Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 14.04.2000
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/8107/multi.htm
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in Erster Lesung beraten, geben wir endlich eine Antwort auf eine seit mehr als 50 Jahren ungelöste Frage.
Wir kommen damit einer Verantwortung nach, die uns die deutsche Geschichte unmissverständlich aufgegeben hat.
Es geht um die, zunächst auch ganz praktische, Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel unserer jüngeren Vergangenheit.
Die Frage der Zwangsarbeiter steht nicht etwa am Rande jenes furchtbaren Geschehens, das unter dem Namen "Holocaust" weltweit zu einem Symbol für menschliche Barbarei geworden ist.
Nein, die Verschleppung und Misshandlung von Zwangsarbeitern stehen mit im Zentrum jener Verbrechen.
Bereits bevor die Nationalsozialisten den industriellen Massenmord an den europäischen Juden und den Angehörigen von Minderheiten grausam vollzogen, waren die Sklaven- und Zwangsarbeit schon Stützpfeiler der Wirtschaftspolitik im NS-Staat.
Denken wir daran, daß auch viele Vernichtungslager, für die der Name Auschwitz stellvertretend steht, zunächst als Lager für Zwangsarbeiter konzipiert waren. Lager, in denen Menschen durch Arbeit vernichtet werden sollten.
Wie es den Zwangsarbeitern in den Lagern und Fabriken erging, wissen wir aus den erschütternden Berichten derer, die die Qual überlebt haben: Hunger, Mißhandlungen, willkürliche Tötungen waren an der Tagesordnung.
Wir müssen festhalten: Ohne Zwangsarbeit wäre das verbrecherische NS-System nicht denkbar gewesen. Und schon deshalb ist es uns Deutschen eine historische Verpflichtung, endlich eine gerechte finanzielle Regelung umzusetzen.
Zumal es sich gerade bei den NS-Zwangsarbeitern in der großen Mehrzahl um Menschen aus Mittel- und Osteuropa handelt. Menschen, die aufgrund der Teilung Europas - anders als die NS-Opfer in der westlichen Welt - nie eine Möglichkeit hatten, Leistungen nach unseren Wiedergutmachungsgesetzen zu erhalten.
Wir alle wissen: Die finanziellen Hilfen können das begangene Unrecht, das zugefügte menschliche Leid niemals wiedergutmachen. Dennoch sind wir moralisch verpflichtet, den Opfern zu helfen. Das ist und war Konsens seit 1945. Und dieser Konsens hat auch heute noch Bestand, denn alle Fraktionen im Deutschen Bundestag tragen den Gesetzentwurf mit.
Meine Damen und Herren,
es geht aber nicht nur um das Finanzielle. Es geht vor allem um das Wachhalten der Erinnerung - mit dem Ziel, eine Wiederholung der Verbrechen der Vergangenheit auf alle Zeiten zu verhindern.
Der Name der Stiftung, die wir mit diesem Gesetzentwurf auf den Weg bringen wollen, ist bewusst gewählt: "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft".
Es ist dieser Dreiklang, der uns Leitmotiv sein muß beim Umgang mit unserer Geschichte.
Verantwortung nehmen wir wahr gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen, aber auch gegenüber künftigen Generationen.
Erinnerung, weil wir nie vergessen dürfen, dass Auschwitz und die Barbarei des Nationalsozialismus keine Naturkatastrophe waren. Sie waren das Werk gewöhnlicher Menschen, die Zug um Zug die verbrecherischen Pläne eines unmenschlichen Regimes umsetzten.
Wir können und dürfen uns nicht auf das verbale Bekenntnis beschränken, solche Barbarei nicht wieder geschehen zu lassen. Wir müssen etwas dafür tun.
Das Wort "Zukunft" schließlich steht im Stiftungsnamen. Nur mit einem klaren Bewusstsein von der Vergangenheit gibt es eine Zukunft, in der Menschlichkeit und Zivilcourage das Miteinander bestimmen.
Mit der Errichtung dieser Stiftung wollen wir also gerade keinen Schlußstrich unter die Geschichte ziehen.
Ganz im Gegenteil: Zu der überfälligen humanitären Geste der Gerechtigkeit an die Opfer gehört auch das Versprechen, ihr Schicksal nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Und dazu gehört ebenso die Verpflichtung, Haß, Rassismus und Intoleranz in unserer Gesellschaft nicht wieder aufkeimen zu lassen.
Meine Damen und Herren,
dass Holocaust und Zwangsarbeit mitten in der sogenannten zivilisierten Welt möglich waren, zeigt uns: eine aufgeklärte, freie und friedlich-tolerante Gesellschaft ist nie selbstverständlich. Wir müssen sie immer aufs neue erringen.
Und das ist zentrale Aufgabe der "Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft".
Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit der Stiftung sind geschaffen: Bund und Wirtschaft stellen einen abschließenden Betrag von je 5 Milliarden DM bereit - insgesamt also 10 Milliarden DM.
Und Ansprüche auf Leistungen können nur noch gegen die Stiftung geltend gemacht werden. Die US-Regierung wird in die laufenden US-Klagen mit einem Statement of Interest eingreifen und auch für die Beendigung der administrativen Maßnahmen Sorge tragen.
Diese Positionen sind im vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen bzw. werden im geplanten deutsch-amerikanischen Regierungsabkommen geregelt.
Ich möchte übrigens in diesem Kontext unterstreichen, dass Reparationsfragen für mich heute kein Thema mehr sein können.
Lassen Sie mich auch den an der Stiftungsinitiative beteiligten Unternehmen meinen Respekt zollen.
Es sind mittlerweile über 1000 Unternehmen. Zum Teil wurden sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und waren daher in die Geschehnisse in keiner Weise verstrickt.
Ich rufe alle übrigen deutschen Unternehmen auf, sich an diesen Beispielen zu orientieren und sich an der gemeinsamen Initiative der deutschen Wirtschaft zu beteiligen.
Meine Damen und Herren,
ich bin dankbar, dass der von der Bundesregierung am 22. März beschlossene Gesetzentwurf eine breite Mehrheit gefunden hat und zur Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens von allen Fraktionen gemeinsam auf den Weg gebracht wird.
Ich danke allen beteiligten Personen, Organisationen und Regierungen, die zur Lösung beigetragen haben.
Allen voran danke ich meinem Beauftragten Otto Graf Lambsdorff, der diese Aufgabe mit beispiellosem Einsatz, mit untadeliger moralischer Integrität und durch kluge und beharrliche Verhandlungsführung bewältigt hat.
Damit, verehrter Graf Lambsdorff, haben Sie sich bleibende Verdienste für unser Land erworben.