Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 17.05.2006

Untertitel: In seiner Rede zur Eröffnungder Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im Deutschen Historischen Museum am 17. Mai 2006 in Berlin betonteKulturstaatsminister Bernd Neumann, dass die Ausstellung ein Herzstück für künftiges Gedenken an Vertreibung sein soll.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/05/2006-05-17-eroeffnung-der-ausstellung-flucht-vertreibung-integration-in-berlin,layoutVariant=Druckansicht.html


in unserem Kreise heute Abend bin ich sicher nicht der einzige, den bei dieser Ausstellung seine Kindheit einholt. Bei mir werden Erinnerungen wach an meinen Geburtsort Elbing in Westpreußen, weniger eigene Erinnerungen als solche aus Erzählungen meiner Eltern: unsere Flucht am 26. Januar 1945 bei -20 Grad Kälte, mit einem einzigen Schlitten ausgerüstet, auf dem ich saß und der von meinen Eltern gezogen, sich in den langen Flüchtlingstreck einordnete. Seitdem habe ich Bücher und Filme zu Flucht und Vertreibung mit besonderer emotionaler Anteilnahme wahrgenommen. Dies gilt auch für Siegfried Lenz und seinen berühmten Roman "Heimatmuseum". Zygmunt Rogalla, die Hauptfigur, verbrennt schließlich das von ihm mit so viel Mühe aufgebaute Museum mit den Erinnerungen, den Überresten aus seiner alten Heimat. Ein unwiederbringlicher Verlust - Angst vor politischer Vereinnahmung ist Ursache für diese Verzweiflungstat. Lenz schrieb seinen Roman vor über dreißig Jahren.

Meine Damen und Herren, aber auch nach 30 Jahren sind wir - insbesondere im Hinblick auf die junge Generation - immer wieder gehalten, das Vergangene in Bezug auf eine veränderliche Gegenwart aufs Neue zu befragen, ihre Bedeutung für unser Leben heute abzuwägen, zu überdenken, vielleicht auch neu zu gewichten.

Der Wunsch nach Vergewisserung in der Vergangenheit ist eine wesentliche Ursache für den Erfolg vieler Ausstellungen. Dies gilt auch für die Ausstellung die wir hier und heute eröffnen. Schon in Bonn auf ihrer ersten Station hat sie sich eines ungewöhnlichen Besucherzustroms erfreut und eines so positiven Presseechos, das seinesgleichen sucht. Nicht nur, weil sie auf hohem wissenschaftlichem Niveau ein wichtiges geschichtliches Thema behandelt und einem breiten Publikum vermittelt, sondern auch und vor allem, weil sie eine aktuelle Debatte um die Geschichte der Deutschen und ihrer östlichen Nachbarn im europäischen Kontext zukunftsorientiert aufgreift.

Die Initialzündung zu dieser Ausstellung kam im übrigen von meiner Kollegin Erika Steinbach, die 1999 in einem von mir vermittelten Gespräch mit dem damaligen Kulturstaatsminister Naumann "Flucht und Vertreibung" thematisierte - mit dem Ergebnis, dass Naumann dann beim Haus der Geschichte eine Ausstellung anregte.

Flucht und Vertreibung sind heute Stichworte für eine öffentliche Diskussion über die Folgen des Zweiten Weltkrieges, welche in der deutschen Öffentlichkeit, aber auch bei unseren östlichen Nachbarn seit Jahren lebhaft, nicht selten kontrovers geführt wird. Teil dieser Debatte sind auch die öffentliche Erinnerung und Aufbereitung: wie kann man Ursachen, Verlauf und Folgen der Ereignisse, die 1945 Grenzen verschoben, Menschen entwurzelt und das Gesicht Europas verändert haben, sichtbar vermitteln? Diese Debatte ist weder rückwärtsgewandt, noch hat sie etwas mit Relativierung zu tun: Wir wollen nichts ausklammern und nichts beschönigen.

Die Aufarbeitung dieser Ereignisse im historischen Kontext, zusammen mit unseren Partnern in der Europäischen Union, im Geist der Verständigung und Versöhnung, ist für die Bundesregierung eine Verpflichtung und mir ein persönliches Anliegen.

Es darf keinen Zweifel darüber geben, dass die Ursache für Flucht und Vertreibung nicht im Ende des Krieges zu suchen ist. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener barbarischen Gewaltherrschaft, die den Krieg suchte und im deutschen Namen einen Vernichtungsfeldzug führte.

Dieser Krieg schlug aber auch mit brutaler Konsequenz auf Deutschland und die deutsche Bevölkerung zurück, bis hin zur Abtrennung der östlichen Gebiete und zur Teilung des Landes. Es war in der Regel der Zufall, der die über zwölf Millionen Vertriebenen in die eine oder andere alliierte Besatzungszone gelangen ließ. Die Konsequenzen dieses Zufalls waren mit einem Leben in der DDR bzw. in der Bundesrepublik grundverschieden und mit dem Mauerbau 1961 auf viele Jahre hin unabänderlich.

Meine Damen und Herren, die Eingliederung von Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen ist eine der großen Leistungen Nachkriegsdeutschlands und ganz besonders eine Leistung der Betroffenen selbst. Die Vertriebenen und Flüchtlinge haben beim Wiederaufbau eine ebenso erfolgreiche wie unverzichtbare Arbeit geleistet. Dies gilt im Hinblick auf die erfolgreiche, wenngleich anfänglich keineswegs reibungslose Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge ebenso wie für die noch andauernde Aufgabe der Integration der Spätaussiedler.

Die ab heute hier im Deutschen Historischen Museum präsentierte Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" widmet sich dieser Geschichte. An der Ausstellung haben Museumsfachleute, Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mitgearbeitet; auch Historiker aus Polen und Tschechien haben das Vorhaben aktiv unterstützt oder sind im Begleitband als Autoren vertreten. Die Ausstellung verdeutlicht exemplarisch, wie eine zeitgemäße Geschichtsaufarbeitung stattfinden kann. Sie zeigt die Unterschiede in Lebenswegen, Entfaltungsmöglichkeiten und Freiräumen individueller und kollektiver Erinnerung an die Heimat in Ost- und Westdeutschland.

Die Erarbeitung und Präsentation einer gesamtdeutschen Vertreibungs- und Integrationsgeschichte ist in Anbetracht der disparaten Quellenlage ein großes Verdienst der Ausstellungsmacher der Stiftung "Haus der Geschichte", zumal eine solche doppelte Perspektive in zeithistorischen Ausstellungen keineswegs selbstverständlich ist.

Die Tatsache, dass diese Ausstellung gezeigt wird, resultiert vornehmlich aus zwei Gründen. Zum einen gibt es in Deutschland generationenübergreifend ein Erinnerungs- und Wissensbedürfnis über die Umstände und Ursachen der Vertreibung. Dieses Interesse sollte nicht als Indiz für einen vermeintlichen Wunsch nach Umdeutung deutscher Geschichte beargwöhnt werden, vielmehr ist es als Zeichen der Vergewisserung der verschiedenen ost- und westdeutschen Erfahrungen und -Selbstdeutungen zu begreifen. Zum zweiten ist die Ausstellung geeignet, ein allgemeines Interesse für die Herkunftsregionen der Vertriebenen zu wecken, für ihre Schicksale und ihre Lebenswege; denn dies alles ist Bestandteil deutscher Geschichte, die für uns nicht nur Erinnerung, sondern auch Mahnung für die Zukunft ist.

Meine Damen und Herren, in der 2005 geschlossenen Koalitionsvereinbarung bekennen sich die Regierungsparteien ausdrücklich zur gesellschaftlichen sowie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir haben vereinbart, dass im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen gesetzt werden soll, um - in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität - an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten.

Die Aufarbeitung dieser Thematik ist im Interesse aller Deutschen und Europäer. Darüber, wie dieses sichtbare Zeichen gestaltet werden kann, führen wir mit Fachleuten im In- und Ausland, mit Kollegen aus der Politik, aber auch mit Betroffenen selbst, d. h. mit den Vertriebenen, viele Gespräche und werden Anregungen und Vorschläge einbeziehen. Diese Ausstellung ist wesentlich mehr als eine wichtige Vorarbeit für dessen Realisierung. Sie soll ein Herzstück einer künftigen Dauerausstellung sein, mit der wir die Forderung des Koalitionsvertrages nach einem "sichtbaren Zeichen" erfüllen wollen. Die Realisierung im Zentrum Berlins bereiten wir vor. Wir wollen diese Ausstellung bei der Darstellung von Flucht und Vertreibung um weitere Aspekte erweitern. Hierbei sollen auch Schicksale insbesondere aus denjenigen Ländern einbezogen werden, mit denen wir im Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität partnerschaftlich zusammenarbeiten.

Wir laden unsere Partner im Europäischen Netzwerk zur Mitarbeit recht herzlich ein. Vor allem die in dieser Ausstellung so vorbildlich in den Vordergrund gestellten Lebenswege sollen in einen europäischen Rahmen gestellt werden. Schon jetzt können sie über 300 Einzelschicksale nacherleben, darunter zahlreiche aus ehemals ostpolnischen, baltischen und ukrainischen Gebieten. Weitere werden mit ihrer Unterstützung hinzukommen. Die Auseinandersetzung der Ausstellungsbesucher mit dem leidvollen Schicksal der Betroffenen wird den Dialog auch und gerade mit unseren östlichen Nachbarn wesentlich fördern und im europäischen Kontext zum wechselseitigen Verständnis unserer Geschichte beitragen.

Sie sehen, meine Damen und Herren, die Ausstellung ist Teil einer zukunftsorientierten Form des Umgangs mit deutscher und europäischer Geschichte. Dafür haben alle an der Gestaltung dieser Ausstellung Beteiligten - insbesondere im Haus der Geschichte - mit großem Engagement gewirkt, für das ich ausdrücklich danke. Auch darum möchte ich der Ausstellung auf ihrer nun zweiten Station Berlin - die nächste ist Leipzig - viele Besucher wünschen. Möge sie die lebendige Debatte über das Wie und Warum von Erinnerung weiter anregen. Denn das ist eine Aufgabe, die der permanenten Anstrengung und adäquaten Vermittlung bedarf, der sich die Nachwachsenden wie auch die Erlebnisgeneration nicht entziehen dürfen.