Redner(in): Angela Merkel
Datum: 01.06.2006

Untertitel: 11. Internationale Berliner Begegnung "Verantwortung vor Gott und den Menschen: Gerechtigkeit und Recht in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft" am 1. Juni 2006 in Berlin
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/06/2006-06-01-rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-anlaesslich-der-11-internationalen-berliner-begegnung,layoutVariant=Druckansicht.html


Liebe Ilse Falk,

liebe Gäste und Teilnehmer des Gebetskreises, sehr gerne bin ich zu Ihnen gekommen - ich erinnere mich noch gut an das letzte Jahr - und habe auch den nicht einfachen Titel "Verantwortung vor Gott und den Menschen" angenommen. Sie haben sich als Motto gegeben: "Gerechtigkeit und Recht in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft." Das ist so umfassend, dass ich lieber nicht davon sprechen möchte, dass ich es abschließend behandele. Aber vielleicht kann ich einige Impressionen liefern. Verantwortung vor Gott und den Menschen - das ist das Leitwort. Es ist ein Teil unseres Grundgesetzes. Ich finde es sehr gut, dass Sie sich als Christen immer wieder in diesem Kreis zusammenfinden und miteinander parteiübergreifend über die Fragen nachdenken: Was sind uns unsere Werte und Grundauffassungen wert? Was ist das gemeinsame Fundament, auf dem wir oft auch sehr unterschiedliche Entscheidungen treffen? Was bedeutet uns, die wir Christen sind, der christliche Glaube in diesen täglichen, sehr realen Entscheidungen, die natürlich auch Kompromisse beinhalten und sehr häufig nicht dem generellen Anspruch gerecht werden? Die Frage "Wie weit kann ich in der täglichen Kompromisssuche gehen?" ist vielleicht eine der schwierigsten. Manchmal fängt man, in der Routine verhaftet, gar nicht mehr an, über jede Facette nachzudenken. Aber im Grundsatz müssen wir uns treu sein und gegenüber unserem Grundverständnis von Gott und der Welt rechtfertigen können, was wir entscheiden und was wir tun. Besonders spannend finde ich, dass Sie aus vielen Teilen der Welt zusammengekommen sind. Wir haben heute gerade die Entscheidung hinsichtlich der Fragen gefällt: Sollen wir der kongolesischen Regierung, wenn sie uns bittet, helfen, Wahlen durchführen zu können? Ist das wichtig? Können wir das schaffen? Das waren Fragen, die uns umgetrieben haben. Die deutschen Soldaten haben jedenfalls keine ausgeprägte Erfahrung mit dem afrikanischen Kontinent. Man hat uns gebeten. Aber weiß man, worauf man sich vor Ort einlässt? Werden wir der Sache gewachsen sein? Wir denken an vergangene Zeiten zurück, die wir nicht als rühmliche Kapitel unserer Geschichte in Erinnerung haben, und sind froh, dass wir heute nicht mehr über Kolonialismus sprechen müssen. Umso mehr fragen wir: Sind wir dort erwünscht? Es geht täglich um mehr oder minder wichtige Entscheidungen, und deshalb bin ich sehr froh, dass Sie alle hier zusammenkommen und auch miteinander sprechen können. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, in einer sich globalisierenden Welt die unterschiedlichen Beweggründe zu kennen, aus denen heraus wir handeln und auch die Welt sehen. Ich habe sowieso den Eindruck -als Bundeskanzlerin mache ich auch eine Menge Reisen oder empfange Politiker aus anderen Ländern- , dass wir als Europäer und als Deutsche sehr stark lernen müssen zu verstehen, wie Entscheidungen anderswo getroffen werden und wie das Bild von uns in anderen Teilen der Welt ist. Für uns ist vieles ganz selbstverständlich. Es ist trotzdem spannend zu sehen, wie andere über uns denken, im Übrigen auch in der Erfüllung der Werte, denen wir uns verpflichtet fühlen und die wir uns gegeben haben. Wir in der Christlich Demokratischen Union sagen: Unser Leitgedanke ist das christliche Menschenbild. Ich glaube, dass das dazu führt, dass wir dann auch sofort eine Brücke zu dem für mich universell geltenden Satz "Unabhängig davon, welcher Religion man angehört" schlagen. Das ist der Satz von der Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Würde jedes Menschen. Wir als Christen sagen: Der Mensch ist von Gott geschaffen. Das heißt, er ist ein gewolltes Geschöpf, und wir haben kein Recht, am Anfang und am Ende des Lebens in dieses Leben einzugreifen und es zu zerstören. Daraus erwächst ein bestimmtes Politikverständnis - eines, das sich selbst beschränkt. Diesem Verständnis sind also Grenzen gesetzt. Ich sage, dass das für mich etwas sehr Erleichterndes hat. Das bedeutet ja nicht, dass wir uns nicht mühen müssten. Das wäre ganz falsch, und als Protestantin kommt man auch gar nicht auf die Idee, dass man sich nicht mühen müsste - ich sage nicht, dass andere auf die Idee kommen könnten. Aber jedenfalls lernt man das von Kindheit an in der Christenlehre: Es ist ein Verständnis, das uns, die wir von Gott geschaffen wurden, Demut lehrt und das uns erleichtert, weil wir Fehler machen dürfen und weil wir die Möglichkeit haben, dass diese Fehler dann auch verziehen werden. Trotzdem ist es so, wenn man vor konkrete Entscheidungen gestellt wird, dass es sehr schwierig ist, diese entlang der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu treffen, wie sie wiederum für meine Partei und im Übrigen auch für die sozialdemokratische Partei gelten. Es ist sehr bemerkenswert, dass sich die beiden großen Volksparteien in Deutschland den gleichen Grundwerten verpflichtet fühlen, woraus sich auch der gemeinsame Bestand des Grundgesetzes, der gut erklärbar ist, ergibt. Aber wenn man heute junge CDU-Mitglieder fragt, können sie sich überhaupt nicht vorstellen, dass die SPD die gleichen Grundwerte hat. Ich vermute, dass sich auch junge Sozialdemokraten nicht vorstellen können, dass die CDU die gleichen Grundwerte hat. Wir müssen mit wachsendem Alter der Bundesrepublik Deutschland fast schon ein bisschen darauf achten, dass diese gemeinsamen Wurzeln, aus denen diese Republik nach der Katastrophe des ZweitenWeltkrieges entstanden ist, sozusagen auch immer wieder freigelegt werden - bei allen Unterschieden, die es ansonsten zwischen uns gibt. Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit -Sie setzen sich mit der Gerechtigkeit auseinander. Der Katholikentag in Saarbrücken hat sich auch gerade intensiv mit dem Thema "Gerechtigkeit vor Gott" befasst. Wir wissen, dass ohne Gerechtigkeit keine Gesellschaft lebensfähig und überlebensfähig ist. Aber was ist gerecht angesichts einer Zeit, die, wie ich finde, eine Vielzahl von Umbrüchen vorzuweisen hat? Was ist angesichts der demographischen Umbrüche in Deutschland und der Tatsache, dass wir eine alternde Gesellschaft sind, Generationengerechtigkeit? Viele Länder auf der Welt haben genau entgegengesetzte Probleme. Viele Länder haben sehr viele junge Menschen und weniger ältere Menschen. Was ist dort wiederum gerecht gegenüber diesen vielen jungen Menschen, die eine Lebensperspektive haben wollen? Wie gibt man sie ihnen? Bei uns lautet die Frage: Rauben wir den jungen Menschen ihre Lebensperspektive, indem wir heute über unsere Verhältnisse leben und uns nicht fragen, was für die Jungen übrig bleibt - egal, ob es um den Haushalt oder um natürliche Ressourcen geht? Es geht also um die Frage: Was ist Gerechtigkeit? Wir glauben, dass unsere drei Grundwerte, über die wir sprechen, also Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität, untrennbar miteinander verbunden sind und einander bedingen. Die Gerechtigkeit kann sich nicht über die anderen Grundwerte stellen, sondern sie reiht sich ein. Diese drei Grundwerte sind wie Geschwister. Deshalb glauben wir -auch angesichts des Menschenbildes, das wir vertreten- , dass die Freiheit sozusagen eine Notwendigkeit für das Erleben von Gerechtigkeit ist. Ich kenne viele Gesprächspartner aus anderen Teilen der Welt, die mir sagen: Mit eurer Freiheit und mit dieser Betonung des menschlichen Individuums seid ihr nicht so gerecht, wie wir uns das eigentlich vorstellen. Wenn man dann auf die Solidarität zu sprechen kommt, wird der Vorwurf oft noch stärker: Habt ihr bei aller Betonung der individuellen Würde des Menschen überhaupt noch genügend Kraft, euch darum zu kümmern, dass Solidarität auch ein Gemeinschaftsgefühl voraussetzt? Wenn wir in der CDU -das machen wir ja gerade- über unsere Grundwerte diskutieren, dann stelle ich fest, dass inzwischen ein Freiheitsverständnis um sich greift, das nichts mit dem Freiheitsverständnis zu tun hat, das die Gründer der CDU hatten. Unser Freiheitsverständnis heißt nicht, dass man von etwas frei ist und dieses und jenes nicht tun muss, sondern dass wir als Menschen frei zu etwas geschaffen worden sind und dass die Tatsache, dass die Würde jedes Menschen unteilbar ist, bedeutet, dass sich der eine Mensch dem anderen zuwenden muss, sich mit ihm im Kontext auseinander setzen und sich mit ihm befassen muss. Das heißt: Meine Freiheit findet immer dort ihre Grenzen, wo ich die Freiheit des anderen in Frage stelle. Insofern ist das ein Freiheitsbegriff, der heute in unserer Gesellschaft sehr häufig trivialisiert wird, der eigentlich sehr umfassend, sehr solidarisch und sehr auf Gerechtigkeit angelegt ist. Wir müssen miteinander darüber sprechen: Was bedeutet Gerechtigkeit in einer globalen Welt? Unser christliches Menschenbild haben wir über, wie ich finde, viele Jahre und auch politisch sehr erfolgreich leben können - in einer Gesellschaft, die sich der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlt, die es geschafft hat, durch die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft auch den rechtlichen Rahmen zu setzen und Widersprüche, die bitter waren - z. B. zwischen Kapital und Arbeit- so weit aufzulösen, dass der allergrößte Teil unserer Gesellschaft ein Leben in Wohlstand führen konnte. Jetzt leben wir in einer Welt, in der wir natürlich nicht nur ab und an Sonntagsreden über Entwicklungshilfe halten können, sondern in der wir erleben, dass auch andere Menschen eine Entwicklung zum Wohlstand für sich reklamieren, dass diese Menschen in China, Indien und anderen Ländern plötzlich unsere Wettbewerber werden und dass wir uns fragen müssen: Wie ernst ist es denn mit unserem christlichen Menschenbild? Endet das vielleicht spätestens an den Grenzen der Europäischen Union oder hatten wir irgendwie im Auge -ich sage: wir haben es und müssen es haben- , dass auch andere die gleichen Erfolge haben können? Diese Auseinandersetzung schafft große Unsicherheit in Europa und gerade auch in Deutschland. Ich weiß, dass andere Länder -gerade unsere Freunde aus Afrika, die hier sind- ganz andere Probleme haben und mich manchmal nur ungläubig anschauen und sagen: Euer Problem möchte ich gerne haben, dann wären wir eigentlich sehr zufrieden. Dann sage ich ihnen aber: Es ist immer schwer, in einer Gesellschaft politisch tätig zu sein, in der nicht sichergestellt ist, ob es im nächsten Jahr besser gehen wird als im vorigen Jahr. Es geht gar nicht um das Niveau. Aber z. B. in der Zeit nach dem ZweitenWeltkrieg, in den Anfängen dieser Republik war die Erfahrung der Menschen: Es wurde aus einer ganz schwierigen Situation heraus schrittweise materiell besser. Jetzt sind wir plötzlich in einer Situation, in der wir das als Politiker nicht mehr ohne weiteres versprechen können. Ich glaube, dass unsere Lebensqualität auf gar keinen Fall schlechter werden wird. Aber materiell können wir nicht versprechen, dass es mehr Rente geben wird oder mehr Straßen gebaut werden. Das verunsichert die Menschen, weil sie dieses Erlebnis noch nicht hatten. Politik lebt natürlich auch davon, dass man sich Gedanken darüber macht, wie man etwas verteilen kann, und das möchte man dann gerecht tun. Aber wie schafft man Gerechtigkeit im Mangel? Das ist jedenfalls der schwierigere politische Prozess. Deshalb sind viele bei uns verunsichert, und deshalb sind wir in einer ganz neuen Situation, wenn auch aus dem Blickwinkel vieler auf einem ziemlich hohen Niveau. Aber wir müssen kämpfen. In diesem Sinne stehen wir natürlich auch vor der Bewährungsprobe, wie die Werte für uns gelten werden, ob wir dann wieder sehr egoistisch werden und sagen "Schotten dicht" oder ob wir es aushalten zu sagen: Die Offenheit einer Gesellschaft ist die Bedingung für eine freiheitliche Gesellschaft, und auch, wenn es schwierig wird, dürfen wir von diesen Grundprinzipien nicht abweichen. Sie wissen: Wir haben endliche Ressourcen. Wir haben die Frage vieler Menschen "Wie wollt ihr das verteilen?" zu beantworten. Wir haben vor allen Dingen zu einem bestimmten Zeitpunkt auch immer politische Entscheidungen für die Zukunft zu fällen, für etwas, das noch nicht sichtbar ist. Wir alle haben erlebt, wenn wir politisch tätig sind, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr viel Kritik bekommen und sich erst nach ein paar Jahren das Bild öffnet und man sagt: Es war eigentlich doch richtig und gerecht, was gemacht wurde. Im ersten Moment kann man z. B. für die Einführung einer neuen Säule in der Rentenversicherung -wenn man sagt "Zusätzlich zu dem, was ihr in der gesetzlichen Rente gewöhnt seid, müsst ihr jetzt privat vorsorgen" - relativ wenig Lob erwarten. Wenn aber 20Jahre vorbei sind, wird es viele geben, die sagen werden: Glücklicherweise hat sich damals jemand dazu entschieden, das zu machen. Dieses Damit-Leben, dass man sich mit der Zukunft auseinander setzt und glaubt, ein Modell für die Zukunft zu finden, das gerecht ist, aber im Nachhinein natürlich niemals beweisen kann, dass, wenn man es anders gemacht hätte, es nicht noch gerechter oder weniger gerecht geworden wäre, gehört für mich zu den schwierigsten Dingen. Eine Entscheidung erfordert das Verlassen anderer Optionen, die dann nicht mehr real zur Verfügung stehen. Man kann Deutschland nicht teilen und den Norden nach dem einen Rentensystem und den Süden nach einem anderen leben lassen und nach zehn Jahren einmal schauen, wer besser damit klargekommen ist. Diese Vorstellung, ob man alles bedacht und sich alles überlegt hat, ist etwas, bei dem wir gefragt sind, mit aller Sorgfalt verantwortungsvoll zu entscheiden, weil wir in Deutschland ja für 80Millionen und in Europa für 450Millionen Menschen Entscheidungen treffen, und zwar für Dinge, die Menschen haben oder nicht haben, die gelingen oder nicht gelingen. Dann stellt sich in Bezug auf allgemeine Gerechtigkeit, Einzelfallgerechtigkeit und Rechtsetzung die Frage: Was ist die gerechteste Gesellschaft - die, in der ich versuche, möglichst viel zu regeln, oder die, in der ich versuche, möglichst wenig zu regeln? Wie viel Freiheit raube ich mir, wenn ich alles regele? Es ist in Deutschland eine immer währende Auseinandersetzung: Wo liegt, wenn ich noch einen Freiraum lasse, die Chance dafür, dass etwas gelingt, was ich gar nicht voraussehen konnte, und wo liegt das Risiko, dass in einer rechtlich nicht geregelten Sphäre etwas passiert, was ich eigentlich vermeiden müsste? Ich vermute manchmal, dass Deutschland sehr dazu tendiert, die Dinge sehr fest zu regeln. Das wird z. B. von der Wirtschaft in Deutschland oft sehr stark beschimpft. In Deutschland eine Anlage zu bauen und dafür eine Genehmigung zu erhalten, kann ein sehr mühevoller Prozess sein. Dann kann man den entsprechenden Antragstellern vielleicht sagen: Okay, steigen wir auf das amerikanische Rechtssystem um. Das kennt nicht diese vielen Verordnungen zum Bundes-Immissionsschutzgesetz mit jahrelangen Genehmigungsverfahren usw. usf. , sondern dabei gilt das Haftungsrecht. Damit kann man sehr viel einfacher bauen, aber wenn etwas passiert, dann gibt es einen Gerichtsprozess mit relativ unbestimmtem Ausgang. Wenn man deutsche Wirtschaftsführer fragt, ob sie das lieber hätten, erntet man sofort entgeisterte Blicke, weil nämlich in Deutschland letztendlich der Beamte -der verdient keine Millionen, sondern der ist in einer Besoldungsstufe, die vergleichsweise ziemlich weit unten steht- über Wohl und Wehe entscheiden muss. Wenn er bei der Genehmigung einen Fehler macht, dann ist er auch mit dem Risiko behaftet, nicht der Betreiber. Wie setze ich Recht, damit ich möglichst den Umständen gerecht werde und gleichzeitig Entwicklungen nicht verbaue? Gehe ich so weit, dass immer -es gibt in Deutschland diese Tendenz- , wenn ein einzelner Unfall passiert ist, gleich ein ganzes Rechtssystem geändert wird? Irgendwo fällt ein Ast auf einen Tisch im Biergarten und gleich schreit jeder nach der Biergartenverordnung. Schon darf kein Biergarten mehr in der Nähe eines Baumes stehen. Schon schreien alle beim nächsten Gewitter, dass es doch eigentlich schön gewesen wäre, ein paar Blätter über dem Kopf zu haben. -Wie viel müssen wir also regeln und wie viel nicht? Was ist dabei gerecht und was ist nicht gerecht? Wie weit müssen wir auf den unwahrscheinlichsten Einzelfall Bezug nehmen und wie weit nicht? Das sind Fragen, die dann auch mit der Balance von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit zu tun haben, mit der Möglichkeit, dass sich Menschen entfalten können. Wir dürfen ja als Rechtsstaat auch nicht die Entfaltung der Persönlichkeit völlig eindämmen, sonst rennen uns die Menschen, die besonders kreativ sind, alle weg, und das wäre auch dumm. Insofern ist das ein immer währender Abwägungsprozess. Ich habe leider keine Zeit, an Ihren Debatten teilzunehmen, aber ich kann mir das schon recht spannend vorstellen, wenn man einmal auch Fälle aus seinem politischen Leben erzählen und miteinander Fälle besprechen kann, bei denen einem Abwägungen sehr schwer gefallen sind, bei denen man sich gefragt hat, ob man den Dingen gerecht wird. Wir wissen aus unserem parlamentarischen Leben: Die spannendsten Debatten sind eigentlich die Debatten, bei denen wir den Fraktionszwang einmal aufheben und bei denen plötzlich jeder einzelne Abgeordnete auf sich zurückgeworfen wird und für sich argumentieren muss, warum er zu welchem Ergebnis kommt, z. B. bei der Stammzellenforschung und bei anderen Dingen. Andere Debatten sind schematischer, weil sie von Fachleuten geführt werden, aber ansonsten wäre das auch nicht zu schaffen. Ich glaube aber, für die innere Versicherung tut es einem Parlament gut, ein paar Mal in der Legislaturperiode auch solche freien Debatten über grundsätzliche Fragen zu führen, weil es uns darin übt, uns nicht auf andere und Fachleute zu verlassen, sondern ab und zu noch einmal von Anfang an die Dinge selbst zu bedenken. Ich wünsche Ihnen, dass Sie einander gerecht werden, zuhören, sich austauschen, Muße und ein bisschen Besinnung haben, daraus ein Politikverständnis entwickeln, das auch ein Stück Gemeinsamkeit an verschiedene Teile dieser Erde transportiert und wobei man dann auch weiß, wie schwierige Entscheidungen anderswo zu treffen sind, was die eigenen Sorgen manchmal auch ein Stück weit relativiert und uns gleichzeitig zeigt, wie wunderschön und vielfältig unsere Welt ist. -Herzlichen Dank! Ich wünsche Ihnen schöne Tage in Berlin!