Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.03.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Schewardnadse, sehr geehrter Herr Vorsitzender des Parlamentes, sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/7992/multi.htm


Ich freue mich sehr, als erster deutscher Bundeskanzler hier in ihrem schönen Land zu sein. Ich freue mich noch mehr, die Ehre zu haben, hier zu reden - und das am Tag ihrer Unabhängigkeit. Gestern abend habe ich gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und dem früheren Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die in der ganzen Welt gerühmte Gastfreundschaft der Georgier erleben können. Ich möchte mich auch von dieser Stelle aus dafür noch einmal sehr herzlich bedanken. Es war ein unvergesslicher Abend. Mein Dank gilt Ihnen, Herr Präsident Schewardnadse, für die Einladung nach Georgien, und ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender Schwania und den Damen und Herren Abgeordneten des georgischen Parlamentes für die Gelegenheit, vor Ihnen zu sprechen. Georgien - wir Deutschen wissen das - ist ein altes Land mit großer landschaftlicher Schönheit und sehr freiheitsliebenden Menschen. Seine nationale Identität wurzelt ebenso sehr im frühen Christentum wie in einem starken und stolzen Nationalgefühl. Auch Jahrhunderte der Eroberung und der Unterdrückung haben den Freiheitswillen der Georgier nicht brechen können. Kein Wunder, dass Ihr Land früh das Interesse entdeckungsfreudiger Deutscher geweckt hat. Der bekannte deutsche Unternehmensgründer Werner von Siemens war einer von ihnen. Für ihn war die kaukasische Reise vom Herbst 1865, wie er selbst schreibt, eine der angenehmsten Erinnerungen seines Lebens. Georgien liegt in einer Region, die als eine der Wiegen der alten Zivilisation gilt. Mit ihr sind - im weitesten Sinne - die biblische Geschichte der Arche Noah genauso verknüpft wie das geheimnisvolle Königreich Kolchis und die griechische Mythologie. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Georgien sind von langjähriger Freundschaft geprägt. Die Menschen in unseren Staaten hegen Sympathie füreinander. Das Bildungsbürgertum in Tiflis des späten 19. Jahrhunderts, aber auch die frühen georgischen Sozialdemokraten blickten nach Deutschland. Selbst zu Sowjetzeiten entwickelte sich die Partnerschaft zwischen Saarbrücken und ihrer Hauptstadt Tiflis außerordentlich lebendig. Zahlreiche deutsch-georgische Vereine in Deutschland leisten humanitäre Hilfe oder wirken bei der Organisation von Kulturveranstaltungen mit. Vor mehr als acht Jahrzehnten war das kaiserliche Deutschland einer der Geburtshelfer der modernen georgischen Nation. Vor acht Jahren erkannte die Bundesrepublik als erster europäischer Staat Georgien an, nachdem Ihr Land seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte. Ich will auch die dunklen Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte nicht verschweigen. Denn nur wer sich der Vergangenheit stellt, wer diese Vergangenheit nicht verdrängt, kann Zukunft gewinnen. Im 2. Weltkrieg entrichtete Georgien als Teil der von Deutschland angegriffenen Sow-jetunion einen hohen Blutzoll. Während des langen Krieges sind in Europa Millionen von Menschen ums Leben gekommen. Ihr Bruder, Herr Präsident Schewardnadse, hat sein Leben bei der Verteidigung der Stadt Brest verloren. Wir werden die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft nicht vergessen. Die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen bleiben für uns Anlaß zu Trauer und Scham. Auch fast 40.000 Georgien-Deutsche, zumeist Nachfahren schwäbischer Einwanderer, haben diese verbrecherische Politik mit Deportation auf Stalins Anweisung und Tod bezahlt. Erst ab den 60er Jahren konnten einige wieder in ihre georgische Heimat zurückkehren. Gestatten Sie mir an dieser Stelle ein Wort des Dankes an Sie, Herr Präsident Schewardnadse, für Ihren persönlichen Einsatz und Beitrag zur Deutschen Einheit. Wir haben hierüber anlässlich Ihres Staatsbesuchs in Deutschland im vergangenen Jahr bereits ausführlich gesprochen. Ich will meinen Dank aber ausdrücklich vor diesem Auditorium wiederholen. Die Bilanz unserer Beziehungen seit Georgiens Unabhängigkeit im Jahre 1991 kann sich sehen lassen: 1993 haben wir eine Gemeinsame Erklärung über die Grundlagen der deutsch-georgischen Beziehungen vereinbart. Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen haben zugenommen, bleiben aber - das muss man hinzufügen - weiter ausbaufähig. Wir sollten alles tun, um sie auszubauen. Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen würde verstärkt auch deutsche Investoren anlocken. Herr Präsident, wir haben auch darüber gestern ausführlich miteinander gesprochen. Deutschland unterstützt Georgien im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit nachdrücklich. Mit mehr als 350 Millionen Mark seit der Unabhängigkeit Georgiens sind wir der zweitgrößte bilaterale Geber von Entwicklungshilfe. Daneben leisten wir als größter Beitragszahler knapp ein Drittel der Georgien zukommenden EU-Hilfe und unterstützen Georgien in beachtlichem Umfang über europäische und internationale Finanz- und Förderinstitutionen. Das war so. Das ist so. Und das soll auch so bleiben. Ihr Land hat unter der Führung von Eduard Schewardnadse beachtliche Fortschritte bei der Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat erzielt. Seit April 1999 ist Georgien als erstes Land im Südkaukasus Mitglied des Europarats. Die internationalen Beobachter der Parlamentswahl vom 31. Oktober letzten Jahres haben der jungen georgischen Demokratie Reife bescheinigt. Ich bin zuversichtlich, dass Ihr Land die Auflagen des Europarats fristgerecht erfüllen und die noch bestehenden Defizite beseitigen wird. Es ist beeindruckend, wie gerade junge Menschen in Ihrem Land heute auf den Trümmern der Sowjetunion eine Zivilgesellschaft aufbauen. Bereits ein halbes Jahr nach der Verabschiedung der Verfassung besaß Georgien ein Verfassungsgericht, bald darauf ein neues Bürgerliches Gesetzbuch sowie ein Handels- und Unternehmensrecht. Die Einführung der Marktwirtschaft kommt voran. Das Wirtschaftswachstum wird im Wesentlichen durch den Privatsektor getragen. Die Inflation ist unter Kontrolle, die Währung stabil. Ich bin sicher, Georgien ist - trotz noch bestehender Schwierigkeiten - auf dem richtigen Weg. Halten Sie unbeirrt am wirtschaftlichen Reformkurs fest und setzen Sie die Zusammenarbeit mit den internationalen Institutionen, dem Währungsfonds und der Weltbank, konstruktiv fort. Wir werden Sie hierbei nach Kräften unterstützen. Das erfolgreiche Zusammenwirken von Demokratisierung, Rechtsstaat und marktwirtschaftlichen Reformen verbessert auch die Voraussetzungen für eine friedliche Lösung der innergeorgischen Konflikte. Denn nur wer sich darauf verlassen kann, dass seine Rechte als Bürger oder Angehöriger einer Minderheit wirksam geschützt werden, wird bereit sein, sich in das Staatswesen zu integrieren. Georgien liegt in einer Region, die oft auch als "Bienenkorb der Völker" bezeichnet wird. Menschen aus 50 Nationalitäten mit 33 Sprachen leben hier auf engem Raum zusammen. Der Ausgleich ihrer Interessen und ihr Zusammenleben in modernen Nationalstaaten erfordern höchste Staatskunst und die Bereitschaft zu Versöhnung. Die separatistischen Bestrebungen in Abchasien und Südossetien gefährden die innere Einheit Georgiens und verlangsamen die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Deutschland bekennt sich - wie die internationale Staatengemeinschaft - zur Souveränität und territorialen Integrität Georgiens. Wir treten für die sichere Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre Heimatorte ein. Bei den Vermittlungsbemühungen im Abchasien-Konflikt sind wir besonders engagiert. Wir sind Mitglied der Gruppe der Freunde des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Der Leiter der VN-Beobachtergruppe, Dieter Boden, ist Deutscher. Deutsche Soldaten stellen das größte nationale Kontingent zur Überwachung des Waffenstillstands. Mehrfach in Folge haben wir den Leiter der OSZE-Mission in Georgien gestellt, die sich vor allem um die Lösung des Ossetien-Konflikts bemüht. Ich appelliere an die Konfliktparteien und all diejenigen, die Mitverantwortung für die Konflikte im Kaukasus tragen, ihren Beitrag zur friedlichen Beilegung und Stabilität zu leisten. Der Gewalteinsatz der russischen Truppen im benachbarten Tschetschenien und die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen erfüllen uns weiter mit Sorge. Das russische Vorgehen wirkt sich auch auf Georgien aus und kann die regionale Stabilität beeinträchtigen. Die Bemühungen der georgischen Regierung, ein Übergreifen zu verhindern, begrüße ich ausdrücklich. Wir unterstützen diese Politik. Ich appelliere auch von hier aus an den neu gewählten russischen Präsidenten Putin, den Gewalteinsatz zügig zu beenden und eine politische Lösung auf der Grundlage der von Russland selbst eingegangenen Verpflichtungen schnell zu suchen. Wir treten für eine dauerhafte Präsenz internationaler Beobachter der OSZE und des Europarats in Tschetschenien ein und drängen darauf, dass internationale Hilfsorganisationen ungehinderten Zugang zum Krisengebiet erhalten. Georgien sucht - ungeachtet mancher Differenzen - gute Beziehungen zum großen Nachbarn Russland. Auch mit den anderen Nachbarn in der Region pflegt Ihr Land enge und vertrauensvolle Beziehungen. Eine solche Politik der guten Nachbarschaft trägt dazu bei, die staatliche Unabhängigkeit zu festigen. Die Europäische Union hat gute Erfahrungen mit einer sehr engen Form regionaler Kooperation und Integration gesammelt. Ich denke, dass unsere Erfahrungen auch für Sie durchaus anregend sein können. Die südkaukasische Region ist reich an Bodenschätzen. Der Transport von Öl und Gas zu den Weltmärkten ist eine strategische Frage für Ihr Land. Die politische Entscheidung zum Bau der Pipelines von Baku nach Ceyhan hat die Bedeutung Georgiens für jedermann sichtbar gemacht. Der Südkaukasus verbindet Europa mit Asien. Konflikte hier berühren die Sicherheit Europas wie auch die der anliegenden islamischen Staaten. Dennoch wäre es falsch, sich einem geopolitischen Fatalismus hinzugeben. Georgien, Armenien und Aserbaidschan können sehr wohl ihren eigenen sehr wichtigen Beitrag zur regionalen Stabilität leisten. Es gilt zu verhindern, dass die Region erneut zum Spielball der Mächte wird. Niemand kann dabei gewinnen; am wenigsten die kaukasische Region selbst. Die Bemühungen zur Lösung der regionalen Konflikte müssen intensiviert werden. Nur wenn es gelingt, die schwelenden Feuer in Berg Karabakh und Abchasien bald zu löschen, dann und nur dann hat die Stabilität in der Region eine wirkliche Chance. Stabilität gibt es nicht zum Nulltarif. Auch die internationale Gemeinschaft muss ihre Anstrengungen verstärken. Neben einem grösseren politischen Engagement ist die ökonomische Stabilisierung und Entwicklung der gesamten Region dringend erforderlich. Eine Reihe von Initiativen macht dabei zu Recht die Runde. Der Begriff eines Stabilitätspaktes für die Region ist gefallen. Europa und insbesondere die Europäische Union sollten an einem Stabilisierungskonzept mitwirken. Das unter deutscher Präsidentschaft in Kraft getretene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen stellt die Beziehungen der Europäischen Union mit Georgien auf eine völlig neue Grundlage. Lassen Sie uns die Möglichkeiten dieses Abkommens voll ausschöpfen. Der institutionalisierte politische Dialog sollte noch stärker auf die regionalen Krisenherde konzentriert werden. Die Unterstützung beim Ausbau der Verkehrs- und Handelswege zwischen Europa und Asien sollte intensiviert werden. Georgien - wir haben es vom Präsidenten wieder gehört - orientiert sich nach Europa, fühlt sich als Teil der europäischen Wertegemeinschaft. Ihr Land spielt insoweit eine Vorreiterrolle im Südkaukasus. Sie teilen unsere Werte. Georgien ist Teil der euro-atlantischen Strukturen. Dies ist gegen niemanden gerichtet, sondern dient der regionalen Stabilität und fördert die gute Nachbarschaft zwischen den Völkern. Ich möchte dieses Hohe Haus ermutigen, den eingeschlagenen Kurs der letzten Jahre unbeirrt fortzusetzen. Wir wissen - ich hoffe, wir haben es deutlich machen können - um Ihre Probleme und wollen ehrlich helfen, damit sie überwunden werden können. Es gibt keine Alternative zu konsequenten demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen. Nur so kann Ihr Land seine äußere Unabhängigkeit bewahren und auf Dauer zu innerer Einheit, Stabilität und Wohlstand finden. Ein freies und demokratisches Georgien, das ein friedliches Zusammenleben seiner Volksgruppen ermöglicht und partnerschaftlich mit seinen Nachbarn zusammenarbeitet, leistet auch einen wichtigen Beitrag zur regionalen Stabilität. Deutschland - das kann ich Ihnen versprechen - wird alles in seiner Macht Stehende tun, um zu Frieden, Stabilität und Wohlstand in der kaukasischen Region beizutragen. Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen: Wir wollen unsere Freundschaft und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entwickeln und auf diese Weise dazu beitragen, dass es den Menschen in unseren Ländern auf Dauer gut geht. In diesem Sinne bedanke ich mich für die freundliche Aufnahme in Ihrem Land und noch einmal für die Ehre, hier reden zu dürfen.