Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 21.07.2006

Untertitel: Kulturstaatsminister Bernd Neumann betont in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung inPaderborn die nachhaltige Bedeutung geschichtlicher Ereignisse für die heutige Zeit.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/07/2006-07-21-ausstellungseroeffung-canossa-1077,layoutVariant=Druckansicht.html


wo, wenn nicht an diesem Ort, dürfen Reden mit einem Bibelzitat beginnen: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und gebt Gott, was Gottes ist.", so steht es in Matthäus, Kapitel 22, Vers 21. Dieser Vers ist uns allen geläufig, und zwar so sehr, dass wir womöglich gar nicht mehr darüber nachdenken, was er eigentlich bedeutet. Hier im Evangelium ist eine der geistigen Grundlagen des heutigen Europas angelegt: die Trennung von Kirche und Staat, eines der Fundamente unserer modernen, freiheitlich-demokratischen Verfassung.

Eine historische Zäsur auf dem Weg dorthin war Canossa im Jahr 1077, als König Heinrich IV. seinen sprichtwörtlich gewordenen "Gang" antrat, um sich Papst Gregor VII. zu unterwerfen. Davon erzählt die Ausstellung, die wir heute eröffnen: "Canossa 1077 Erschütterung der Welt". Jene Erschütterung, der Konflikt zwischen Gregor und dem Salierkönig, war der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die Europa letztlich die jeweilige Autonomie von kirchlicher und weltlicher Macht brachte.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat, von Religion und Politik mit neuer Dringlichkeit stellen. Spätestens mit dem 11. September 2001 ist offenkundig geworden, welche Gefahren religiöser Fundamentalismus gerade für unsere Demokratien mit sich bringt. Wir haben mit Erschrecken festgestellt, wie wehrlos unsere freiheitlichen Gesellschaften sind, wenn Menschen im Namen ihres Gottes ihr eigenes Leben für den Terror zu opfern bereit sind. Spätestens mit der Aufklärung haben wir in den westlichen Ländern religiösen Fanatismus überwunden. Jetzt taucht er plötzlich im neuen Gewand in ungleich extremerer Form wieder auf.

Ganz unabhängig von dieser bedrohlichen geopolitischen Dimension stellen sich aber auch im Kleinen, in unseren Städten und Kommunen, die Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat wieder neu. Hier geht es glücklicherweise um weniger Lebensgefährliches: um Probleme des Zusammenlebens im Alltag. Ich erinnere an die Diskussion um die Frage, ob eine muslimische Lehrerin in einer deutschen Schule ein Kopftuch tragen darf. Oder ob in Schulklassen ein Kruzifix hängen sollte. Aber auch die Einführung des Ethikunterrichts an Berliner Schulen anstelle des klassischen Religionsunterricht, die ich für inakzeptabel halte, zeigt, dass wir zwischen Kirche und Staat auch bei uns immer wieder zu einem vernünftigen Ausgleich der Interessen finden sollten.

Es gibt für die gerade skizzierten Probleme keine einfachen Antworten. Aber ich glaube, wir haben in Deutschland für unser Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Grundgesetz einige sehr weitsichtige Regelungen vorgesehen. Sie folgen den Prinzipien der Neutralität, der Parität und der Toleranz des Staates gegenüber allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und ihren Mitgliedern. Der Staat erkennt die Religionsgemeinschaften als öffentliche Kräfte der freien Gesellschaft an, ohne eine Religion vorzuziehen oder zu benachteiligen. Die Religionsgemeinschaften ihrerseits erkennen die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Staates und die Eigenständigkeit der rein staatlichen Belange an und müssen bereit sein, ihre genuin eigenen Angelegenheiten im Rahmen der für jedermann geltenden Rechtsordung zu verwirklichen.

Das heißt, der Staat garantiert die Freiheit, aber er fordert dafür die Einhaltung seiner Gesetze und der in ihnen zum Ausdruck kommenden Werteordnung und zwar von allen. In Deutschland stellt uns im Zusammenhang mit der Integration der hier lebenden Migranten die Beschäftigung mit dem Islam vor neue Herausforderungen. Deshalb hat die Bundeskanzlerin mit dem Integrationsgipfel am vergangenen Freitag auch dieses Thema zur Chefsache gemacht, um in einem langfristig angelegten Dialog gerade auch mit dem Islam für unsere Werteordnung zu werben und zu überzeugen.

Vor dem Hintergrund dieser Debatten erscheint es fast unnötig, auf die Bedeutung der heute zur eröffnenden Ausstellung hinzuweisen. Ich tue es dennoch: Diese Ausstellung ist zum einen eine Mittelalterausstellung von europäischem Rang. 900 Jahre nach dem Tod Heinrichs IV. wird dem großen Konflikt zwischen König und Papst, der sich mit dem Namen Canossa verbindet, nun überraschenderweise erstmals - eine Ausstellung gewidmet. Sie erlaubt kulturhistorische Einblicke in die politisch-religiöse Prägung Europas vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Sie zeigt uns, wie recht der Historiker Horst Fuhrmann hatte, in seinem Buch "Überall ist Mittelalter" von "der Gegenwart einer vergangenen Zeit" zu sprechen.

Ohne die Ereignisse des Investiturstreits, ohne Canossa sähe Europa heute gewiss anders aus. Man kann an der Paderborner Ausstellung daher ablesen, wie wirkungsmächtig Ereignisse sein können, wie einzelne Vorgänge über Jahrhunderte hinweg Effekte entfalten. Sie macht uns klar, dass das heutige Europa nicht erst mit der Aufklärung entstanden ist. Unsere kulturellen Wurzeln reichen weiter zurück. Wir alle sind Erben des christlichen Abendlandes.

Darüber hinaus beweist dieses Paderborner Projekt einmal mehr, dass herausragende Kulturereignisse in Deutschland nicht auf die Bundeshauptstadt Berlin oder die Landeshauptstädte beschränkt sind. Das haben wir dem deutschen Kulturföderalismus zu verdanken, der in unserem Land für einen kulturellen Reichtum und eine Vielfalt gesorgt hat, um die andere Länder die Kulturnation Deutschland beneiden.

Wie schon die bedeutende Karolinger-Ausstellung des Jahres 1999 ist auch dieses Ereignis nur möglich geworden, weil sich die Stadt Paderborn, das Erzbistum und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe in einer eigenen Ausstellungsgesellschaft zusammengeschlossen haben. Nicht vergessen werden sollte aber auch, dass ein großer Teil der notwendigen finanziellen Mittel in Form von Spenden aufgebracht wurde.

Die Canossa-Ausstellung ist daher ein besonders gutes Beispiel dafür, welch großartige Projekte sich verwirklichen lassen, wenn staatliche und kirchliche Institutionen mit engagierten Bürgern ein Bündnis für Kultur schließen. Für diese Allianz sage ich allen Verantwortlichen Dank, insbesondere seiner Exzellenz, Herrn Erzbischof Becker, Herrn Bürgermeister Paus und Herrn Dr. Kirsch, dem Direktor des Landschaftsverbandes.

Ich wünsche uns allen spannende und überraschende Entdeckungen in der Ausstellung. Erleben Sie eine Epoche, die nur fern scheint, in Wirklichkeit aber ganz nah ist.