderungen stecken. Und siehe da: Nach typisch deutscher Skepsis wächst in ganz Deutschland die Zuversicht.
Die neue Bundesregierung hat schon in den ersten drei Monaten ihrer Amtszeit wichtige Weichen für eine bessere Wettbewerbsfähigkeit und mehr Wachstum gestellt.
Unser Ziel ist es, dass Deutschland in zehn Jahren wieder zu den drei erfolgreichsten Nationen in Europa gehört. Großbritannien wird sicher bei den anderen beiden sein...
Wir setzen dabei auf einen Dreiklang aus Sanieren, Reformieren und Investieren:
Wir streben an, den Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern.
Wir tragen der längeren Lebenserwartung Rechnung und erhöhen das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre, um die Finanzierungsgrundlage der Gesetzlichen Rentenversicherung zu stabilisieren.
Wir senken die Lohnnebenkosten durch niedrigere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und andere Maßnahmen auf dauerhaft unter 40 % .
Wir ordnen die Zuständigkeiten von Bund und Ländern neu, um den Föderalismus, der sich in Deutschland bewährt hat, zu modernisieren, und die Aktionsgeschwindigkeit der Politik dem gestiegenen Globalisie-rungstempo anzunähern.
Wir arbeiten an einer Reform der Unternehmensbesteuerung mit international attraktiven Steuersätzen.
Wir sanieren die öffentlichen Haushalte und setzen zugleich Schwerpunkte bei Kinderbetreuung und Bildung.
Die Bundesregierung setzt also nicht auf eine kurzfristige Stimulierung der Konjunktur, sondern auf strukturelle Reformen. Vieles haben wir noch vor uns; das will ich nicht verschweigen: eine Gesundheitsreform, Öffnungen im Arbeitsmarkt, einen energischen Bürokratieabbau. Aber wir sind ja seit gestern erst 100 Tage im Amt. Wir gehen kleine Schritte in unserer großen, aber komplizierten Koalition. Aber diese kleinen Schritte gehen ja in die richtige Richtung.
Meine Damen und Herren,
Deutschland ist im Begriff, seine Wachstumshemmnisse zu überwinden.
Die "German Angst" ist dabei zu verschwinden. Die Wirtschaft setzt Vertrauen in die neue Bundesregierung. Der deutsche Aktienindex DAX hat in den letzten sechs Monaten um knapp 20 Prozent zugelegt.
Das Geschäftsklima in der gewerblichen Wirtschaft hat einen neuen Höchststand seit 1991 erreicht und die Konsumenten fassen wieder mehr Vertrauen.
Wir werden das Vertrauen der Unternehmen und Verbraucher nicht enttäuschen und Deutschland mit einem entschlossenen Modernisierungskurs wieder nach vorne bringen.
Ich lade die Briten unter Ihnen ein, dieses Deutschland, über das zuweilen ein zwiespältiges Bild vermittelt wird, zu besuchen und es persönlich näher kennen zu lernen.
Erst jeder dritte Brite hat schon einmal in Deutschland Urlaub gemacht - allerdings auch erst jeder sechste Deutsche in Großbritannien. Nur 32 Prozent der Briten fühlen sich gut über Deutschland informiert.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Jahr ist nur ein guter Anlass unter vielen, Deutschland zu besuchen. Die Schiedsrichter werden kein Wembley-Tor zulassen.
Wir werden gute Gastgeber sein, so wie es Großbritannien immer war und wie es die London School of Economics gegenüber Deutschen immer war, nicht nur in einer German week.
Ich freue mich nun auf eine angeregte Diskussion mit Ihnen.