Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 30.06.2006

Untertitel: In seiner Rede zur Verleihung des Taut-Preises 2006 würdigte der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, die Entwicklung der modernen Architektur und verwies auf die Herausforderungen für junge Architekten.
Anrede: meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/06/2006-06-30-verleihung-des-taut-preises-2006,layoutVariant=Druckansicht.html


Anrede

wie kaum eine andere Kunst steht die Baukunst unter dem nüchternen Diktat der Realität. So kühn die Visionen und Pläne der Architekten auch sein mögen, wenn es ans Bauen geht, setzen die Finanzen, die Statik, oder der Bebauungsplan den Rahmen. Aber genau darin liegen auch der Reiz, die Herausforderung für den Architekten: im Spannungsfeld der realen Vorgaben und Erfordernisse der eigenen künstlerischen Vorstellung so nahe wie möglich zu kommen.

Dabei geht es auch und vor allem um die sozialen Bedürfnisse des Menschen. Der englische Kunsthistoriker John Ruskin hat diese gesellschaftliche Einbettung treffend formuliert: "Die Architektur ist eine Kunst, mit der sich jedermann befassen sollte, weil jedermann mit ihr zu tun hat." Diesem gesamtgesellschaftlichen Anspruch sind zwei großartige Architekten ganz besonders nachgekommen, die Brüder Bruno und Max Taut. Ihre Architektur war von einer Vision geleitet, von Humanität und sozialem Verständnis, und diesen Vorstellungen sind sie mit ihren Bauten auf eine kulturhistorisch prägende Art und Weise auch nahegekommen. An sie erinnert der Preis, den wir heute zu verleihen haben. Dieses Haus, der BKM, hat diesen Preis inzwischen zum sechsten Mal ausgelobt und finanziert ihn in voller Höhe. Der Bundesarchitektenkammer danke ich herzlich für die Jurierung und ihre organisatorische Unterstützung, und ich freue mich, Sie hier im Bundeskanzleramt zur Preisverleihung begrüßen zu dürfen. Seit den Tagen der Brüder Taut hat sich vieles geändert. Sie, liebe Preisträger, müssen heute unter schwierigen Bedingungen den Berufseinstieg wagen. Die große Zahl der Studienabgänger im Fach Architektur stellt arbeitsmarktpolitisch ein großes Problem dar. Die Märkte schrumpfen und die Preise am Bau sinken. Viele Bauaufgaben werden nicht einmal mehr Architekten anvertraut. Und im Prinzip gilt: Die europäische Stadt ist gebaut.

Die Aufgabe der Zukunft wird eher sein, den Bestand zu ergänzen, zu verdichten und vor allem - und das ist eine historisch völlig neue Herausforderung - mit Schrumpfungsprozessen kreativ und gesellschaftlich verantwortlich umzugehen. Bruno und Max Taut, aber auch Walter Gropius und andere Architekten der Klassischen Moderne hatten eine vollkommen entgegengesetzte Aufgabe: Sie mussten eine große Zahl hochwertiger Bauten verwirklichen.

Die Bundesregierung und die Bundesarchitektenkammer möchten mit der Verleihung des Taut-Preises nicht nur die besten deutschen Nachwuchsarchitekten fördern, sondern auch die Baukultur in den Blick rücken. Eine Diskussion über Baukultur ist immer auch eine Diskussion über unsere Lebensumstände. Sie ist ein lebendiger Dialog über Bauwerke und Städte mit dem Ziel, die technische und gestalterische Qualität unserer Architektur zu verbessern.

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den öffentlichen Gebäuden zu. In Ihnen soll sich die herrschende Baukultur ausdrücken. Ein demokratischer und freiheitlicher Staat benötigt Bauten, mit denen sich die Bürger identifizieren können. Der Reichstag mit seiner für Besucher zugänglichen Kuppel ist ein gutes Beispiel, das mir täglich vor Augen steht. Auch den neuen Hauptbahnhof von Gerkan, Marg und Partner, den ich von meinem Büro im 8. Stock aus gut im Blick habe, möchte ich in diesem Zusammenhang nennen.

Heute gibt es viele konkurrierende Vorstellungen, wie Architektur aussehen soll. Mehr als jemals zuvor in der Architekturgeschichte stehen verschiedene Formen und Systeme nebeneinander.

Die Arbeiten der Preisträger, die uns gleich vorgestellt werden sollen, veranschaulichen das auf eindringliche Weise. Diese Vielfalt ist ein großer Glücksfall. Denn sie erst schafft die Möglichkeit, das Bestehende zu hinterfragen und nach Verbesserung zu streben. Eine Gesellschaft, die diese Möglichkeit nicht bietet, wird auch keine große Architektur hervorbringen. Doch wie stellen wir die Vielfalt der Formen und Ideen sicher?

Vor allem dadurch, dass wir akademischen Nachwuchs in der Erwartung fördern, dass er immer wieder seinen Horizont erweitert. Deshalb fördert das Taut-Stipendium den internationalen Erfahrungsaustausch.

Die finanzielle Unterstützung durch das Stipendium eröffnet die Chance, ein Jahr lang im Ausland in einem renommierten Architekturbüro mitzuarbeiten oder ein Postgraduierten-Studium zu absolvieren und dabei wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Nutzen Sie diese Chance.

Ich wünsche Ihnen für Ihre berufliche Zukunft alles Gute, viel Erfolg und jenes seltene, aber für Architekten so wichtige Talent, mit den Beinen fest auf dem Boden und gleichzeitig mit dem Kopf in frischen Lüften zu bleiben.