Redner(in): k.A.
Datum: 05.04.2006

Untertitel: Rede der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer in der Aktuellen Stunde "Bundespolitische Folgerung aus den Vorgängen an der Rütli-Hauptschule in Berlin" am 5. April 2006 im Deutschen Bundestag.
Anrede: Sehr geehrte Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/04/2006-04-05-boehmer-rede-aus-parallelgesellschaften-muss-ein-miteinander-werden,layoutVariant=Druckansicht.html


Auszug aus dem Stenografischen Bericht -

Wir wissen sehr wohl, worauf es ankommt. Das heißt, wir müssen die Realitäten in den Blick nehmen. Ich will einige dieser Realitäten am Anfang meiner Rede sehr deutlich nennen wir haben sie heute Morgen im Innenausschuss genauso benannt: In vielen großen Städten in unserem Land werden wir im Jahr 2010 die Situation vorfinden, dass die Hälfte der unter 40-Jährigen einen Migrationshintergrund hat und die andere Hälfte Deutsche sind.

Dann werden wir nicht mehr über Mehrheiten und Minderheiten diskutieren. Daher sind wir nun gefordert, dafür zu sorgen, dass die Integration konkret wird und dass aus Parallelgesellschaften ein Miteinander wird. Hinzu kommt, dass jeder fünfte Schüler, der aus einer Zuwandererfamilie stammt, ohne Schulabschluss bleibt; in Neukölln ist es sogar jeder Dritte. Bundesweit können 40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund keinerlei berufliche Qualifizierung vorweisen. Legt man allein diese wenigen Zahlen zugrunde, muss man feststellen, dass in der Tat erhebliche Integrationsdefizite bestehen.

Die Zeit des Wegschauens bzw. der Gleichgültigkeit ist vorbei. Wir müssen die Bilanz, die ich gerade genannt habe, zur Kenntnis nehmen und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Deshalb wird sich die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig mit dem Thema Integration beschäftigen. Auch dann, wenn die Scheinwerfer nicht mehr auf die Rütli-Schule gerichtet sind, werden wir bei der Integration einen Schwerpunkt setzen und dieses Thema mit aller Kraft in Angriff nehmen.

Da ich am vergangenen Freitag die Rütli-Schule besucht habe, kann ich Ihnen sagen: Diese Schule ist ein Sonderfall, aber leider kein Einzelfall. Der Anteil der Schülerinnen und Schülern arabischer Herkunft beträgt dort 43 Prozent; 30 Prozent von ihnen sind türkischer Abstammung und 13 Prozent sind deutscher Herkunft. Allerdings möchte ich betonen: Allein die Tatsache, dass der Ausländeranteil an einer Schule hoch ist, muss noch nicht bedeuten, dass dort Gewalt vorprogrammiert ist und dass die Schule und damit die Schülerinnen und Schüler keine Chance haben. Es kommt ganz darauf an, in welchem Zustand sich die Schule befindet. Die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule stehen inzwischen mit dem Rücken zur Wand. Sie wurden allein gelassen. Das darf nicht sein. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung.

Ich war sehr verwundert, als ich feststellen musste, dass erst vor kurzem zwei Sozialarbeiter und ein Schulpsychologe in diese Schule geschickt worden sind, dass die Leitung der Schule nicht wahrgenommen wurde, weil die Schulleiterin seit längerer Zeit erkrankt ist, und dass die Stelle des Konrektors seit mehr als zehn Jahren nicht besetzt ist. Es darf einfach nicht sein, dass Schulen so allein gelassen werden. Das ist kein Einzelfall. An zehn weiteren Berliner Hauptschulen gibt es ebenfalls keinen Konrektor, weil sich für diese Stellen niemand findet.

Natürlich muss man fragen, warum das so ist. Die notwendige Hilfe von außen habe ich bereits angesprochen. Aber man muss auch die Frage stellen, ob Hauptschullehrer, die in sozialen Brennpunkten tätig sind, vielleicht nicht nur mehr Anerkennung, sondern auch eine Leistungszulage verdient haben. Denn dort, wo Leistung besonders gefordert ist, muss sie, wie ich finde, auch honoriert werden.

Zur Forderung nach einer Abschaffung der Hauptschule kann ich nur sagen: Wir müssen von unseren typischen Reflexen Abstand nehmen. Ich weiß, dass der Bund für die Bildung nicht mehr zuständig ist; das ist richtig. Aber an dieser Stelle müssen wir uns auf die Stärken der Hauptschule besinnen. Wer die Hauptschule abschreibt, der schreibt auch ihre Schüler ab. Dazu darf es nicht kommen.

Wir müssen für eine stärkere Verzahnung von Schule und Betrieb sorgen, die auch praktiziert wird, zum Beispiel an den so genannten SchuB-Klassen in Hessen oder durch das Hamburger Modell. Auch in Berlin gibt es einzelne Schulen, an denen man solche Wege beschreitet. Dort haben die Schülerinnen und Schüler sehr wohl eine Chance. Die Schule muss also gestärkt werden, damit sie in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen.

An dieser Stelle will ich betonen: Es ist notwendig, dass wir insbesondere den Hauptschülerinnen und -schülern eine Perspektive geben. Denn eines haben mir die Schüler der achten Klasse der Rütli-Schule, die ich besucht habe, sehr deutlich gesagt: Wir haben doch keine Chance auf einen Ausbildungsplatz.

Deshalb wollen wir als neue Bundesregierung alles daransetzen, dass diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben, in der Zukunft bessere Chancen haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das haben wir im Ausbildungspakt an der Stelle "Jugendliche mit Migrationshintergrund" verankert.

Ich werde morgen gemeinsam mit Kollegen aus dem Bundesbildungsministerium mit Unternehmen, die von Ausländern geführt werden, darüber sprechen, dass gerade in diesem Bereich mehr Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Ich finde, wir müssen dem Beispiel Frankreichs folgen.

Hier sind die deutschen Unternehmen gefordert, sich im Rahmen einer Selbstverpflichtung bereit zu erklären, mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche zur Verfügung zu stellen; denn daran entscheiden sich die Zukunftschancen. Ich erinnere mich, dass Sie einmal in der Verantwortung standen; es ist noch gar nicht so lange her. Wer hat denn die Integrationsdefizite zu verantworten? Sie waren in der Verantwortung.

Ich will noch ein deutliches Wort zum Erwerb der deutschen Sprache sagen ich bin Herrn Gerhardt sehr dankbar, dass er diesen Punkt benannt hat: Es muss gelingen, dass jedes Kind, das die Grundschule besucht, die deutsche Sprache so beherrscht, dass es dem Unterricht von Anfang an voll folgen kann; das ist das A und O. Ich sehe, dass die Bundesländer die Kindergärten immer mehr zu Bildungseinrichtungen entwickeln und dass dort frühkindliche Förderung stattfindet. Wir brauchen Sprachstandstests und wir brauchen entsprechende Fördermöglichkeiten.

Wir hatten vor einiger Zeit eine laute Diskussion im ganzen Land über die Hoover-Realschule in Berlin. Dort hatte sich die Schule gemeinsam mit den Eltern und mit den Schülerinnen und Schülern entschlossen, dass Deutsch die Sprache ist, die im gesamten Schulbetrieb gesprochen wird, dass Deutsch also auch auf dem Schulhof gesprochen wird. Es ging ein Aufschrei durch unser Land. Ich habe mich gewundert: Es muss doch selbstverständlich sein, dass Deutsch nicht nur im Unterricht, sondern auch auf dem Schulhof gesprochen wird, im gesamten Schulleben: damit Schülerinnen und Schüler eine bessere Chance haben. Deshalb sage ich: Dieses Beispiel muss Schule machen.

Hinzukommen muss ein Zweites. Denn die Lehrerinnen und Lehrer haben mir gesagt, sie können sich mit den Eltern kaum verständigen. Es ist in der Tat ein Problem, wenn Eltern zum Gespräch, zum Elternnachmittag oder zum Elternabend eingeladen werden und man mit ihnen ganz konkret über die Situation der Schülerinnen und Schüler reden will, man sich aber nicht verständigen kann und die Kinder Dolmetscherfunktion übernehmen müssen. Deshalb ist es für uns so wichtig, dass die Integrationskurse, die Elternkurse und die Sprachangebote, ganz gezielt für Mütter, genutzt werden.

Heute Vormittag haben wir im Innenausschuss darüber gesprochen, wie wir dieses Instrument der Integrationskurse weiterentwickeln können, damit Eltern ihren Kindern die Unterstützung geben können, die sie brauchen. Das bedeutet, wir müssen Integration konkret machen. Diesen Weg werden wir fortsetzen: Wir arbeiten auf einen nationalen Aktionsplan hin; denn wir müssen die Ebenen Bund, Länder und Kommunen verbinden. Wir wollen, dass Kinder in unserem Land Chancen haben, damit sie sich später beruflich integrieren können. Das wird unsere Aufgabe sein; das sind die Konsequenzen aus den Vorgängen in der Rütli-Schule.

Herzlichen Dank.