Redner(in): Angela Merkel
Datum: 15.05.2006
Anrede: Sehr geehrte Frau Köhler, Frau Simonis, liebe Freunde und Unterstützer von UNICEF, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/05/2006-05-15-rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-der-gala-veranstaltung-60-jahre-unicef-fuer-,layoutVariant=Druckansicht.html
Nach der schmeichelhaften Jahreszahl, zu der das Foto gemacht wurde, das Ihnen hier vorgeführt wurde, würde ich sagen: Informieren Sie sich noch einmal richtig über das Geburtsdatum. Ansonsten darf ich Ihnen verraten: Ich bin noch nicht 60. Dafür ist UNICEF aber 60, und ich freue mich, heute gemeinsam mit Ihnen diesen Geburtstag zu feiern, und das erst recht an einem 15. Mai, an einem internationalen Tag der Familie.
Ich möchte gleich zu Beginn all denen, die UNICEF unterstützt haben und heute noch unterstützen, ein ganz herzliches Dankeschön sagen und viele Menschen bitten, UNICEF weiterhin Unterstützung zukommen zu lassen. Es können angesichts der Lage der Welt nicht genug Menschen sein, die sich dafür entscheiden. So, wie Millionen deutscher Familien nicht vergessen haben -wir haben es eben im Film gesehen- , wie UNICEF nach dem 2. Weltkrieg zahllosen Kindern, die Not gelitten haben, geholfen hat, so beeindruckt UNICEF auch heute durch professionelle, durchdachte Soforthilfe -wenn ich nur an die Tsunami-Katastrophe oder das Erdbeben in Pakistan denke- , aber natürlich auch durch langfristig angelegte Programme und, wie wir eben gehört haben, auch durch Programme, die sich zum Ziel gesetzt haben, Strukturen zu verändern.
UNICEF, das darf man nach 60 Jahren sagen, hat unzähligen Kindern in aller Welt entscheidend geholfen, ihnen Chancen für Bildung und medizinische Versorgung zu eröffnen und ihnen ein menschliches Leben zu ermöglichen. Aber was vielleicht genau so wichtig wie diese praktische Hilfe ist, ist, dass sich UNICEF immer als Anwalt der Kinder versteht. UNICEF ergreift öffentlich Partei für die, die für sich selbst noch nicht Partei ergreifen können. UNICEF schützt die Rechte der Kinder weltweit. Die Frage, die Herr Seibert eben auch gestellt hat und die sich natürlich jeder Mensch stellt, wenn er darüber reflektieren kann, nämlich ob wir in einer kindgerechten Gesellschaft leben wollen, würde natürlich von jedem -nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt- mit einem klaren Ja beantwortet werden. Aber wie kann man konkret dazu kommen?
Die Kinder in der Welt leben unter völlig unterschiedlichen Bedingungen. Sie werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Sie erleiden schreckliche Misshandlungen. Sie werden als Kindersoldaten missbraucht. Sie haben zum Teil die Krankheit AIDS oder sie haben ihre Eltern verloren. Arme Kinder, die nicht genug zu essen haben, und arme Kinder in reichen Ländern, Kinder mit reichen Eltern, die trotzdem nicht glücklich sind. All das sind die Bedingungen, unter denen Kinder heute häufig leben. Jeder von uns -das ist abstrakt gesagt, aber es ist so- weiß: Jeder Mensch auf dieser Welt hat nur eine Kindheit. Es ist ein Glück, wenn man sich an seine Kindheit erinnern und sagen kann: Das war eine glückliche Kindheit. Deshalb ist es doch so, dass sich alle Menschen wünschen, dass ihre Kindheit eine Zeit ist, in der sie lernen dürfen, in der sie ohne Hunger und möglichst ohne Krankheiten aufwachsen, in der sie Eltern haben, die die Kraft und die Zeit haben, sich um die Kinder zu kümmern, und die den Kindern Werte wie Vertrauen, Liebe und Zuneigung -Dinge, die nicht ganz selbstverständlich sind- beibringen.
Meine Damen und Herren, hier in diesem Saal sind viele, die es sich zum Ziel gemacht haben, dort, wo das, was wir uns alle wünschen, aber nicht selbstverständlich ist, ein Stück weit zu helfen, Hoffnungen in Realitäten umzusetzen, Menschen, die verzweifelt sind, eine Chance zu geben, und sich eben dafür einzusetzen, Strukturen zu schaffen, die dafür Sorge tragen, dass es Kinder, die nach den heute im Elend lebenden Kindern geboren werden, besser haben werden. Genau hier liegt auch die Schnittstelle zwischen denen, die sich ehrenamtlich, freiwillig engagieren, und den staatlichen Strukturen und der internationalen Staatengemeinschaft.
Meine Damen und Herren, deshalb ist es gut, sagen zu können, dass die Vereinten Nationen von Beginn an gewusst haben, welche Möglichkeiten, aber auch welche Verantwortung sie haben. Sie haben mit der UN-Kinderrechtskonvention einen für alle Mitglieder verbindlichen Katalog der Kinderrechte entwickelt. Dass diese Kinderrechtskonvention nicht nur eine Konvention ist, die die allermeisten Staaten unterschrieben haben, sondern eine ist, die dann auch in die Praxis umgesetzt wird, ist ein zentrales und berechtigtes Anliegen von UNICEF.
Ich weiß, dass selbst in Deutschland die Unterzeichnung und die Ratifizierung nicht so einfach waren. Ich war von 1990 bis 1994 Jugendministerin und habe mich mit diesem Thema beschäftigt. Aber die UN-Kinderrechtskonvention schreibt eben das Recht von Kindern und Jugendlichen auf körperliche Unversehrtheit vor, auf Schutz vor Gewalt und Ausbeutung. Sie gibt den Kindern das Recht auf Bildung, Zugang zu elementarer Gesundheitsvorsorge und Mitsprache bei Fragen, die die eigene Lebensgestaltung anbelangen. Die UN-Kinderrechtskonvention ist damit so etwas wie eine Richtschnur auf dem Weg zu der Frage, welche Standards, Situationen und Gegebenheiten wir denn schaffen müssen, damit wir das Wort "kindgerecht" auch wirklich realistisch in den Mund nehmen dürfen.
Dabei sind Regierungen und Gesellschaften insgesamt gefragt. Im Grunde sind in unserem Land und in allen anderen Ländern alle gefragt, weil es um die Zukunft jedes Landes geht, weil es um einzelne Menschen geht und weil es darum geht, ob man zuschaut, wegschaut oder ob man mit anpackt und einfach ein Stück Mut hat, Courage zeigt und sagt: Ich kümmere mich darum. Ich finde, Frau Simonis hat es eben wunderschön gesagt: Viele Menschen denken, sie könnten nur einen kleinen Beitrag leisten, so dass es sich nicht lohnt. Ich glaube, die Botschaft, die wir gemeinsam immer wieder überbringen sollten, lautet: Jeder kleine Beitrag ist gefragt, weil er unsere gesamte Gesellschaft und die Welt ein Stück hin zu mehr Kinderfreundlichkeit verändert.
Meine Damen und Herren, kindgerechte Gesellschaften sind Gesellschaften, die Kindern das Lernen ermöglichen. Frau Köhler hat darauf hingewiesen, was für ein wunderschönes Erlebnis es ist, wenn Kinder das, was sie so gerne möchten, nämlich sich entwickeln, durch Lernen und Bildung auch umsetzen können. Kindgerechte Gesellschaften sind aber auch auf Nachhaltigkeit, auf die Zukunft hin angelegt. Kinder- und familienfreundliche Gesellschaften denken nicht nur an heute, nicht nur an einen kurzen Horizont, sondern kinder- und familienfreundliche Gesellschaften denken über die eigene Generation hinaus.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein relativ reiches Land. Die überwiegende Zahl der Menschen wächst, verglichen mit den Schicksalen derer, von denen wir hier heute schon hören mussten, in einer guten Situation auf. Trotzdem gibt es bei uns viel zu tun. Viele außerhalb unseres Landes schauen auf Deutschland und fragen: Was schafft man in einem Land, dessen Lebensstandard höher ist? Dabei mussten wir auch feststellen: Es gibt Gewalt unter Kindern, Gewalt in Familien, Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern. Wir haben Probleme bei der Integration. Wir haben nicht die Situation, dass jeder junge Mensch eine Lehrstelle bekommt. Wir haben anhaltende Arbeitslosigkeit. Das heißt, dass wir uns genau um diese Probleme kümmern müssen, dass wir sie lösen müssen, dass wir handeln müssen. Gerade, wenn es um Kindesmisshandlung und um Gewalt gegen Kinder geht, gibt es auch in unserem Land eine unablässige Diskussion darüber, dass man eben nicht schweigt, wenn die Haustür einer Familie zugegangen ist, sondern dass man sich einmischt, wenn es notwendig ist.
Die Bundesregierung hat sich mit einem Aktionsplan für ein kindgerechtes Deutschland verpflichtet: Wir wollen unser Land kinderfreundlicher machen. Das gilt insbesondere für die Bereiche Bildung und Ausbildung, für Gewaltprävention, für Gesundheit und gesellschaftliche Beteiligung und natürlich auch für Armutsprävention. Wir wollen mit Politik natürlich auch fördern, dass unsere Gesellschaft kinderfreundlicher wird. Wir wissen aber, dass Politik das alleine nicht schaffen kann. 2005 sind in Deutschland bei immerhin mehr als 80Millionen Einwohnern weniger als 700. 000Kinder geboren worden. Das ist ein trauriger Minusrekord. Eine Gesellschaft, der es von Jahr zu Jahr eigentlich eher besser geht, die aber eine Gesellschaft ist, die immer weniger Kinder hat, muss sich eine Vielzahl von Fragen stellen. Deshalb versuchen wir mit politischen Maßnahmen -ich nenne nur die Stichworte Elterngeld, Verbesserung von Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder, Ganztagsschulen- , Antworten zu geben, die aber immer nur Stückwerk sein können im Hinblick auf die Frage: Was macht eine kinderfreundliche Gesellschaft insgesamt aus?
Eine kinderfreundliche Gesellschaft ist eine, die die Fähigkeit hat, in die Zukunft zu blicken, die sich selbst vertraut, die Menschen hat, die mutig anpacken. Ich glaube, die Arbeit von UNICEF ist auch für uns in Deutschland in ganz besonderer Weise ein Ansporn. Denn wenn man sieht, mit welchem Lebensmut, welcher Freude und welchem Elan unter weitaus schlechteren und schwierigeren Bedingungen Probleme in Angriff genommen werden, dann, finde ich, können wir uns ermutigt fühlen, auch in unserem eigenen Land für mehr Kinderfreundlichkeit zu sorgen.
Ehrenamtliche Tätigkeit und Spenden -das sind wichtige Pfeiler für die Arbeit von UNICEF in aller Welt. Wir alle werden immer wieder durch unsere Botschafterinnen beeindruckt, die für UNICEF durch die Welt reisen, weil sie uns durch Bilder und Geschichten die Dinge sehr nahe bringen und auch ein Stück weit erlebbar machen, wie eben auch die Kinder über andere Kinder erzählt haben. Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass UNICEF in den nächsten 60Jahren weiterhin auf so viele Menschen bauen kann, die die Dinge mutig angehen. Ich wünsche mir, dass Frauen und Männer -wir haben den Geschäftsführer gesehen- , aber vielleicht auch noch mehr Männer -wir reden ja im Moment über die Rolle des Vaters in der Gesellschaft- als Botschafter für die Kinder dieser Welt uns die Schicksale nach Hause bringen, damit wir verstehen: Wir leben in einer Welt, einer globalen Welt. Uns darf das Schicksal von anderen Kindern nicht egal sein. Denen, die bei UNICEF engagiert sind, ist es schon lange nicht egal. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön und uns allen die Kraft, dass wir uns für die Kinder dieser Erde engagieren. Herzlichen Dank!