Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 03.05.2006

Untertitel: Rede von Bundesminister Thomas de Maizière, gehalten am 3. Mai im Congress Center Düsseldorf.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/05/2006-05-03-eroeffnung-des-77-deutschen-fuersorgetages,layoutVariant=Druckansicht.html


zunächst möchte ich Ihnen sehr herzliche Grüße der Bundeskanzlerin ausrichten. Sie bedauert, diesen Termin nicht selbst wahrnehmen zu können. Sie ist heute gleich nach der Kabinettsitzung zu Gesprächen nach Washington und New York aufgebrochen. Die Bundeskanzlerin wünscht dem 77. Deutschen Fürsorgetag viel Erfolg und dem Deutschen Verein und seinen Mitgliedern für die Zukunft alles Gute.

Meine Damen und Herren,

ich bin gerne in ihrer Vertretung nach Düsseldorf gekommen, um mit Ihnen den 77. Deutschen Fürsorgetag zu eröffnen.

125 Jahre ist der Deutsche Verein alt. Armenfürsorge und Wohltätigkeit haben seine Gründungsmitglieder zusammengeführt. Ihr Ziel war es, die fachliche Arbeit der Armenfürsorge und Wohlfahrt jenseits von politischen und Glaubensfragen voranzubringen. Dies ist gelungen. Der Deutsche Verein hat als hochangesehener Fachverband die Sozialpolitik in Deutschland vom Kaiserreich bis heute maßgeblich mitgeprägt und mitgestaltet.

Die Gründungsväter des Deutschen Vereins haben in vielerlei Hinsicht Weitsicht bewiesen. Damals hat noch niemand von Vernetzung gesprochen. Aber die Gründung des Deutschen Vereins war nichts anderes als die Schaffung eines starken Netzwerks für alle diejenigen, die soziale Arbeit leisteten; eines Netzwerkes zum Austausch von Informationen und zur Verbesserung der gemeinsamen Arbeit.

Der Deutsche Verein hat Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, Wissenschaft und Politik zusammengeführt. Er hat sich zu einer Institution entwickelt, die für die Gestaltung der sozialen Arbeit in Deutschland Großes geleistet hat. Dafür sei allen, die daran mitgewirkt haben und noch heute mitwirken, herzlich gedankt.

Meine Damen und Herren,

der Deutsche Verein hat für diesen Fürsorgetag den Titel "Mut zur sozialen Verantwortung" gewählt.

In Anlehnung an den Titel des 77. Deutschen Fürsorgetags habe ich meinen Ausführungen die Überschrift "Verantwortung im Sozialstaat" gegeben.

Was ist eigentlich der Sozialstaat, den uns das Grundgesetz mit den Formulierungen des "sozialen Bundesstaates" und des "sozialen Rechtsstaates" nur sehr ungenau vorgibt?

Bei einer abstrakten Definition kann man sich noch einigermaßen schnell einig werden: Der Sozialstaat ist ein Staat, der mit staatlich veranlassten Steuerungsmechanismen für soziale Gerechtigkeit sorgt.

Auch das Ziel der sozialen Gerechtigkeit dürfte weitgehend unumstritten sein. Aber an der Frage, was sozial gerecht ist, scheiden sich die Geister.

Ehe ich zu dieser Frage zurückkomme, erlauben Sie mir, an einige Rahmendaten zu erinnern.

Die Sozialausgaben haben seit 1991 eine stärkere Dynamik entwickelt als das Bruttoinlandsprodukt. Dadurch ist die Sozialleistungsquote, also die Summe der Sozialleistungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, von 28,4 % im Jahr 1991 auf 32,6 % im Jahr 2003 gestiegen. Absolut ist das ein Zuwachs bei den Sozialleistungen von 268,5 Milliarden Euro.

Wenn wir auf die Entwicklung der Sozialausgaben im Bundeshaushalt blicken, zeigt sich ebenfalls eine durchaus positive Bilanz: 1991 lag der Anteil der Ausgaben für Soziale Sicherung bei 34,1 % des Bundeshaushalts, 2003 bereits bei 46,1 % und 2006 wird der Anteil voraussichtlich rund 51,4 % betragen.

Es kann also keine Rede davon sein, dass der Sozialstaat abgebaut wird. Das Gegenteil ist der Fall, selbst wenn einzelne Leistungen zurückgeführt worden sind. In dieser unterschiedlichen Betrachtungsweise liegt gerade ein Problem auch der politischen Debatte: die einen meinen immer den Sozialstaat als Ganzes mit seinen Ausgaben; die anderen meinen den Leistungsfall gegenüber jedem Einzelnen.

Es gab und gibt viele Anstrengungen, die globale Ausgabendynamik zu bremsen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir damit in Zukunft mehr Erfolg haben als in der Vergangenheit. Denn eine Sozialpolitik, für unsere Generation muss finanzierbar bleiben, sonst kann sie auch nicht sozial gerecht sein.

Meine Damen und Herren,

es wäre zu kurz gegriffen, die Qualität eines Sozialstaates allein an der Ausgabenquote zu messen. Aber wir müssen die Finanzierbarkeit des Sozialstaates auf Dauer nachhaltig sichern. Sonst bekommen wir zu der Soziallastquote oben drauf noch eine kaum finanzierbare Schuldenlastquote, die eine kleiner werdende Generation zusätzlich schultern muss.

Die Politik hat auf die Dynamik der Sozialausgaben vor allem mit Leistungskürzungen geantwortet. Vieles davon war unabwendbar. Zu wenig ist auf Gestaltungsräume für mehr Verantwortung - ich meine hier nicht die kollektive, sondern die individuelle Verantwortung - geachtet worden.

Politik hat die Kraft der Bürgerinnen und Bürger zur Eigenverantwortung unterschätzt. Adressat ist hier die Politik insgesamt, nicht die einer bestimmten Regierung oder die einer bestimmten Partei.

Wir haben denjenigen, die zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen werden, mit hohen Abgaben Handlungsspielräume für Eigeninitiative genommen.

Und denjenigen, die staatlich veranlasste Leistungen in Anspruch nehmen konnten oder mussten, wurde allzu oft Verantwortung abgesprochen oder abgewöhnt.

Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, Raum für mehr Verantwortung zu schaffen. Wir wollen mehr Gerechtigkeit, auch soziale Gerechtigkeit, nicht nur, aber auch durch mehr Verantwortung schaffen. Wir brauchen in diesem Sinne Strukturveränderungen, um den Sozialstaat für die Zukunft zu sichern.

Meine Damen und Herren,

ich will versuchen, an einigen wichtigen Beispielen deutlich zu machen, was ich meine:

Erstens: Die Föderalismusreform ist nach langen Verhandlungen und Beratungen nun auf den parlamentarischen Weg gebracht.

Ich vermute, dass auch hier im Saal Kritiker der Föderalismusreform sitzen. So ist ja beispielsweise die Versorgung in Heimen ein wichtiger Bereich der öffentlichen und privaten Fürsorge.

Ich teile die Skepsis der Kritiker nicht, die erwarten, dass mit dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz für das Heimrecht auf die Länder ein Wettbewerb um den niedrigsten Leistungsstandard beginnt. Das haben wir in anderen Bereichen, die seit jeher in Länderkompetenz sind, auch nicht. Und der Deutsche Verein wird weiterhin beratend für alle Leistungsanbieter da sein und mithelfen, dass Heimpflege in guter Qualität angeboten wird. Erst in der jüngsten Ausgabe seines Nachrichtendienstes ist eine Arbeitshilfe zur Anwendung des Heimrechts veröffentlicht worden.

Als ehemaliger Landesminister weiß ich aber auch, wie schwierig es häufig für ein Land ist, vom Bund vorgegebene Maßgaben im Widerstreit miteinander umzusetzen. Ich bin deshalb ein entschiedener Verfechter davon, dass die inhaltliche Verantwortung und die Finanzverantwortung in einer Hand liegen sollen.

Die Föderalismusreform bietet uns die historische Chance, die vertikal verflochtenen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten von Bund und Ländern klarer zu trennen. Damit eröffnen wir neue Spielräume für Verantwortung.

Davon werden alle profitieren: Bund und Länder werden Gesetzgebung schneller und effizienter umsetzen. Der einzelne Bürger wird staatliches Handeln besser verstehen und eigenverantwortlicher und souveräner handeln können.

Auch die Kommunen profitieren von der Reform. Zukünftig dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht durch Bundesgesetz übertragen werden.

Eine bürgernahe Wahrnehmung von Aufgaben kann am besten vor Ort erfolgen. Die Verlagerung von Materien in Landesgesetzgebungskompetenz, zum Beispiel beim Ladenschluss und beim Gaststätten- sowie Versammlungsrecht, entspricht dem Prinzip der Subsidiarität. Die Landtage werden gestärkt. Dies kommt letztlich den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern zu Gute und stärkt ihre demokratische Teilhabe.

Zweitens: Auch in der Gesundheitspolitik sind Reformen unausweichlich. In der Vergangenheit hat es ja nicht an redlichen und etlichen Versuchen gemangelt, durch Reformen die Leistungsfähigkeit und zugleich die Finanzierbarkeit des Systems zu erhalten. Das bleibt das Ziel unserer Politik. Aber wir wissen doch, dass das in den bestehenden Strukturen nicht geht.

Sie wissen, dass die beiden Koalitionspartner dazu unterschiedliche Modelle entwickelt hatten. Wir werden aber einen gemeinsamen Weg finden, das Gesundheitssystem so neu auszurichten, dass es generationenübergreifend und zukunftssicher wird.

Ich bin überzeugt, dass wir dazu mehr Wettbewerb brauchen. Damit erschließen wir Effizienzreserven im System. Damit bleibt der medizinische Fortschritt auch weiter für alle finanzierbar und zugänglich.

Wettbewerb ist aber auch als "Entdeckungsverfahren" gefordert. Denn neben der Effizienzsteigerung entwickelt Wettbewerb das Wissen selbst weiter. Wir brauchen Wettbewerb deshalb auch, damit sich der medizinisch-technische Fortschritt entwickeln kann und zukünftig noch bessere Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Die Qualität der Leistungen werden wir durch eine bessere Vernetzung der Leistungserbringer steigern. Dies kann zum Beispiel durch direkte Vernetzung im Rahmen von Integrierter Versorgung oder Medizinischen Versorgungszentren erfolgen. Ein Beitrag dazu sind auch die neuen Möglichkeiten, die eine elektronische Gesundheitskarte bietet.

Wir müssen schließlich dazu kommen, Eigenverantwortung im System zu belohnen. Das geschieht heute viel zu wenig und wird mit den bisherigen Maßnahmen zur Eigenbeteiligung nicht befriedigend erreicht. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: ich sage nicht Eigenverantwortung und meine einfach höhere Kosten für alle. Ich meine vielmehr wirkliche Verantwortung für die eigene Gesundheit.

Drittens: In Bezug auf die Alterssicherung möchte ich nur einen Aspekt herausgreifen: Wie schaffen wir einen besseren Ausgleich zwischen denen, die Kinder haben und denen, die keine Kinder haben?

Kinder großzuziehen ist ein Glück und Verantwortung zugleich. Kinder großziehen heißt aber auch Verzicht und finanzielle Belastung.

Nach wie vor sind es noch überwiegend die Frauen, die der Kinder wegen nicht durchgehend voll erwerbstätig sind, durch Berufsunterbrechung und Teilzeitarbeit Einbußen in der Alterssicherung haben. Mit der Anerkennung von Erziehungszeiten, durch Berücksichtigungszeiten und die kindbezogene Höherbewertung von Beitragszeiten haben wir in der Rentenversicherung viel getan, um die Lasten künftig besser auszugleichen.

Um ein auskömmliches Einkommen im Alter zu haben, muss in Zukunft auch die zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge einen höheren Stellenwert erhalten. Das Umlageverfahren allein kann wegen des demografischen Wandels den Lebensstandard nicht mehr sichern.

Wir werden deshalb den Aufbau der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge für junge Familien besser fördern. Die Kinderzulage wird für die ab 1. Januar 2008 geborenen Kinder von dann 185 Euro auf 300 Euro jährlich erhöht. Auch die Einbeziehung des selbst genutzten Wohneigentums in die geförderte Altersvorsorge ist eine Verbesserung für Familien mit Kindern.

Neben die Solidarität der gesetzlichen Rente muss aber ergänzend die durch Eigenverantwortung geprägte zusätzliche Altersvorsorge treten. Der Staat fordert mehr Eigenverantwortung und fördert sie als sozialer Staat über die Steuerpolitik, ohne sich völlig zurückzuziehen.

Viertens: Die Frage der Verantwortung im Sozialstaat stellt sich auch in der Familienpolitik.

Familien tragen Verantwortung und die ganz überwiegende Mehrheit der Familien kommt - allen Meldungen über das manchmal dramatische Versagen von Familie zum Trotz - mit dieser Verantwortung gut zurecht. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen immer wieder, dass der Zusammenhalt in den Familien gut ist. Das soziale Netzwerk Familie funktioniert, über die Generationen hinweg leisten die Familienmitglieder sich gegenseitig Hilfe.

Die Politik hat in der Vergangenheit viel zu wenig die Stärken von Familien beachtet. Diese wurden als gegeben angesehen. Familienpolitik wird aber immer noch eher als eine Unterabteilung der Sozialpolitik betrachtet. Familienpolitik ist als überwiegend Nachteilsausgleich gestaltet, um Schwache zu unterstützen. Wir tun das selbst da, wo wir von der Anerkennung der Erziehungsleistung sprechen: So ist das Erziehungsgeld tatsächlich eine einkommens- und damit bedarfsabhängige Sozialleistung.

Mit dem Elterngeld wollen wir einen neuen Weg gehen. Wir wollen den jungen Menschen Mut machen, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Wir wollen dabei gerade diejenigen unterstützen, die wegen ihrer guten Ausbildung beruflich besonders engagiert und zugleich besonders häufig kinderlos sind: Die Akademikerinnen und Akademiker.

Ich weiß, dass es manchen nicht gefällt, dass das Elterngeld umso höher ausfallen soll, je höher vor der Geburt des Kindes das Einkommen desjenigen Elternteils war, der zu Hause beim Kind bleibt.

Wir sehen heute, dass diejenigen, die sich Kinder am ehesten leisten könnten, besonders häufig auf sie verzichten. Hier wollen wir mit einem attraktiven Angebot gegensteuern und den Verdienstausfall in der ersten Lebensphase des Kindes zumindest teilweise kompensieren.

Das Elterngeld ist keine kinderbezogene Hilfsleistung für Schwache, sondern wie im Falle von Arbeitslosigkeit und Krankheit eine Lohnersatzleistung.

Natürlich gehört zu einer Familienpolitik auch ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Da gibt es noch Lücken, erhebliche Lücken sogar. Länder und Kommunen haben aber trotz der angespannten Haushalte in den letzten Jahren viel getan. Nur Kinderbetreuung und Ersatz für wegfallendes Gehalt bei der Entscheidung für Kinder sind gar kein Gegensatz.

Noch ein paar Worte zu den umstrittenen Vätermonaten. Wir können die Väter nicht zwingen, für eine kurze Zeit aus dem Beruf auszusteigen und sich den Kindern zu widmen. Und wir wollen Eltern nicht vorschreiben, wer die Kinder erzieht. Das tun wir mit dem Elterngeld auch nicht.

Aber Politik kann Signale setzten: Für Väter, damit sie mehr Verantwortung für die Erziehung der Kinder übernehmen. Für Arbeitgeber, die sich daran gewöhnen müssen, dass auch Männer Familienpflichten wahrnehmen. Das ist auch ein wichtiger Schritt zu mehr Gleichberechtigung, mehr aber noch für mehr Erziehung.

Fünftens: Die Bundeskanzlerin hat die Migrationsbeauftragte ins Bundeskanzleramt geholt. Sie will damit unterstreichen, wie wichtig ihr das Thema ist.

Wir wollen die erfolgreiche Integration bei uns lebender Menschen nicht-deutscher Herkunft. Nicht erst die Ereignisse in der Berliner Rütli-Schule haben deutlich gemacht, dass hier erheblicher Handlungsbedarf besteht.

Dabei sind die grundlegenden Voraussetzungen, die der Staat regeln kann und die zu einer erfolgreichen Integration notwendig sind, geschaffen: Wir haben ein modernes Zuwanderungs- , Staatsbürgerschafts- und Aufenthaltsrecht. Wir helfen den Migrantinnen und Migranten, die deutsche Sprache zu lernen.

Die Bundesregierung wird in den nächsten Monaten im Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen erörtern, wie die Integration in Deutschland weiter verbessert werden kann, durch den Bund, die Länder und insbesondere vor Ort, in den Kommunen.

Integration muss aber auch von denen gewollt sein, die zu uns kommen und die hier bleiben oder schon hier sind. Sie stehen in der Verantwortung, sich der deutschen Gesellschaft, ihrer Sprache und ihren Werten zu öffnen, das rechtli0che und politische System zu akzeptieren.

Und Integration muss von denen gewollt sein, die Migranten bei sich aufnehmen. Da sind wir alle gefordert - und an erster Stelle in den Kommunen. Die Gemeinde ist der beste Ort für eine aktive Einbindung der Migranten in lokale Aktivitäten, in Sport- und andere Vereine. In der Kommune kann die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit Ausländerbeiräten und Migrantenvertretern organisiert werden. Und es ist die Kommune, die bei Entstehung städtischer Problembezirke entgegenwirken kann.

Eine besondere Verantwortung haben natürlich die Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche vom Kindergarten an. Die Beherrschung der Sprache ist die wichtigste, aber nicht die einzige Voraussetzung für Erfolg in Schule und Beruf. Es ist Aufgabe der Erzieherinnen, der Lehrerinnen und Lehrer, frühzeitig Probleme zu erkennen und auf Hilfsangebote hinzuweisen.

Und es ist die Verantwortung der Eltern, ihren Kindern beim Weg in die neue Gesellschaft zu helfen. Die müssen wir sehr viel stärker einfordern, als dies in der Vergangenheit häufig der Fall war.

Sechstens: Verantwortung im Sozialstaat ist besonders lebendig im zivilgesellschaftlichen Engagement.

Der Deutsche Verein ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Als er vor 125 Jahren gegründet wurde, vertraten seine Mitglieder damit ein zivilgesellschaftliches Anliegen. Das war typisch für Reformbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Zivilgesellschaftliches Engagement hat in Deutschland eine lange Tradition, die besonders in den Kommunen lebt. Nirgendwo sonst sind Bürgerinnen und Bürger so unmittelbar von Entscheidungen der öffentlichen Hand betroffen. Und nirgendwo sonst nehmen Bürgerinnen und Bürger so intensiv Einfluss auf das öffentliche Leben.

Heute wird uns Politikern ja gerne vorgeworfen, wir würden bürgerschaftliches Engagement besonders dann loben und fordern, wenn wir kein Geld mehr für Soziales haben. Dem widerspreche ich entschieden. Wer das behauptet, hat den Wert zivilgesellschaftlichen Engagements für das Zusammenleben der Menschen nicht begriffen.

Für mich ist zivilgesellschaftliches bürgerschaftliches Engagement ein Ausdruck von Freiheit und Verantwortung. Ein Gemeinwesen kann nur gut funktionieren, wenn die Einzelnen bereit sind, Verantwortung für sich und das Ganze mit zu übernehmen. Es ist Aufgabe des Staates, den notwendigen Freiraum dafür zu schaffen, nicht durch mehr Geld, sondern durch mehr Freiheit und weniger Vorschriften.

Meine Damen und Herren,

die Herausforderungen, die wir alle vor uns haben, sind groß.

Es wird eine schwere, aber auch eine lohnende Aufgabe sein, den Schutzauftrag des Staates neu zu definieren und die Frage zu beantworten, wie viel Verantwortung der Einzelne tragen kann, bis der Fürsorgeauftrag greifen muss.

Wir brauchen Räume für Bürgerinnen und Bürger, um Verantwortung für sich und das Gemeinwesen noch besser wahrnehmen zu können. Klar ist aber auch: Wer Verantwortung im Sozialstaat übernimmt, muss Freiheit wollen und wagen.

Es gibt keine Freiheit ohne Bindung und ohne Verantwortung. Es gibt aber auch umgekehrt keine Verantwortung ohne Freiheit. Betreuung und Fürsorge sind notwendig, um Not abzuwenden. Sie können und sollen auch vorsorgend sein. Aber sie dürfen nicht abhängig und unselbständig machen. Das weiß jeder Sozialarbeiter. Und in diesem Sinne muss weitergearbeitet werden, von allen Beteiligten, mit Mut zur Verantwortung.