Redner(in): k.A.
Datum: 09.03.2006

Untertitel: Rede von Bundesminister Müntefering zur Zukunft der Rente vor dem Deutschen Bundestag am 9. März 2006 in Berlin
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/03/2006-03-09-rede-muentefering-zur-zukunft-der-rente,layoutVariant=Druckansicht.html


Frau Präsidentin!

Die Vorlage des Rentenversicherungs- und des Alterssicherungsberichts bringt das Thema ins Licht der Scheinwerfer. Das ist gut und auch nötig, weil eine Debatte darüber dringend erforderlich ist. Es ist gut, dass wir heute darüber diskutieren, weil dann ein bisschen klarer wird, wie die Zusammenhänge eigentlich sind.

Es geht um die Zukunftsfähigkeit einer insgesamt älter werdenden Gesellschaft. Das und nichts weniger ist das Thema. Darüber werden wir in den Gesamtzusammenhängen zu sprechen haben. Dabei geht es um mehr als um die Statistik und um die Dinge, die Sie angesprochen haben und auf die ich gleich gerne noch einmal kommen werde.

Wir haben uns in unserem Bericht um Realismus bemüht und die Prognosen für die Entwicklung der Löhne und der Zahl der Beschäftigten im Vergleich zu dem, was in den Berichten vergangener Jahre gestanden hat, gesenkt. Wir sind dabei sehr nahe an die Realität herangerückt. Das hat auch Konsequenzen gehabt. Der Beirat hat ja auch deutlich gemacht, dass er uns zumindest im Bereich der Lohnentwicklung voll zustimmt. Das ist ein wichtiger Punkt.

Auf was bereiten wir uns in Deutschland vor? Sagen wir, dass wir ein Niedriglohnland sind, oder sagen wir, dass wir ein Hochleistungs- und Hochlohnland bleiben wollen und dass wir davon ausgehen, dass die Arbeitnehmer auch in Zukunft mehr in ihre Portemonnaies bekommen, was mit einer entsprechenden Wirkung auf die sozialen Sicherungssysteme - auch auf das Rentensicherungssystem - verbunden ist? Das ist eine ganz wichtige Entscheidung. Wir gehen davon aus, dass die Dinge, die wir aufgeschrieben und für unseren Bericht zur Grundlage gemacht haben, realistisch sind.

Zum Kapitel Analyse. Wir gehen in Deutschland im Schnitt mit 21 Jahren in den Beruf und mit 60,8 Jahren heraus. Das sind gut 39 Lebensarbeitsjahre. Von den 55-Jährigen und Älteren sind noch 42 Prozent berufstätig. 50 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der älter als 50 Jahre ist. Im Schnitt gehen 33,5 Prozent der Männer mit 65 Jahren in die Rente. Im Vergleich zu 1960 leben wir sechs bis sieben Jahre länger. Alle, die sich damit beschäftigen, sagen: Bis zum Jahre 2030 leben wir noch einmal 2,5 Jahre länger. Das ist gut. Wir klopfen auf Holz und hoffen, dass wir dabei sind. Das bedeutet aber natürlich auch, dass die Rente 2,5 Jahre länger zu zahlen ist.

Im Jahre 2050 werden zwölf Prozent der Bevölkerung älter als 80 Jahre, 30 Prozent älter als 65 Jahre und 16 Prozent unter 20 Jahre alt sein. Wenn man die ganzen Zahlen nebeneinander legt, dann erkennt man, dass man reagieren und etwas tun muss. Man muss jetzt damit anfangen; denn wenn ich von 2050 spreche, dann weiß ich, dass durch die Köpfe geht, dass das noch eine lange Zeit hin ist. Nein, nein, diejenigen, die heute 21 Jahre alt sind, sind dann gerade 65 Jahre alt. Wir kennen schon einen großen Teil derjenigen. Unsere Enkelkinder und Kinder werden davon, was wir jetzt tun oder nicht tun, betroffen sein. Nichts tun kann man nicht. Man muss handeln.

Was tun wir also an dieser Stelle? Wir tun vor allen Dingen zwei Dinge:

Erstens. Wir beginnen mit einer "Initiative 50 plus". Sie ist angekündigt und wird im Verlauf dieses Jahres konkretisiert. An dieser Stelle werden wir dann auch Dampf machen. Wir müssen dafür sorgen, dass in dieser Gesellschaft wieder begriffen wird: Leute, die 50, 55 und 60 Jahre alt sind, können noch etwas und werden dringend gebraucht. Sie dürfen nicht beiseite geschoben werden. Das ist ein Grundfehler in der ganzen gesellschaftspolitischen Entwicklung in diesem Land.

Zweitens. Damit verbunden verändern wir den Korridor für den Eintritt in die Rente um zwei Jahre. Bisher verlief er von 60 bis 65 Jahre. Mit 60 Jahren konnten viele herein; sie mussten einen Abschlag von 18 Prozent hinnehmen. Wer mit 65 Jahren ging, erhielt die Rente dann ohne Abschlag. Dieser Korridor von 60 bis 65 Jahre verschiebt sich bis zum Jahre 2029 auf 63 bis 67 Jahre. Um diesen Vorgang geht es.

Unten kommen die Menschen ja auch nicht mehr mit 14 oder 15 Jahren in den Beruf, sondern im Schnitt mit 21 Jahren. Zusätzlich werden wir noch 2,5 Jahre älter. Ich glaube, dass es verantwortbar und sinnvoll ist, das zu tun, zumal wir sagen: Diejenigen, die 45 Lebensarbeitsjahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben, werden unverändert mit 65 Jahren ihre ungekürzte Rente erhalten.

In diesem Jahr und im nächsten Jahr werden wir die Rente nicht kürzen, obwohl das eigentlich fällig gewesen wäre. Einige haben jetzt darüber gesprochen, was der Vergleich zum Jahre 1995 bedeutet, und gefragt, was das Ergebnis ist. Es ist richtig: Die Renten sind etwa 20 Prozent niedriger, als 1995 prognostiziert. Allerdings sind auch die Löhne etwa 20 Prozent niedriger, als 1995 prognostiziert. Ich will damit nur zeigen, dass das nicht eine Frage der Struktur der Rentenversicherung, sondern eine Frage der Lohnentwicklung und der Prosperität des Landes insgesamt ist. Das ist der Punkt, an dem wir uns bewegen und den man begreifen muss.

Diese Kürzungen, diese Dämpfungen, die wir nicht vornehmen, werden wir nicht vor 2010 nachholen. Aber das ist nötig. Wenn wir das nicht tun, wird das die Generation nach uns bezahlen.

Wir alle miteinander müssen ehrlich sein: Es gibt arme Rentner und solche, denen es ganz gut geht. Es gibt arme Beschäftigte und solche, denen es ganz gut geht. Die Grenze verläuft in diesem Land nicht zwischen Rentner und Nichtrentner, sondern sie verläuft zwischen denen, die genug Geld im Portemonnaie haben und denen es gut geht, und denen, die weniger Geld zur Verfügung haben und denen es weniger gut geht. So müssen wir bitte schön auch denken und so müssen wir auch in der Rentengesetzgebung die Strukturen festlegen.

Die Beiträge für die Rente werden sich im nächsten Jahr auf 19,9 Prozent erhöhen. Wir zahlen allerdings einen langsam wachsenden Betrag von 78 Milliarden Euro aus der Bundeskasse dazu. Das sei gesagt, damit das einige endlich begreifen. Denn einige sagen, das würde nur über die Lohnnebenkosten finanziert. Das ist Unsinn, das ist längst nicht mehr so. 78 Milliarden Euro von den 260 Milliarden Euro des Bundeshaushaltes fließen in diesem Jahr in die Rente oder sind rentennahe Zahlungen, weil sonst die Rentenversicherungsbeiträge in diesem Jahr nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei 26 oder 27 Prozent lägen. Oder die Renten wären um ein Drittel niedriger. Wir haben schon einen vernünftigen Mix aus Rentenversicherungsbeiträgen und aus den Geldern, die über Steuern in die Bundeskasse fließen.

Ich will noch zu dem Punkt kommen, den Sie freundlicherweise angesprochen haben. Ich habe gar nicht vermutet, dass Sie auf so etwas hereinfallen. Ich wiederhole das, was ich bereits gesagt habe: Die Struktur der gesetzlichen Rentenversicherung steht. Sie wird auch in Zukunft der Kernbereich der Versicherung bleiben. Aber die Rente muss um zusätzliche Maßnahmen ergänzt werden, zum Beispiel die Riester-Rente oder die betriebliche Vorsorge. Bei der Riester-Rente gab es im letzten Jahr ein Wachstum: Insgesamt 5,6 Millionen Menschen machen mit. Betrieblich vorsparen tun inzwischen rund 60 Prozent der Beschäftigten in der einen oder anderen Form.

Was ich gesagt habe, ist Folgendes: Es hilft nicht, Lotto zu spielen, es hilft nicht, Balalaika zu spielen und zu hoffen, dass man so morgen oder übermorgen ausreichend Geld in der Tasche hat, sondern man muss jetzt den Vertrag für eine Riester-Rente oder eine betriebliche Rente abschließen. Das ist eine vernünftige Vorsorge für morgen und für übermorgen. Deshalb ist das, was ich gesagt habe, richtig; das wissen Sie ganz genau.

Die Höhe und die Sicherheit der Renten werden davon abhängen, wie die Wohl-standsentwicklung im Lande insgesamt ist. Deshalb gehört zu einer kompletten Debatte über Rente und die Zukunftsfähigkeit der Rente die Frage dazu: Was investieren wir in Bildung, Qualifizierung, Weiterbildung, Forschung und Technologie? Wenn unser Land im Jahre 2030 mindestens das gleiche Wohlstandsniveau wie heute hat, wird es den Alten und den Jungen gut gehen. Es geht dann nur um die Verteilung von ein paar Prozentpunkten; darüber kann man dann streiten. Wenn Deutschland in Zukunft dieses Niveau aber nicht erreicht, werden wir weniger haben, egal was wir heute in der Rentenversicherung prozentual vorgeben. Wenn dann von 46 Prozent die Rede ist, fragt man sich: 46 Prozent von was? Was sind 100 Prozent?

Wenn wir über die Rente sprechen, gehört zu der schlichten Wahrheit: Wir müssen im Land die Bereitschaft wecken, zu verstehen, dass wir nur dann, wenn wir in die Köpfe und die Herzen der jungen Menschen investieren, eine vernünftige Chance haben, langfristig eine auch für alle nach uns kommenden Generationen sichere Rente zu haben. Das hängt ganz eng zusammen. Deshalb dürfen wir die Rente nicht nur als ein spezifisches Problem diskutieren, sondern wir müssen es mit der Bereitschaft verbinden, einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in die jungen Menschen zu investieren. Um diesen entscheidenden Punkt geht es langfristig bei der Rentensicherung.