Redner(in): Angela Merkel
Datum: 24.05.2006

Anrede: Sehr geehrter Herr Sommer, sehr geehrtes Präsidium, sehr geehrte Delegierte, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/05/2006-05-24-rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-beim-18-dgb-bundeskongress,layoutVariant=Druckansicht.html


Lieber Herr Sommer, zuerst möchte ich Ihnen zu Ihrer Wiederwahl als Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes ganz herzlich gratulieren. Ich freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit. Mein Glückwunsch gilt natürlich auch den weiteren Mitgliedern des DGB-Bundesvorstands. Ich glaube, wir sind uns einig: Sie alle tragen eine große Verantwortung für unser Land. In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen allen.

Sie selbst haben die Aufgabe und die Verantwortung, die das in der Tat bedeutet, ganz eindringlich - Sie hätten es kaum eindringlicher tun können - mit dem Motto Ihres Bundeskongresses "Die Würde des Menschen ist unser Maßstab" benannt. Sie hätten es kaum anspruchsvoller formulieren können, denn Sie nehmen mit Ihrem Motto Bezug auf Artikel 1 unseres Grundgesetzes."Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Das ist der großartige Beginn unseres Grundgesetzes.

Dass die Menschenwürde am Anfang des Grundgesetzes steht, hat viele Gründe. Dieser Beginn des Grundgesetzes ist eine Absage an jedwede totalitäre Gesellschaftsform. Ich selber habe 35 Jahre lang am eigenen Leibe erfahren, was es bedeutet, wenn die Würde des Menschen nicht ausreichend im Mittelpunkt steht. Ich glaube, darüber, dass wir heute eine andere Situation haben, sind wir uns doch noch einig. Dieser Beginn des Grundgesetzes ist eine klare Absage an Gesellschaftsformen, in denen die Gemeinschaft alles und der Einzelne wenig oder gar nichts zählt. Das ist genau der Unterschied zwischen der grundgesetzlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und der Ordnung der früheren DDR. Gemeint ist in diesem Artikel 1 des Grundgesetzes wirklich jeder Einzelne, jeder einzelne Mensch, und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion, Nationalität, Herkunft oder anderen Unterscheidungsmerkmalen.

Ich sage deshalb aus gegebenem Anlass klipp und klar: Wer in unserem Land andere Menschen angreift, sie bedrängt oder gar töten will, weil sie zum Beispiel aus einem anderen Land kommen oder weil sie eine andere Hautfarbe haben, muss mit der ganzen Härte der Gesetze unseres Staates rechnen. Null Toleranz gegen extremistische Gewalt; das ist gelebte Menschenwürde im Sinne unseres Grundgesetzes.

Meine Damen und Herren! Die Menschenwürde als Maßstab bedeutet ein Weiteres. Sie bedeutet auch: Zuerst der Mensch und dann der Staat. Niemand darf den Menschen zum bloßen Objekt seines Handelns machen. Und jeder, der an diesem Grundsatz rütteln will, wird den entschiedenen Widerstand der Bundesregierung zu spüren bekommen. Denn dieser Grundsatz ist nicht irgendein Satz, sondern er ist zwingender Bestandteil dessen, was unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, stark gemacht hat; er ist zwingender Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft, der Sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftlicher Ordnung, aber auch als gesellschaftlicher Ordnung. Die Soziale Marktwirtschaft schafft den Ausgleich von Arbeit und Kapital, sie nimmt den Einzelnen als Subjekt und nicht als Objekt wahr. Die Soziale Marktwirtschaft erkennt Leistung an, sie ermöglicht Solidarität zwischen den Generationen, zwischen den Starken und den Schwachen.

Nun werden viele von Ihnen sagen: Schön und gut, alles richtig. Aber haben diese Worte noch etwas mit unserer heutigen Realität zu tun? Diese Frage muss gestellt werden; sie ist immer gestellt worden, und sie muss auch heute gestellt werden. Meine ehrliche wie sicherlich auch ernüchternde Antwort lautet: Nur noch in Teilen hat das etwas mit unserer Realität zu tun. Dazu reicht der Blick auf die Realität, dazu reicht jede Bestandsaufnahme. Fast fünf Millionen Arbeitslose in unserem Land, eine nicht immer gesicherte Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme, zu viele junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz haben, insgesamt rasante Veränderungen unserer Rahmenbedingungen durch die Globalisierung - das ist der Befund.

Ich sagte das in China, das ist auch hier gesagt worden: Andere Länder holen auf, sie alle spüren in ihrer Arbeitswelt, dass die Welt kleiner geworden ist. Es konkurrieren mehr Menschen als früher um die besseren Ideen. Der Wohlstand, den wir uns erarbeitet haben, ist nicht einfach mehr eine Selbstverständlichkeit. Das ist deshalb umso beunruhigender, als ich zutiefst davon überzeugt bin: Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft ist ohne jede vernünftige Alternative. Aber der Mensch - und da ist den Menschen auch gar kein Vorwurf zu machen - ist eben so geartet, dass die Soziale Marktwirtschaft jeden Einzelnen nur dann überzeugen wird, wenn sie sich für die Menschen in ihrem ganz persönlichen Leben als nützlich erweist: Bei Sicherheit im Alter, bei Sicherheit vor Krankheit, bei Gebrechen, bei Behinderung und natürlich auch bei der Suche nach einem Arbeitsplatz.

Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen erlebt die reale Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft so, wie sie heute ist, in der Praxis ganz anders. Die Menschen erleben auf der einen Seite solche, die Erfolg haben und denen alles an Veränderungen nicht schnell genug gehen kann, und sie erleben auf der anderen Seite diejenigen, die Angst und Sorge haben, einfach auf der Strecke zu bleiben. Die Menschen erleben Spaltungstendenzen zwischen Ost und West, zwischen Menschen ohne Arbeit und Menschen mit Arbeit, zwischen Älteren und Jungen. Ich sage ganz eindeutig: Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Und wenn ich sage, damit dürfen wir uns nicht abfinden, dann sage ich auch ganz bewusst als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und als Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands: Ich will starke Gewerkschaften. Ich will einen starken DGB.

Aber: Für den DGB gilt wie für jeden Verein, für jede Gruppe, für jede Partei, für jede Vereinigung, dass wir uns immer wieder fragen müssen - das ist es, was uns gemeinsam umtreiben muss - , ob die Antworten, die wir in der Vergangenheit im Übrigen sehr erfolgreich gegeben haben, heute noch gültig sind oder ob wir sie überprüfen müssen. Meine Antwort in einer Welt, die sich verändert, heißt ganz eindeutig: Wir brauchen Veränderungen; wir müssen die Dinge auf den Prüfstand stellen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn wir uns vor dieser kritischen Überprüfung drücken, werden wir vielleicht noch kurzfristig Erfolg haben, aber langfristig nach meiner festen Überzeugung nicht mehr. Wer sich nicht den richtigen Fragen stellt, wird zum Schluss selbst infrage gestellt. Das ist das, was wir miteinander besprechen müssen. Wir dürfen uns nicht in die Taschen lügen, sondern wir müssen nach Wegen der Veränderung suchen.

Dabei ist - darin stimme ich Ihnen völlig zu - die Würde des Menschen als Maßstab unseres Handelns zu sehen. Das ist der Maßstab unseres Handelns. Das war er in der Geschichte der Bundesrepublik, und das ist er auch für die Zukunft. Das bedeutet für mich eben kein Festhalten am Status quo, kein bloßes Klammern an das, was war, sondern das bedeutet, dass wir die Kraft zur Weiterentwicklung haben, und zwar mit einem festen Grundsatz - über den muss in jeder Facette gesprochen werden: Wir müssen erhalten, was sich bewährt hat, und wir müssen verändern, was uns heute belastet.

Während ich das sage, weiß ich sehr wohl, dass die Bundesregierung mit den Entscheidungen, die wir gerade in der letzten Woche im Deutschen Bundestag gefällt haben - zum Haushaltsbegleitgesetz zum Beispiel - , den Bürgern sehr viel abverlangt. Ich weiß, dass nicht wenige ganz persönlich finanziell sehr unter der Mehrwertsteuererhöhung leiden werden, auch wenn ein Prozent davon - daran möchte ich noch einmal erinnern - in die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge und damit in die Senkung von Lohnzusatzkosten geht, auch wenn der ermäßigte Steuersatz von sieben Prozent erhalten bleibt. Sie wissen, dass das gerade im Bereich von Lebensmitteln und anderen Gütern sehr wichtig ist.

Ich weiß und sage das ganz klar: Es geht nicht, auf der einen Seite den Bürgerinnen und Bürgern - und das ist jetzt wieder eine Erfahrung aus meiner China-Reise - etwas zuzumuten und auf der anderen Seite - ich bin froh darüber, dass das eben hier angesprochen wurde - einfach mal für ein Projekt, zum Beispiel für das Transrapid-Projekt, noch Bundesgelder zu geben, weil man eben sagt: Das muss so sein, weil China dafür noch Unterstützung braucht. Wir müssen natürlich mit dem Geld sehr sorgsam umgehen, aber ich sage noch einmal: Ich weiß, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern mit unseren Entscheidungen sehr viel zumuten. Aber wenn es immer heißt, wir müssen sparen, sage ich auch: Im Sparen sind weitere Maßnahmen enthalten, zum Beispiel der Abbau von Subventionen. Das heißt auch - das braucht man nicht schönzureden - : Sparen tut weh; denn Sparen spielt sich nicht im luftleeren Raum ab. Wir haben uns das nicht einfach gemacht. Aber, meine Damen und Herren, an einem führt kein Weg vorbei: Wir müssen unsere Haushalte sanieren. Wenn die Würde des Menschen unser Maßstab ist, ist auch die Würde derer, die heute jung sind oder die noch gar nicht geboren sind, unser Maßstab. Wir haben kein Recht dazu - das ist mit unserer Werteordnung nicht vereinbar - , durch Verschuldung heute die Lebenschancen von zukünftigen Generationen zu schmälern. Auch dieser Verantwortung muss sich die Bundesregierung stellen - und das tut sie.

Damit kommen wir an einen wichtigen Punkt. Ich weiß, dass wir die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft nicht mehr von dem Nutzen, von dem Wert, von der Notwendigkeit der Sozialen Marktwirtschaft überzeugen können, wenn wir glauben, dass ein einfacher Transfer der alten Sozialstaatlichkeit in die heutige Zeit möglich wäre. Wir dürfen nicht glauben, dass ein einfacher Transfer möglich ist, sondern wir müssen uns zur Strukturreform bekennen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.

Meine Damen und Herren! Genau über diese Fragen müssen wir miteinander diskutieren, denn ich weiß: Es führt kein Weg an Strukturreformen vorbei. Mit ihnen - das weiß ich auch - wird dabei vieles, gerade am Anfang, schwierig sein. Aber ohne sie wird nichts gelingen. Ich wäre froh, wir wären darüber im Grundsatz einig. Und jetzt werden wir konkret - machen Sie sich keine Sorgen, es kommt alles noch. Ich finde nur, wir müssen uns über die Grundsätze schon einig sein. Aus meiner Sicht heißt der Grundsatz: Ich weiß, dass es mit Strukturreformen am Anfang schwierig werden wird. Aber ich bin sicher: Wenn wir sie nicht machen, wird es am Schluss ganz bitter.

Konkret heißt das: Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt. Der Bundespräsident hat einen wichtigen und richtigen Satz gesagt: Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir so viel besser sein, wie wir teurer sind. Viele, die wissen, dass Teile ihrer Betriebe in anderen Ländern sind, kennen diese Erfahrung aus eigenem Erleben. Genau deshalb hat die Bundesregierung gesagt: Wir investieren in Forschung und Entwicklung. Genau deshalb habe ich das Thema in China angesprochen. Denn wenn das geistige Eigentum nicht geschützt wird, haben wir überhaupt keine Chance, aus dem, worin wir besser sind, den notwendigen Fortschritt für unsere Gesellschaft zu erzielen. Darum müssen wir in einer globalen Welt kämpfen. Dafür gibt es keine Toleranz, sondern das muss durchgesetzt werden. Wir werden das nächstes Jahr in der G8 -Präsidentschaft noch einmal ganz intensiv diskutieren.

Wenn wir über den Arbeitsmarkt reden, geht es eben - wir haben gerade im Kabinett darüber gesprochen - auch um den Ausbildungspakt. Es geht um die Chancen von jungen Leuten, in das Berufsleben hineinzukommen. Der Ausbildungspakt ist im Augenblick in einem Zustand, mit dem wir nicht zufrieden sein können, zu dem aber jeder seinen Beitrag leisten muss. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ausbildung - das wissen Sie aber auch - muss auch für Betriebe attraktiv sein. Deshalb, finde ich, gibt es sehr interessante Regelungen bei der IG BCE. Mit dem Tarifvertrag "Zukunft durch Ausbildung" für die Chemiebranche - man wird ja wohl einmal eine Gewerkschaft loben dürfen - wurde eine Steigerung des Ausbildungsangebotes vereinbart mit einer Einfrierung der Ausbildungsvergütung im Gegenzug, was, wie ich finde, eine wichtige Maßnahme darstellt und im Rahmen der Tarifautonomie für die jungen Menschen mehr Ausbildungschancen eröffnet. Das finde ich gut. - Ich habe ja lediglich das Handeln einer Einzelgewerkschaft belobigt. Es tut mir Leid, dass Sie das niederschreien. Aber das können Sie unter sich ausmachen.

Meine Damen und Herren! Ausbildung ist auch Vorsorge für die Zukunft. Knapp 40 Prozent der Arbeitslosen sind ohne Ausbildung. Das ist doch unser Problem. Deshalb muss der gesamte Schwerpunkt auf die Ausbildung gelegt werden. Und über 40 Prozent der Arbeitslosen sind schon länger als ein Jahr arbeitslos, und auch da trifft es wieder genau die, die keine Ausbildung haben.

Meine Damen und Herren! Ich finde, in die gesamte Debatte über die Frage "Wie kommen wir auf dem Arbeitsmarkt voran?" gehört auch eine Diskussion zum Thema Kombilohn. Es gibt ganz verschiedene denkbare Modelle, aber eine gemeinsame Idee dabei - und die sollten wir nun wirklich nicht verwerfen - ist: Über staatliche Transferleistungen wollen wir das Potential an Arbeitsplätzen in bestimmten Bereichen besser nutzen. Sie, der Deutsche Gewerkschaftsbund, haben immer gesagt: Lieber in Arbeit finanzieren als in Arbeitslosigkeit. Diese Devise muss weiter gelten. Dabei geht es nicht um flächendeckende Lösungen, aber es geht vielleicht darum, sich gerade auch um Problemgruppen zu kümmern. Und wir haben Problemgruppen in unserer Gesellschaft. Wir haben das Problem, dass viel zu viele ältere Menschen keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben, und wir wissen, dass wir da etwas tun müssen. Wir haben das Problem, dass unter 25-Jährige es häufig schwer haben, dass sie von einer Warteschleife in die andere kommen und keine richtige Perspektive haben. Wenn wir da den Kombilohn einsetzen, um Menschen in Arbeit zu überführen oder in Arbeit zu halten, dann kann ich nur sagen: Wir sollten dieses Instrument zumindest nicht verwerfen. Wir werden das in den nächsten Monaten diskutieren.

Ich komme zum Thema Mindestlohn. Ich stehe dieser Diskussion offen gegenüber. Ich weiß, dass im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie auf uns Situationen zukommen werden - nicht heute und nicht morgen, aber im Jahr 2011, wenn die komplette Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union erreicht ist - , in denen wir Länder haben, in denen das Lohnniveau deutlich unter dem bei uns liegt, weshalb wir uns überlegen müssen: Wie reagieren wir darauf? Für mich hat die gesamte Diskussion um den Mindestlohn ein Kriterium: Am Ende dieser Diskussion dürfen wir nicht weniger Arbeitsplätze in Deutschland haben, sondern wir müssen mehr Arbeitsplätze in Deutschland haben. Deshalb - das will ich dann auch nicht verschweigen - sage ich Ihnen: Einen einheitlichen, flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro halte ich nicht für richtig im Blick auf die Frage: Haben wir mehr Arbeitsplätze oder haben wir weniger Arbeitsplätze. Ich finde, es gehört zur Offenheit, dass wir uns das hier sagen. Gleichzeitig sage ich auch: Es dürfen keine sittenwidrigen Löhne gezahlt werden. Auch das ist geregelt, und darauf muss aufgepasst werden. Aber, meine Damen und Herren, ganz zum Schluss trägt die Bundesregierung ein großes Stück Verantwortung dafür, dass wir bei allem, was wir tun, mehr Arbeitsplätze haben und nicht weniger, und ich werde nichts zustimmen, was nach meiner festen Überzeugung zu weniger Arbeitsplätzen in Deutschland führt. Davon müssen und dürfen Sie ausgehen, meine Damen und Herren.

Es geht, wenn wir über den Arbeitsmarkt sprechen, auch um ein Mehr an Flexibilität - Sie alle wissen es - im Rahmen der Tarifautonomie. Schauen Sie sich doch die Tarifverträge an. Auch hier haben wir doch erfreulicherweise eine Entwicklung zu mehr Flexibilität und mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ich habe mir den letzten Tarifvertrag der IG Metall angeschaut, der in der Metallbranche verabschiedet wurde. Ich habe sogar deutlich gemacht, dass ich es richtig finde, dass wir Flexibilisierungsmöglichkeiten haben.

Meine Damen und Herren, liebe Delegierte! Wenn ich das einschieben darf: Sie alle haben Ihre Heimat in Ihren Betrieben, und Sie alle kennen die Realität in den Betrieben. Diese Realität heißt, dass es dem einen Betrieb mal besser und dem anderen Betrieb mal schlechter geht. Und Sie wissen inzwischen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu vielem bereit sind, wenn es dafür die Aussicht, die Chance und die Sicherheit gibt, Arbeitsplätze zu erhalten. Der Weg dahin war immer Flexibilität, und ich bin froh, dass er zunehmend bei den Tarifverträgen gegangen wird. Ich halte das für einen richtigen Schritt.

Meine Damen und Herren! Wir müssen auch dafür sorgen, dass die deutschen Regeln der Mitbestimmung auch im globalen und europäischen Kontext wirklich gelten können beziehungsweise dass man den globalen und europäischen Regelungen auch Rechnung trägt. Es gibt die Kommission, geleitet von Kurt Biedenkopf. Ich hoffe, dass dort Vorschläge dazu gemacht werden. Aber es ist wichtig, dass wir auch an dieser Stelle sagen: Im europäischen Binnenmarkt haben sich die Realitäten verändert. Wir müssen darauf reagieren. Wir müssen das, was sich bei uns bewährt hat, erhalten, aber wir müssen es so erhalten, dass es auch lebbar ist im Zusammenhang mit anderen europäischen Ländern, die ganz andere Regelungen haben.

Ich will als einen letzten Punkt die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Erfolg ihres Unternehmens nennen. Ich halte dies für die Zukunft für einen ganz wichtigen Punkt bei der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Denn, meine Damen und Herren, die Frage, ob Menschen, die im Betrieb arbeiten, auch eine Bindung an den Erfolg haben, ist in der Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft nicht ausreichend gelöst worden. Das ist ein offenes Problem.

Indem ich all die Punkte des Arbeitsmarktes jetzt genannt habe, komme ich noch einmal zur Generalität: Wir müssen die Soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln; das sehen Sie an all diesen Beispielen. Ich habe das einmal die "Neue Soziale Marktwirtschaft" genannt. - Ihr Vorsitzender ist davon nicht begeistert und Sie offensichtlich auch nicht. Aber, meine Damen und Herren, ich zeige es Ihnen am Beispiel des Arbeitsmarktes und gleich auch noch am Beispiel der sozialen Sicherungssysteme. Ich glaube, dass wir die Veränderungen schaffen müssen, um zum Schluss die Soziale Marktwirtschaft als neue und im Sinne der Globalisierung gestaltete Soziale Marktwirtschaft attraktiv nicht nur für uns zu machen, sondern für Länder überall auf der Welt. Davon wird der Erfolg dieses Konzepts nämlich auch abhängen, meine Damen und Herren.

Nach dem Arbeitsmarkt komme ich nun zu der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Die Menschen leben länger; das ist erfreulich. Wir wissen heute, dass im Jahre 2030 im Durchschnitt weniger als zwei Erwerbstätige einem Rentner gegenüberstehen werden. An diesem Faktum wird sich nichts mehr ändern lassen. Die Rentenlaufzeiten haben sich zwischen 1960 und heute um mehr als zwei Drittel erhöht, nämlich von 10 auf 17 Jahre. Das heißt, wir haben mehr Rentner - das ist erfreulich - , aber wir haben leider auch immer weniger Kinder, die einmal zu Beitragszahlern werden. Und wir hatten im Übrigen jetzt auch über Jahre eine Abnahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, was die Finanzlage der sozialen Sicherungssysteme im Rentensystem und im Gesundheitssystem noch einmal erschwert hat. Es geht ja nicht um die Erwerbsfähigen in einer Gesellschaft, sondern wenn wir die Situation der sozialen Sicherungssysteme betrachten, dann geht es um die Erwerbstätigen; denn nur die zahlen ein. Deshalb muss die ganze Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden - das sage ich ausdrücklich - , dass wir möglichst viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in unserem Lande schaffen. - Ja, das ist die Aufgabe, meine Damen und Herren.

Bei der Rente können wir uns vieles anschauen; das gilt nahezu für alle Parteien. Es kommt darauf an, die Weichen zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Ich sage frank und frei, auch für die Christlich Demokratische Union: Manche der Weichen haben wir zu spät gestellt. Deshalb stehe ich ausdrücklich zu dem Beschluss der Bundesregierung, dass wir ab dem Jahr 2012 schrittweise das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Nur der Vollständigkeit halber erwähne ich eine weitere Facette des Beschlusses. Wir haben gesagt: Diejenigen, die mit dem Erreichen des 65. Lebensjahres 45 Arbeitsjahre aufweisen können, werden von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit ausgenommen. Auch das halte ich für einen ganz fairen Gedanken.

Meine Damen und Herren! Die einen sagen, das finden sie sowieso falsch. Denen kann ich nur sagen: Die Regeln der Mathematik wird niemand außer Kraft setzen können. Das hat noch kein politisches System geschafft, und das schafft auch die Bundesrepublik Deutschland nicht. Und deshalb ist der Beschluss richtig. Andere sagen: Das könntet Ihr vielleicht tun, aber vorher müsst Ihr doch erst einmal sicherstellen, dass die Älteren auf dem Arbeitsmarkt auch eine Chance haben, damit das, was dann den Menschen zugemutet wird, auch wirklich lebbar wird und nicht einfach nur eine Rentenkürzung ist. Da bin ich bei Ihnen, und deshalb wird die Bundesregierung - ich komme wieder zurück auf den Kombilohn und vieles andere - alles daran setzen, Menschen über 50 eine bessere Chance auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Deshalb haben wir diese Beschlüsse auch auf das Jahr 2012 und nicht auf das Jahr 2007 gelegt, weil wir wissen, dass die Arbeitssituation der Älteren heute nicht zufriedenstellend ist. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie sich dem Beschluss insgesamt verweigern, werden Ihnen irgendwann die jungen Menschen in diesem Lande sagen, dass Sie die Weichen für die Zukunft nicht rechtzeitig gestellt haben. Dann werden sie sich der Solidarität zwischen Jung und Alt verweigern. Das möchte ich nicht, denn die Solidarität zwischen Jung und Alt hat etwas mit der Würde des Menschen zu tun. Darum müssen wir die Weichen richtig stellen.

Meine Damen und Herren! Wir haben in diesem Jahr bei dem Gesetz zur Gültigkeit des aktuellen Rentenwerts einen Beschluss gefasst. Ich bitte Sie auch, dass Sie das den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die jetzt schon Rente bekommen, im Kreis der Gewerkschaft sagen: Wir werden keine Rentenkürzung vornehmen. - Vor der Wahrheit können Sie sich auch nicht drücken, Sie schließen doch auch Tarifverträge ab; die haben auch etwas mit der Höhe der Löhne zu tun. Wenn die Tarifpartner nichts mit der Höhe der Löhne zu tun haben, weiß ich nicht, wovon wir jeweils reden. - Die Wahrheit ist: Wenn wir die gültige Rentenanpassungsformel gewählt hätten, hätte das dazu geführt, dass in diesem Jahr die Renten im Westen um knapp ein Prozent und im Osten um mehr als ein Prozent hätten gekürzt werden müssen. Aus Verantwortung vor der Lebensleistung der älteren Menschen haben wir deutlich gemacht, dass wir das nicht tun werden. Wir werden die Renten nicht kürzen und damit eine Ausnahme von der gültigen Rentenformel machen. Aber Sie alle, die Sie sich auskennen mit der Wirkungsweise des Rentensystems, wissen, was das bedeutet. Deshalb komme ich wieder darauf zurück: Unsere gesamte Politik muss sich daran orientieren, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse wieder wächst, weil wir ansonsten in nicht überbrückbare Schwierigkeiten kommen.

Meine Damen und Herren! Wir kommen zum zweiten sozialen Sicherungssystem, was mir auch ganz besonders am Herzen liegt. Das ist das Thema Gesundheitspolitik. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode ein Gesundheitsmodernisierungsgesetz beschlossen, und heute haben wir eine Situation, in der wir wissen, dass wir weitere Strukturreformen brauchen. Die Situation unseres Gesundheitssystems, das empfinden viele auch so, ist nicht transparent, es gibt zu wenig Wettbewerb, und viele Menschen erleben, dass wir Tendenzen haben zu einem Weg in eine Zwei-Klassen-Medizin. Darüber kann man jetzt reden, ob wir sie schon haben oder wie weit die Tendenzen fortgeschritten sind. Wenn Sie es aber mit Ihrem Motto ernst meinen - die Würde des Menschen ist unser Maßstab - , dann sind wir uns einig: Diesen Tendenzen muss begegnet werden. Wir wollen, dass jeder Mensch ein Anrecht auf vernünftige, richtige, gute Gesundheitsvorsorge hat, und zwar entlang dem, was Medizin heute leisten kann. Das wollen wir alle. Das muss durchgesetzt werden. Wir müssen darüber sprechen, wie wir das schaffen. Unser Ziel bei den Diskussionen um die Gesundheitsreform ist deshalb: Transparenz, Abbildung der Kosten, Senkung der Lohnzusatzkosten, zumindest keine Steigerung - die Bundesregierung hat sich richtigerweise verpflichtet, die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu bringen - , weiterhin die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, zwischen den Schwachen und den finanziell besser Gestellten. Die Verhandlungen laufen.

Ich möchte hier nur einen weiteren Gedanken erwähnen, der zur Wahrheit gehört: Bei einer Gesellschaft, in der die Menschen älter werden, und in einer Welt, in der die Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts wachsen, wird das gesamte System der Gesundheitsvorsorge, auch wenn wir es effizienter, wettbewerbsfreudiger und transparenter machen, nicht billiger werden, sondern es werden tendenziell Kosten dazukommen. Wir müssen jetzt überlegen, wie wir damit vernünftig umgehen. Wer behauptet, man könnte für weniger Geld mehr Gesundheitsvorsorge für jeden schaffen, egal welchen Alters und in welchem sozialen Status, der lügt sich in die Tasche. Und das möchte ich nicht. Wir werden mehr Geld für Gesundheit ausgeben müssen. Das wollen wir auch, weil es etwas mit der Würde der Menschen in unserem Lande zu tun hat, meine Damen und Herren.

Wir haben ähnliche Strukturreformen bei der Pflege zu leisten. Das, worum wir uns in der Politik zu kümmern haben ist, dass alles mit allem zusammenhängt: Die Reformen der sozialen Sicherungssysteme können und sollten einhergehen mit einer Senkung der Lohnzusatzkosten. Eine Senkung von Lohnzusatzkosten ist nach meiner festen Überzeugung förderlich für mehr Wachstum, aber vor allen Dingen für mehr Beschäftigung - und zwar Beschäftigung im sozialversicherungspflichtigen Bereich. Das muss unser Ziel sein. Es hat keinen Sinn, wenn wir zum Schluss nur noch Minijobs haben und Umgehungstatbestände um die Sozialversicherungsbereiche. Damit dürfen wir uns nicht abfinden, meine Damen und Herren.

Wir müssen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erreichen. Ich bin im Übrigen der Überzeugung, dass die Frage, ob Menschen sich für Kinder entscheiden, unglaublich viel zu tun hat mit der Frage, ob man einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft wagt. - Da sind wir uns doch wieder einig. Dafür müssen wir arbeiten. Deshalb sage ich ja, alles hängt mit allem zusammen. Es hat kaum Sinn, wenn sich der eine um die Sanierung der Haushalte kümmert und der andere um Mehrausgaben in einem anderen Sinn. Spätestens bei einer Bundesregierung laufen die Dinge zusammen. Wer heute Schulden macht, weil er noch schnell etwas erreichen will, der versündigt sich an der künftigen Generation und wird die Menschen auch nicht davon überzeugen können, dass künftige Generationen mindestens so gut leben können wie heutige.

Das sind alles die Punkte, die wir zusammenbringen müssen. Deshalb sage ich ganz eindeutig: Natürlich geht es um einen Ausbau der Kinderbetreuung. Wir haben auch mit dem Elterngeld einen ganz wichtigen Schritt gemacht. Natürlich wissen wir, dass mehr Kinder und Politik für mehr Arbeitsplätze zum Schluss auch wieder die sozialen Sicherungssysteme entlasten und uns die Chance geben, das an sozialem Ausgleich zu leisten, was die Menschen mit Recht erwarten.

Darüber möchte ich mit Ihnen in den nächsten Jahren weiter diskutieren. Es geht darum, die Kräfte, die in unserem Land stecken, zu bündeln. Wenn man im Ausland ist, weiß man, wie viele andere Länder auf das, was wir geschafft haben, ganz aufmerksam, zum Teil auch ein bisschen neidisch schauen. Das sage ich nicht, weil ich über die Probleme hinwegreden will. Ich will einfach nur sagen: Wir brauchen, und zwar genau im Sinne Ihres Mottos, eine nationale gemeinsame Kraftanstrengung. Eine Kraftanstrengung, die die Kräfte freisetzt, die etwas für das Wohl unseres Landes tun können. Das sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso wie die Entwickler und Ingenieure, die Selbstständigen, die Unternehmer. Und das alles in sozialer Verantwortung. Wenn wir es schaffen, die Balance zu finden, das zu bewahren, was sich bewährt hat, und das zu verändern, was wir zum Wohle der Menschen in unserem Lande verändern müssen, dann bin ich sicher, dass das Modell der Sozialen Marktwirtschaft in einer neuen Realität unsere Chance ist, nicht nur die Menschen in unserem Land zu überzeugen, sondern auch andere auf dieser Welt.

In diesem Sinne freue ich mich auf die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Herzlichen Dank, dass ich heute hier sein konnte.